Ich stand vor dem Beamten und war fassungslos. „That’s the procedure Madam”, wiederholte er. Hinter ihm türmten sich Dossiers bis unter die Decke. Hier würde auch mein Antrag auf Verlängerung des Visums zum Staubfänger, derweil die Frist ablief. Das morgige Ablaufdatum stand schwarz auf weiss in meinem Pass, den mir der spitzbärtige Bürokratiehandlanger nun wieder zuschob. Zuerst packte mich Wut, dann kamen mir die Tränen. Nach einer zermürbenden Odyssee durch stickige Büros war ich am Ende meiner Kraft.
Korrespondentin in Südasien zu sein ist ein Traumberuf, keine Frage. Ich bereise wilde afghanische Berggebiete, versuche die Psyche von gescheiterten Selbstmordattentätern oder Gefangenen zu verstehen, entdecke ungeahnte Paradiese in Pakistan und kann denen eine Stimme geben, die sonst selten zu Wort kommen. Das ist der hörbare Teil der Arbeit. Der unhörbare Teil findet als Hürdenlauf durch die indische Bürokratie statt.
Seit ich vor zehn Tagen von Delhi nach Gurgaon gezogen bin, einer Art Agglomeration der Firmensitze, bloss 40 Metro-Minuten von Süd-Delhi entfernt, hat die Bürokratie mehr als die Hälfte meiner Zeit aufgefressen und ein Grossteil meiner Nerven. Denn Gurgaon liegt bereits in Haryana, einem anderen Gliedstaat als Neu Delhi. Das ist das Problem. Seit 2009 hatte ich Jahr für Jahr die Erneuerung meines Visums im Foreigners Regional Registration Office (FRRO) in Neu Delhi beantragen müssen. Und dieses, so sagte mir jetzt der Beamte in Gurgaon, müsse mir zuerst ein Umzugszertifikat ausstellen, damit das FRRO in Gurgaon sich um meine Visums-Verlängerung kümmern könne. Durch den Umzug hat das Prozedere der Visumserneuerung geradezu groteske Formen angenommen.
Normalerweise beginnt die Prozedur zwei Monate bevor das Visum abläuft. Um den Antrag beim FRRO stellen zu können, müssen Journalisten einen Brief vom Aussenministerium vorweisen, und um den zu bekommen, braucht es ein Empfehlungsschreiben des Chefredakteurs, ein Formular, Pass- und Visa-Kopie, Mietvertrag, Foto und Journalistenausweis der Regierung. So war das zumindest in den letzten Jahren. Im Frühling kam der Regierungswechsel, und seither ist die Liste der nötigen Dokumente gewachsen – just unter dem Mann, der alles einfacher zu machen versprach. Doch Premierminister Narendra Modis Interesse gilt dem Big Business. Journalisten aber sind lästig und ihre Kritik an der Bürokratie schreckt ausländische Investoren ab.
Pressefreiheit ist in der sogenannt grössten Demokratie der Welt längst zur Farce verkommen. Viele freischaffende Journalisten bekommen keine Visums-Verlängerung mehr oder können gar nicht erst einreisen. Doch nicht nur ihnen werden Steine in den Weg gelegt. Vor einiger Zeit wollte eine Kollegin, die hier seit Jahren für eine renommierte Zeitung tätig ist, ihr Visum erneuern. Als sie nach langer Wartezeit endlich ins Aussenministerium gebeten wurde, lag dort ein Stapel ihrer Artikel. Jemand hatte sich die Mühe genommen, alle zu übersetzen. Ihre Kritik an den Menschenrechtsverletzungen der indischen Soldaten in Kaschmir oder in den Naxaliten-Gebieten in Chhattisgarh passte der Regierung nicht. Die Journalistin erhielt nur noch ein Visum für sechs Monate. Es wurde ihr nahegelegt, eine Stelle ausserhalb des Landes zu suchen.
Was für ausländische Journalisten gilt, spüren die einheimischen schon lange. Kritik an der Politik der Regierung in Kaschmir wird nicht geduldet. Wer die Regeln nicht befolgt, darf nicht mehr mitspielen, und wer kritisch bleiben will, tritt oft aus freien Stücken ab. Für die indischen Journalisten sind auch die Besitzverhältnisse der Medienhäuser ein Problem. Die meisten Medienunternehmen sind ein Nebengeschäft von Firmenbesitzern, und diese leben oft in enger Symbiose mit den Politikern. Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen wurden mehrere Journalisten entlassen, die Narendra Modi und seine Entourage kritisiert hatten. Modi hatte ja den Firmenbesitzern mehr Liberalisierung des Marktes versprochen. Eine Hand wäscht die andere. Auf der Rangliste der Pressefreiheit fiel Indien deshalb bereits vor den Wahlen weiter zurück. Die Organisation Reporter ohne Grenzen bezeichnete Indien im Februar als eines der restriktivsten Länder in Sachen Pressefreiheit. Im Gliedstaat Gujarat, wo Premierminister Narendra Modi jahrelang geherrscht hatte, ist die Situation besonders schlimm.
Auch mein Brief vom Aussenministerium hatte diesmal noch länger als sonst auf sich warten lassen. Drei Tage bevor mein Visum ablief, fuhr ich ins Ministerium und ging nicht mehr weg. Am Abend hielt ich den Brief in den Händen. Anderntags ging ich damit und mit Kopien des Passes, des Visums, des Mietvertrags, des Journalistenausweises, der Stromrechnung, mit dem Bankauszug, der Aufenthaltsbewilligung und Passbildern zum FRRO in Gurgaon, von wo mich Spitzbart nach Delhi schickte.
In Delhi wartete ich eine Stunde in einem Raum mit Dutzenden von Afghanen, tätowierten Hippies und Geschäftsleuten, die im Schlepptau eines Agenten gekommen waren. Ein Agent kostet hundert bis zweihundert Franken, er übernimmt die bürokratische Arbeit und zahlt die nötigen Bestechungsgelder, so dass ausländische Firmen sagen können: wir sind sauber, wir zahlen keine Schmiergelder. „Ma’m, Ihr Antrag ist für Gurgaon, nicht für Delhi. Sie müssen zuerst im Internet ein Formular ausfüllen und all ihre Dokumente hochladen, dann kriegen sie vielleicht für übermorgen einen Termin bei uns“, sagte ein Beamter, als ich endlich an der Reihe war. Wieder hätte ich weinen können vor Verzweiflung. Übermorgen wäre mein Visum bereits abgelaufen und dann würde ich zusätzliche Dokumente brauchen, um die Verspätung zu erklären. Ich suchte ein Cyber Café. Es war bereits voller Leute, die in einer ähnlichen Situation steckten. Die Regierungswebsite war eine Stunde lang nicht ladbar. Ein Sikh aus Kanada wollte wissen, ob die Schweizer Bürokratie mit der indischen Schritt halten könne. Ich wusste es nicht.
Als ich mit einem neuen Online-Antrag und allen Dokumenten ins Büro zurückkam, lächelte der Beamte. Zehn Minuten versprach er, dann sei alles erledigt. Nach einer halben Stunde lagen die Papiere mit einer Klammer zusammengeheftet vor ihm auf dem Tisch. Eine Unterschrift fehle noch, aber jetzt sei Mittagspause, das müsse ich doch verstehen.
Kurz vor Büroschluss stand ich wieder vor dem spitzbärtigen Beamten in Gurgaon. Das Umzugs-Zertifikat aus Neu Delhi war eine simple Unterschrift und ein roter Stempel. Es hatte mich fünf Stunden gekostet, aber immerhin würde ich noch heute mein Visum bekommen. Dachte ich. Der Beamte reichte mir stattdessen ein Papier mit der Aufschrift: „Polizeiliche Überprüfung der Adresse des Bittstellers.“ Die fehle noch und ohne die könne er mir wirklich kein Visum geben. Aber keine Sorge, die Polizeistation sei ganz in der Nähe.
Die Polizeistation wirkte leer. Ich ging von Zimmer zu Zimmer und fand die Polizisten in einem abgedunkelten Raum. Sie schliefen alle. Einer setzte sich auf, strich sich die Uniform glatt und las das Schreiben des FRRO. Er müsse meine Wohnung sehen, sagte er, und ich brauche zwei Zeugen.
„Wieviel kostet die Wohnung? Sind Sie verheiratet, wohnen Sie alleine?“, fragte der Polizist mit lüsternen Augen, als wir im Wohnzimmer sassen. Dann studierte er lange die zwei Unterschriften der Hausverwalter, die mein Fahrer geholt hatte, und schüttelte schliesslich den Kopf: „Das reicht nicht. Ich brauche noch die Namen der Väter Ihrer Zeugen, sonst ist das nicht gültig.“ Dann fügte er an: „Sie können mir aber auch heute danke sagen, dann erledige ich alles sofort.“ Ich verstand. Entweder ich bezahlte jetzt oder meine Überprüfung würde tagelang zuunterst in einem Papierstapel liegen bleiben. Ohne Überprüfung kein Visum, und dieses musste ich nun unbedingt haben. Der Fahrer steckte dem Polizisten 500 Rupien (acht Franken) zu. „Nicht nötig“, sagte dieser zu mir und wandte sich an den Fahrer: „Das war eine sehr komplizierte Überprüfung, eine für eine Ausländerin.“ 1000 Rupien taten schliesslich den Dienst. Morgen könne ich mein Visum abholen, sagte der Polizist und ging. Aber morgen ist ein nationaler Feiertag und morgen läuft mein Visum ab. Übermorgen bin ich illegal. Nicht auszudenken, was den Beamten dazu wieder einfallen wird.