24. April 2013. Der Tag als die Textilfabrik Rana Plaza einstürzt. Rosina Begum und ihre jüngere Schwester wollen eigentlich nicht arbeiten. Sie sind Näherinnen in der acht stöckigen Textil-Fabrik ausserhalb von Dhaka. „Als wir an unserem Arbeitsplatz ankamen, sahen wir riesige Risse, die sich über die Decke und den Boden zogen. Aus den Stützpfeilern stakten bereits die Eisenstangen. Ich sagte zu meiner Schwester: Hol deine Schuhe, wir gehen. Das Gebäude kann jeden Moment zusammen stürzen.“ Erinnerungen. Rosinas Erinnerungen an den schlimmsten Unfall in der Geschichte der Textil-Industrie. Die 25-Jährige sitzt auf einem harten Bett, in einem Zimmer, das sie mit ihrem Mann, ihrer Tochter und anderen Familienmitgliedern teilt. Um den Oberkörper ein Tuch gewickelt, den Blick gesenkt. Konzentriert lockt sie die Erinnerungen hervor. Erneut steht sie im zweiten Stock von Rana Plaza. Sie will gehen, aber ihr Vorgesetzter hält sie am Arm fest: „Wieso willst du gehen?, fragte er mich. Viele Leute arbeiten. Falls sie sterben sollten, sollst du mit ihnen sterben. Ich antwortete: Streichen Sie mir meinen Lohn, aber ich werde heute nicht arbeiten. In dem Moment ging der Strom aus. Der Generator sprang an. Dann krachte das Gebäude zusammen. Ich fiel in Ohnmacht.
Als Rosina zu sich kam, lag eine Textilmaschine, ein Stützpfeiler und eine Lichtschranke auf ihrem linken Arm. Zu ihren Füssen gab es eine Lücke, aber Rosina steckte fest, genauso wie drei ihrer Kollegen. Sehen konnte sie sie nicht, aber hören. „Sie lagen über mir. Sie waren eingeklemmt wie ich. Ihr Blut tropfte auf mich, so dass ich ständig nass war. Wir ermutigten uns zu schreien. Vielleicht würde uns jemand hören – und retten.
So vergeht der erste Tag. Rosina hofft, dass ihre Schwester rechtzeitig aus dem Gebäude geflohen war. Sie würde sie suchen. Hunderte strömen zur eingestürzten Fabrik. Später erzählen sie vom Irrsinn des Moments, von Menschen mit angsterfüllten Augen, die in den Trümmern mit blossen Händen nach ihren Angehörigen wühlen. Wer wusste schon, wieviele der 5000 Arbeiter an jenem Morgen im Gebäude waren? Einem Gebäude, das eigentlich nie hätte für Industriezwecke gebraucht werden dürfen. Zu instabil war der Bau, zu schwer die Textilmaschinen.
Die Regierung schickt Helfer und die Armee. Tag zwei bricht an. Tausende haben sich inzwischen vor dem Gebäude versammelt. Mit Tränengas versucht die Armee Ruhe und Ordnung zu schaffen. Niemand sieht Rosinas Füsse, die sich in einer kleinen Lucke bewegen. „Uns fehlte der Sauerstoff. Das Gas, das sie draussen versprühten, drang zu uns vor, brannte in den Augen. Dann warfen sie die Generatoren an, um die Schneidmaschinen zu betrieben. Jedes mal wurde ich von einem Elektroschock gepeinigt. Ich rief: Lasst uns sterben, aber hört auf mit dem Gas und den Elektroschocks.
Nach zwei Tagen entdecken die Helfer Rosinas Füsse. Sie bewegen sich leicht. Sie reichen Rosina Wasser durch die Lücke und Essen. Die, die da im Dunkeln über ihr liegen, rufen: Rosina, gib uns vom Wasser. Doch da gibt es keine Lücke zwischen ihr und den anderen. Sie verstummen, einer nach dem anderen.
1129 Menschen kommen beim Einsturz von Rana Plaza ums Leben. Sie hatten in 5 Fabriken im Gebäude Billigkleider für Firmen wie Walmart, Primark, Mango, Benetton gefertigt. Weltbekannte Modehäuser. Geblieben ist ein Schutthaufen. Dazwischen liegen heute noch staubige Stoffballen, ein rotes Herrenhemd, säuberlich verpackt, Markenschilder von Dolce & Gabbana. Niemand hat sich die Mühe gemacht, alle Überreste wegzuräumen. Anfang Januar fanden Hinterbliebene noch Schädelknochen, von jenen, die bislang noch nicht gefunden worden waren. Sie zu finden, ist für die Hinterbliebenen überlebenswichtig. Ohne einen Schädelknochen, ohne eine DNA-Probe oder einen toten Körper gibt es keine Kompensation.
Rosina erhält seit dem Unfall monatlich eine Rente von 10 000 Takas, 117 Franken. Von grosszügigen Spendern hat sie zudem 200 000 Takas, 2347 Franken, bekommen. Ihr Mann hat das Geld vom Konto abgehoben, als sie in der Rehabilitationsklinik lag. Er hat es verspielt. Hätte sie keine Tochter und keine Arbeit, sie hätte ihn nicht wieder ins Haus gelassen. Der Staat hat für solche Fälle vorgesorgt. In fünf Jahren wird Rosina auf ein Konto mit 100 000 Takas zugreifen können. Das Geld stammt aus einem staatlichen Hilfsfond. 100 000 Takas, 1173 Franken, so viel bekommen die verletzten Überleben von Rana Plaza.
Rosina bedeckt ihren linken Armstumpf sorgfältig mit einem Tuch. Die Prothese liegt in der Zimmerecke. Die Wundstellen sind noch immer nicht geheilt. „Als sie mich nach zwei Tagen endlich im Schutt fanden, versuchten sie mich zu befreien, aber ich steckte fest. Ein Arzt wollte meinen Arm untersuchen, aber er kam nicht zu mir durch. Am dritten Tag sagte ich: Gebt mir eine Säge, damit ich meinen Arm absägen kann. Das Fleisch war bereits verrottet, aber der Knochen war hart.
Alles habe sich verändert, alles sei besser geworden, sagen die Vertreter der Industrie, der Modehäuser, der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Für westliche Modehäuser ist Bangladesch einer der billigsten Produktionsstandorte. Für Bangladesch ist die Textilindustrie der wichtigste Industriezweig. Vier Millionen Menschen arbeiten in zirka 5000 Fabriken, vor allem Frauen. Sie haben mit der Arbeit auch ein Stück Freiheit gewonnen. Boykott der Billigkleider ist keine Option, nur die Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Es gibt jetzt Abkommen und Versprechen und der Mindestlohn wurde von 35 Franken im Monat auf 62 Franken erhöht. Das reiche, sagt der Chef des wichtigsten Verbands der Textil-Industrie in Bangladesch. Rosina fragt: „Wer soll damit eine Familie ernähren können, wenn der Mann keine Arbeit findet? Nur wenn du zehn Stunden sieben Tage die Woche arbeitest, dann geht es. Deshalb machen alle Überstunden.“ Der Chef des Industrieverbandes sagt: „Wir mussten den Mindestlohn anheben, aber die westlichen Käufer wollen keinen Cent mehr zahlen. Wie soll da unsere Rechnung aufgehen?“ Am Ende ist es eine Frage des Preisschilds. Die Fabrikbesitzer sprechen von Verlusten. Die Einkäufer von fehlender Effizienz. Die Arbeiterinnen von Gier. Tappen in Grauzonen. So fühlt es sich an, wenn man in Bangladesch zum Thema Textilindustrie recherchiert. Neun Monate nach dem Einsturz der Fabrik, weiss niemand, wieviele Opfer, wieviel Kompensation erhalten haben und von wem. Niemand weiss, was das neue Abkommen zum Brand- und Gebäudeschutz in Bangladesch, genau ist. Wieviel ist geschäftiger Aktivismus, wieviel Augenwischerei? Und wenn doch jetzt alles besser ist: Wieso ist es beinahe unmöglich, Fabriken zu besuchen? Wieso findet das Modehaus Charles Vögele, das 40 Prozent seiner Kleider aus Bangladesch bezieht, drei Wochen lang immer neue Ausflüchte, um meinen Besuch heraus zu zögern, bis es am Ende zu spät ist?
Für Rosinas Schwester kam jede Hilfe zu spät. Von ihr wurden nur noch Überreste gefunden. Sie liegen in einem Grab am Rande von Dhaka. Darauf ein Holzkreuz mit der DNA Nummer 291. Rosina hat ihren einzigen Arm um ihre Mutter gelegt. Die Mutter wischt sich eine Träne ab. Dann eine zweite. Dann beginnt ihr Körper zu beben. Dem Beben folgen die Schreie: „Bringt mir meine Tochter zurück! Wer hat sie mir genommen?“ Da verschwimmt das hölzerne Kreuz mit der Nummer 291 vor meinen Augen. Was bleibt ist Scham über T-Shirts, die 5.99 Franken kosten.
Veröffentlicht in „Neue Wege“