Rakhi Jadhav, die lokale Vertreterin der Kongresspartei, schlägt eine Kokosnuss auf den Boden, bis sie bricht. Eine glücksverheissende Geste, die die Götter milde stimmen soll. Die neue Strasse im Ambedkar Nagar Slum im Süden von Mumbai wäre damit eingeweiht. Jetzt beginnt Jadhav mit dem Wahlkampf, für den sie doch eigentlich gekommen war. Die behäbige Frau war bis 2012 Kommunalabgeordnete im Ambedkar Nagar Slum, einem der grössten Slums in Mumbai. Jetzt wirbt sie mit den vielverheissenden Versprechen der Kongresspartei. „Vor wenigen Tagen haben wir gesagt, dass alle Bewohner, die bis im Jahr 2000 in einen Slum gezogen sind, legalisiert werden. Ihr habt jetzt Anrecht auf eine neue Wohnung und müsst nicht mehr hier im Slum wohnen, wo das Trinkwasser schlecht und die Häuser undicht sind“, ruft sie in die Runde.
„Nichts Neues“, seufzt die Slumbewohnerin Afrin, die auf der Treppe vor ihrer Hütte sitzt. Sie teilt zwei kleine Zimmer mit fünf anderen Familienmitgliedern. „Jetzt kommen die Politiker, einer nach dem anderen, von jeder Partei. Mit gefalteten Händen versprechen sie sauberes Trinkwasser, 24-Stunden Strom, ein neues Haus. Und jeder einzelne von ihnen offeriert uns Geld, falls wir für sie stimmen. Das Geld verteilen sie am Vorabend der Wahl. Dann platzieren sie ihre Schläger, die uns einbläuen: Wenn ihr nicht für uns stimmt, dann gibt’s eine Tracht Prügel.“.
Alle Parteien würden Geld verteilen, nur seine nicht, sagt Suresh Aawle, der Vertreter einer hindu-nationalistischen Lokalpartei und derzeit Kommunalabgeordneter des Slums. Wir finden ihn in seinem winzigen, orange gestrichenen Büro auf einem Stuhl, der noch immer mit Plastic eigepackt ist. „Ich habe meine Versprechen gehalten und den Slumbewohnern Wasserleitungen legen lassen.“.
Keinesfalls ein Akt des guten Willens, kontert Afrin, die seit einem Jahr fliessend Wasser in der Hütte hat. Sondern: „Weil wir dafür gezahlt haben! 50 000 Rupien habe ich für eine Wasserleitung gezahlt, acht Monatslöhne meines Mannes. Die Leitung teile ich mit meinen Nachbarn und bekomme jetzt ein paar Stunden Wasser pro Tag.“.
Im Slum von Ambedkar Nagar liegen die Frisch- und Abwasserleitungen wie ein dichtes Spinnennetz entlang der Strassen. Die Leitungen sind an vielen Orten beschädigt, so dass sich schmutziges Wasser mit dem Trinkwasser vermischt. Typhus, Malaria, Denguefieber und andere Krankheiten gehören zum Lebenslauf jedes Slumbewohners. In den Hütten wohnen mehrköpfige Familien. Die Toiletten teilen sie sich mit Dutzenden von anderen Bewohnern. Sie liegen direkt neben einer der grössten Müllhalden der Stadt.
Das soll sich mit dem Wahlversprechen der Kongresspartei ändern. Slumbewohner, die vor dem Jahr 2000 in einen Slum von Mumbai gezogen waren, sollen in Zukunft eine eigene Wohnung bekommen. Bislang galt dasselbe Versprechen nur für Slumbewohner, die bis 1995 in einen Slum gezogen waren.
Die Slumbewohnerin Afrin bleibt misstrauisch. Ihr wurde bereits einmal im Rahmen des Slum-Umsiedlungsprojekts eine neue Wohnung versprochen. Das war vor zehn Jahren. „Die Regierung gibt das Land an eine Baufirma und die sollte uns eine neue Wohnung geben. Sie baten uns vorübergehend in eine Hütte in der Nachbarschaft zu ziehen. Hier wohne ich noch immer.
Die Firma baute zwar mehrere Wohnblocks, verkaufte sie jedoch an Polizeibeamten. Ein Wohnhaus errichtete sie allerdings auch für die Slumbewohner – doch das blieb unvollendet. Die mehrstöckige Ruine liegt in Afrins Nachbarschaft. Pro Familie ein Raum. Die Räume sind fensterlos und unverputzt. Überall liegt Abfall. Eine Zumutung, finden ein paar Frauen, die sich um den Hindu-Tempel hinter der Ruine versammelt haben. „Schau dir dieses Gebäude an, das sie für uns hingestellt haben: ohne Strom, ohne Wasser, ohne Toiletten, nicht einmal ein Abwassersystem hat es! Wie sollen wir hier leben? So wollen wir keine neue Wohnung. Sollen sie zum Teufel gehen!“.
Das Regierungskonzept zur Slumumsiedlung begann in den 90er Jahren: Die Regierung vergibt das Slum-Land an Baufirmen mit dem Auftrag, eine bestimmte Anzahl gratis Wohnungen für die Slumbewohner zu bauen. Als Belohnung dürfen sie auf dem übrigen leer geräumten Slum-Gebiet teure Privatwohnungen erstellen und verkaufen. Ein lukratives Geschäft in einer Stadt, wo eine kleine zwei Zimmerwohnung mindestens eine halbe Million Schweizer Franken kostet.
Bauunternehmer Champalal Vardhan lebt im Überfluss. An seiner Hand funkelt ein riesiger Diamantring, er verbringt seine Ferien in der Schweiz, in London und den USA und an der Hochzeit seines Sohnes verschenkte er einen Mercedes, einen BMW und einen Audi an die Tombolagewinner. Er soll für die 40 000 Bewohner von Ambedkar Nagar Wohnungen bauen. In den letzten sieben Jahren konnte er jedoch lediglich 1000 Hütten zerstören. Ihre Bewohner sind jetzt in seine provisorischen Ungetüme, riesige Bauklötze am Rande des Slums, umgezogen. Es sei schwierig, die Leute davon zu überzeugen, ihre Hütten zu verlassen, sagt Vardhan: „In der Vergangenheit wurde so viel Schindluder mit den Slumprojekten betrieben. Die Baufirmen bauten die Wohnblocks, aber verkauften sie dann. Ich werden den Slumbewohnern zeigen, dass meine Wohnungen viel besser sein werden, einen Lift, Strom und fliessend Wasser haben.“.
Alle Slumbewohner, also die Hälfte der 20-Millionen-Stadt, soll in Zukunft in solchen Rehabilitations-Wohnungen leben. So will es die Regierung. Denn der Platz auf der Stadtinsel, die von drei Seiten von Wasser umgeben ist, ist knapp und soll nicht weitflächig mit Hütten besetzt bleiben.
Vardhan verspricht aus Ambedkar Nagar ein Paradies zu machen will. „In der Siedlung werde ich 4000 schöne Wohnungen, ein Schwimmbad, ein Spital, Klubhäuser und Fitnesscenter bauen. Diese Wohnhäuser werden durch eine Strasse getrennt sein von den Hochhäusern, die ich für die Slumbewohner bauen werde. So ist das überall in Mumbai: Arm lebt neben Reich. Schliesslich brauchen die Reichen die Armen als Arbeitskräfte.“.
Die Slum-Umsiedlungsprojekte der Regierung seien ein grosses Desaster, kritisiert der Architekt PK Das. Er wurde von der Regierung beauftragt, den Wohnungsbau für die Bewohner von Dharavi, dem grössten Slum der Stadt, zu überprüfen. „Die Regierung hat die Slums auf den freien Markt geworfen. Jeder versucht seither mit dem Land Geld zu verdienen. Politiker, Polizei und Bauherren verbrüdern sich in diesem Geschäft in mafiösen Strukturen. Die Qualität der neuen Wohnungen ist meist so schlecht und die Unterhaltskosten sind so gross, dass die Slumbewohner wieder ausziehen. Das Umsiedlungsprojekt hat also nicht zu weniger, sondern zu mehr Slums am Stadtrand geführt.“.
Inzwischen sträuben sich die Bewohner von Ambedkar Nagar aus ihren Hütten auszuziehen. Doch viele werden keine Wahl haben.
In einer Hütte hockt eine Slumbewohnerin am Boden, umringt von ein paar Frauen, von Weinkrämpfen geschüttelt. Vor ein paar Tagen wurde sie von den Schlägern einer lokalen Baufirma aus ihrer Hütte geworfen. „Ich habe solche Angst. Ich habe niemanden, der mich beschützt, keinen Mann, nur ein kleines Kind. Ich ging zur Polizei, aber die sagten: Das ist ein Landstreit, geh zum Gericht. Jetzt bin ich bei meiner Nachbarin eingezogen.“.
Bei Bodenpreisen, die zu den höchster der Welt gehören, zählt bei der Stadtentwicklung von Mumbai vor allem ein Recht: Das Faustrecht.