Die Augen geschlossen, die Hände geöffnet, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, so liegt Rajender da, still. Über ihn streifen die Klänge der Chimes, einer Art Glockenspiel, das die Basler Musiktherapeutin Katharina Binetti über dem schmalen Oberkörper hin und her schwingen lässt. Leicht scheint sich die Musik auf Rajenders verbundenen Kopf zu senken. Das rechte Auge hat ihm der Krebs bereits gestohlen. Er versteckt die Höhle unter einem Verband und einer Basketballmütze der indischen Armee. Soldat wollte der 18-Jährige einmal werden, obwohl er eigentlich wie ein Tänzer wirkt mit seinem schlanken Körper und den feinen Gesichtszügen. Aber dieser Traum ist sowieso ausgeträumt. Im März haben die Ärzte entdeckt, dass mit seinem Auge etwas nicht stimmt. Wochen später fanden sie den Tumor dahinter. Seither ist Rajender in Neu Delhi in Behandlung. Seit Wochen liegt er in Pflegeheim von CanKids…KidsCan, einer indischen Hilfsorganisation für krebskranke Kinder in Neu Delhi. Nur durch einen dünnen Vorhang ist Rajender vom nächsten jungen Patienten getrennt. Die meisten Kinder hier werden nicht geheilt. Die Ärzte und Therapeuten versuchen ihnen einzig einen schmerzfreien Rest Leben, ein Stück Freude am Lebensende zu ermöglichen..
Rajender quälen oft Schmerzen. Aber nach der Behandlung der Musiktherapeutin liegt ein Lächeln auf seinen Lippen. Jetzt fühle er sich gut, leichter, die Schmerzen seien verschwunden, sagt Rajender leise. Alle paar Tage lässt Binetti die Klänge zwanzig Minuten oder länger über Rajenders Körper gleiten. Die 52-jährige Musik- und Ausdruckstherapeutin, eine grosse, schlanke Frau mit hellem Blick, ist im Januar nach Neu Delhi gekommen, um mit Musik Schmerzen zu lindern, wo es nichts mehr zu heilen gibt. In Neu Delhi arbeitet sie auf freiwilliger Basis mit dem Music Therapy Trust in den Pflegezentren von CanKids…KidsCan. Seit Wochen kümmert sie sich intensiv um Rajender. Der Zugang zu ihm über die Instrumente sei schwierig gewesen, aber dann habe er den Tanz entdeckt. Wenn er sich zu Bollywoodmusik bewege, sei er wie verwandelt, sagt Binetti: „Oft ist er sehr deprimiert und schläft stundenlang, weil er Mühe hat, mit dem Verlust seines Auges fertig zu werden. Aber wenn er tanzen kann, vergisst er alles. Er spürt keine Schmerzen mehr und es geht ihm gut.“.
Am Bett von Rajender steht seine Mutter. Ihre Miene ist ausdruckslos. Zuhause in Varanasi, der heiligen Stadt am Ganges, warten nicht nur Rajenders drei Geschwister auf sie, sondern auch ihr kranker Mann. Eigentlich hätte Rajender auch eine Frau. Mit 15 wurde er ihr versprochen, gesehen hat er sie nie. Und wer weiss, ob sie ihn, den Kranken, noch will. Wie lange Rajender noch leben wird, weiss er nicht. Dass es nicht mehr lange sein wird, wissen alle. Aber das spricht hier niemand aus. Ängste sind weggesperrt, Wünsche bleiben unausgesprochen. Man werde sehen, was die Zukunft bringe, sagt Rajender, und dann spricht er doch von seiner grössten Angst: “Mein Vater weiss nicht, wie es mir wirklich geht. Er ist selber krank und liegt im Spital. Ich fürchte mich vor dem Moment, wenn er erfährt, wie es um mich steht.“.
Die Kinder scheinen ihre Eltern schützen zu wollen, desgleichen die Eltern ihre Kinder, und über allem liegt ein Schleier des Schweigens, als ob der Tod so hinausgeschoben werden könnte, sagt Huma Anis, die Psychologin des Zentrums: „Die Eltern wollen den Kindern nicht sagen, dass sie sterben werden, aber die Kinder spüren die Angst der Eltern. Manche glauben, sie würden bestraft für etwas, das sie getan haben. Andere ziehen sich ganz in sich zurück.“.
Aus diesem einsamen Raum solle sie die Musiktherapeutin herauslocken, hofft Poonam Bagai, die Gründerin von CanKids…KidsCan, die selbst ein Krebsleiden besiegt hat. „Wir haben festgestellt, wie sehr wir den Kindern mit Musiktherapie helfen können. Musik zu spielen und zu hören öffnet sie und lässt ihre Emotionen frei.“ 2003 hat Bagai die Organisation CanKids…KidsCan gegründet. Die Organisation hat seither Tausenden von krebskranken Kindern in ganz Indien finanziell und mit Unterkünften während der Behandlungszeit geholfen. Doch viele Kinder erreicht die Hilfe zu spät oder gar nicht. In Indien erkranken jährlich ungefähr 50 000 Kinder an Krebs. Nur knapp die Hälfte von ihnen wird behandelt, bei den anderen entdeckt man den Krebs nie oder zu spät. Sie verlassen sich auf das Urteil von Dorfärzten oder sie haben kein Geld, um in die staatlichen Spitäler der Metropolen Indiens zu reisen. Manche können es sich schlicht nicht leisten, auch nur einen Tag nicht zu arbeiten. Wenn sie dann doch zur Behandlung kommen, wie Rajender, dann bleibt ihnen oft nur noch wenig Lebenszeit. Katharina Binetti versucht sie in dieser Endphase zu unterstützen. Einige Patienten hat sie bereits verloren. Wie geht sie mit dem Wissen um, dass Leben hier nur ein flüchtiger Zustand ist? „Erstaunlicherweise geht es mir recht gut dabei. Ich weiss schon wenn ich mit der Behandlung beginne, dass die Kinder sterben werden. Deshalb ist das eine intensive Zeit, ganz im Bewusstsein, dass ihr Ende nahe ist. Das hilft mir zu fokussieren, im Hier und Jetzt zu bleiben und die Kinder zu unterstützen auf ihrem Weg zum Ende des Lebens.“.
Im Therapieraum bläst der zehnjährige Lakumar mit voller Kraft in eine Bansuri-Flöte. Den Mundschutz hat er über seinen kahlen Kopf gestreift, die Augen auf die Musiktherapeutin gerichtet. Ausserhalb des Therapieraums spreche er selten ein Wort, aber im Therapieraum spreche er viel, wenn auch nicht mit seiner eigenen Stimme, sagt Binetti: „Die Flöte ist wie eine zweite Stimme. Lakumar spricht durch sie. So kann er stundenlang spielen, sehr laut und schrill. Er hat eigentlich ganz viel zu sagen, aber er traut sich nicht, weil sein Vater die ganze Zeit in seiner Nähe ist und sich liebevoll um ihn kümmert. Die Kinder nehmen enorm Rücksicht auf ihre Eltern, weil sie genau spüren, dass die Eltern unter der Situation leiden.“.
Neben Lakumar spielt der fünfjährige Gopal seinen eigenen, ganz anderen Rhythmus auf der Trommel. Er hat Tumoren im Bein und in der Schulter. Binetti versucht nicht, eine gemeinsame Melodie zu finden oder schöne Musik zu spielen. Sie unterstützt die Knaben mit dem Holzxylophon, öffnet den Raum für die Klänge, so dass Wut und Ängste entweichen können..
Nach einer halben Stunde liegt Gopal erschöpft am Boden. Lakumar hat sich auf einen Stuhl gesetzt. Der 18-jährige Rajender hat das Zimmer betreten und sich in der Musiksammlung von Binetti einen Bollywood-Song ausgesucht. Er will kein Instrument spielen. Rajender will tanzen. Zuerst bewegt er nur leicht die Füsse, dann hebt und senkt er die Arme wie ein Vogel. Es sieht aus, als ob er abheben wolle..
Veröffentlicht in „Neue Wege“