In Patharra beginnt der Tag um fünf Uhr früh. Eine Stunde vor dem ersten Stromausfall, drei Stunden, bevor die Sonne das Bauerndorf in einen Brutofen verwandelt. Die Frauen melken die Kühe und bereiten den Männern süssen Milchtee zu. Sie holen Wasser vom Brunnen und essen ihr Frühstück nach den Männern. So war das schon immer hier. Auch in der Familie Khan, der einzigen muslimischen Familie im Dorf..
Vierzig oder sechzig Mitglieder gehören zur Familie – niemand weiss es so ganz genau. Sie sind entfernte Verwandte meines Übersetzers. Wir sind aus Delhi angereist, sechs Stunden im Zug und eine Stunde im Auto, um drei Tage bei den Khans zu verbringen. Kleines Dorfleben im grössten indischen Gliedstaat, Uttar Pradesh. Die Städter habe uns vor den Moskitos und den Stromausfällen gewarnt – und den fehlenden Toiletten. Die Khans haben seit neustem ein Plumsklo, im noch neuen, unverputzten Teil des Hauses. Das Wasser pumpen die Schwiegertöchter und Knaben mit der gierenden Handpumpe in Eimer. Dann tragen sie es ins Klo und ins Badezimmer, das so klein ist, dass man sich knapp bücken kann, um den Eimer hochzuheben und das Wasser über die schamponierten Haare zu giessen..
Ashraf Khan ist das Familienoberhaupt. Der braungebrannte, weisshaarige sechzig-Jährige mit den kräftigen Oberarmen steht neben seinem Traktor, bereit für die Feldarbeit. Für ihn bedeutet das Dorf alles: Arbeit, frische Luft, familiären Zusammenhalt. Nie könnte er in der Stadt leben, sagt Ashraf Khan: „Das Dorfleben ist simpel, die Stadt ist kompliziert. Wie sollte ich mich dort zurecht finden?“ Doch das Land der Khans reicht nicht aus, um die Grossfamilie zu ernähren. Einige von ihnen mussten doch in die Stadt, um Arbeit zu finden – und das, obwohl die Kongress-Regierung im fernen Delhi unzählige Unterstützungs- und Arbeitsprogramme für die ländlichen Gebiete geschaffen hatte. Programme, die klingende Namen tragen wie: Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act, ein Job-Programm, das der armen Landbevölkerung Hundert Tage garantierte Arbeit zu 1.80 Franken pro Tag garantierten sollte. In Patharra bauten die Bewohner so eine Strasse ins nächste Dorf. Aber drei Jahre später ist davon nur ein einziges Morastloch übriggeblieben. Niemand hat die Strasse unterhalten und niemand der daran gebaut hatte, habe die versprochenen 1.80 Franken bekommen, klagt Ashraf Khan..
So klingt es auch am anderen Ende des Dorfes. Ein paar alte Männer mit zahnlosen Mündern sitzen auf einem Vorplatz, die Gehstöcke über die gekreuzten Beinen gelegt. „Vor kurzem zerstörte ein Hagelsturm die Ernte. Die Regierung versprach uns eine Entschädigung. Aber wenn wir die Beamten nicht bestechen, kriegen wir nichts“, wettern sie. Ein 90-Jähriger erinnert sich beinahe wehmütig an die britische Kolonialherrschaft. „Damals waren wir vereint gegen die Briten. Mit der Unabhängigkeit kamen die Parteien. Zuerst die Kongresspartei, dann all die Regionalparteien. Doch die hetzen uns gegeneinander auf und stören die Harmonie im Dorf.“.
Die alten Männer gehören zur obersten Kaste der Brahmanen. Das hierarchische Kastensystem wurde zwar abgeschafft. Doch in Patharra lebt es weiter. Die Brahmanen des Dorfes stimmten bei den Parlamentswahlen, die sich bis am 12. Mai über fünf Wochen dahinzogen, für die hindu-nationalistische BJP und ihren Spitzenkandidaten Narendra Modi. Weil die BJP auf Traditionen setzt, auf ein Kasten-System, von dem vor allem die obersten Kasten profitieren. Die BJP gewann die Wahlen mit grosser Mehrheit und löste damit die alteingesessene Kongress-Partei ab, die das Land zehn Jahr lang regiert hatte. Jetzt verspricht sie Wandel und Entwicklung. Die Frage ist: Für wen?.
Mit den anderen Dorfbewohnern, die niedrigeren Kasten angehören, wollen die alten Männer noch immer nichts zu tun haben. „Wir trinken kein Wasser von denen und wir essen auch nicht mit ihnen. Hier im Dorf müssen wir unsere Religion und Traditionen noch hüten.“.
Am anderen Dorfende spielen ein paar Männer der untersten Kasten Karten. Sie besitzen kein Land und wenig Geld. Deshalb schicken sie ihre Kinder in die Regierungsschule im Dorf und nicht in eine der vielen Privatschulen, die überall mit grellen Postern um Schüler werben. In der Regierungsschule gibt es eine Gratismahlzeit am Tag, aber der Lehrer kommt immer zu spät und oft kommt er gar nicht erst zum Unterricht. „Wer arm ist, bleibt arm“, sagt einer und kratzt sich lange am Kopf. Welche Partei und welcher Politiker könnte diesen Teufelskreis durchbrechen? Lange schweigen die Männer. Dann ergreift ein Zuhörer das Wort – und wird sofort zum Schweigen gebracht. „Dummkopf, Säufer! Schweig! Hier spricht niemand über Politik!“ Hier weiss man, dass ein Wort tödlich sein kann – vor allem, wenn man der untersten Kaste angehört..
Er habe genug von diesen jahrhundertealten Zwängen, sagt der 26-jährige Chandershekar. Auch er gehört der untersten Kaste an. Seit acht Jahren schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten in der Stadt durch. Nur für die Ernte kommt er ins Dorf zurück. Da steht er, neben einer Büffelkuh, die Brust gewölbt. „In der Stadt spielen die Kasten keine Rolle mehr. Das Einzige, was dort zählt, ist, dass du einen Job hast und Geld verdienst. Ich habe Freunde von jeder Kaste und jeder Religion. Nur wenn ich ins Dorf zurück komme, bleiben wir getrennt.“.
Mittagszeit. Über vierzig Grad. Noch klappert ein Ventilator, aber Punkt eins beginnt der Stromausfall und das lange Schwitzen. Im Haus der Familie Khan haben sich die Jungen im Schlafzimmer versammelt. Hier hatten vier der Frauen und ich die Nacht verbracht: zu zweit auf zwei Betten und eine am Boden. Im Lichte einer Öllampe und ohne Männer hatte sie sofort ihre Scheu verloren. Fragten nach Hochzeitsritualen, im Land, aus dem ich komme und wollten Fotos sehen. Jetzt schweigen die Frauen wieder, während die Männer plaudernd die Öde bekämpfen. Sie träumen von der Stadt. „In der Stadt gibt es Strom, Kliniken, gute Schulen und Arbeit. Und es gibt neue Technologien: Computer und Internet“, schwärmt Saddam. Er hat in der Stadt einen Master in Computer-Wissenschaften erworben und sucht jetzt Arbeit..
In Patharra gibt es nur wenige Stunden Strom, und kein Internet. Die Familie Khan besitzt zwar einen einzigen Laptop. Die 20-jährige Nikatbano hat ihn von der Regionalregierung bekommen, aber arbeiten tut sie nicht damit. Stolz spielt Nikatbano Bollywood-Songst ab, bis die Batterie leer ist. Später werden wir die Fotos, die ich gemacht habe, auf den Laptop laden und das wird zu weiteren, endlosen Fotoshootings führen: Die jungen Männer auf dem Traktor; die Frauen neben dem Kalb; die Grossfamilie im Innenhof…..
Eineinhalb Millionen Laptops hat die Regionalregierung an Schülerinnen und Schüler verteilt. Das erste, was auf dem Bildschirm erscheint, ist das Portrait des Chefministers Akhilesh Yadav. Die Bestechung der Regionalregierung hat zumindest bei Nikatbano funktioniert. Sie hat bei den Parlamentswahlen Yadavs Partei gewählt, weil er ihr den Laptop geschenkt hatte und obwohl doch eigentlich Familienoberhaupt Ashraf Khan für den ganzen Clan bestimmen wollte, wer zu wählen war. Doch Nikatbano hat selbst entschieden..
Kleine Revolutionen, die sich im Dorf ereignen. Einem Dorf, indem noch immer die Eltern die Hochzeiten für die Kinder arrangieren. Denn sie wüssten besser, wer zu ihm passe, sagt der 22-jährige Saddam. Was aber, wenn er in der Stadt ein Mädchen kennen lernt und sich verliebt? Saddam schweigt verlegen, kichert einen Moment. Sein Onkel Ashraf Khan sitzt gleich hinter ihm..
Erst am Abend, als die Frauen unter sich sind und die Männer ausser Hörweite, sprechen sie über jene, die mit den Konventionen brachen. Über ein Nachbarsmädchen, das sich verliebt hatte und ihren Geliebten nicht heiraten durfte. Und sich umbrachte. „Ein anderes Mädchen brannte zwei Wochen vor der Hochzeit mitsamt dem Brautgold und allen Kleidern durch. Sie wird nie mehr ins Dorf zurück kehren können. Die Hochzeit fand trotzdem statt. Die Familie gab dem Bräutigam halt die jüngere Schwester. Um die Tradition und die Familienehre zu retten“, sagen die Alten. Die Jungen schweigen..
Veröffentlicht in „Neue Wege“