Allahabad 13.2.2013
Zuerst hört man nur die dumpfen Klänge ihrer Muschelhörner. Dann, im Morgengrauen, tauchen die ersten Pilger am Ufer auf. Mit Hochrufen und erhobenem Dreizack rennen die Naga Babas, die den Pilgerzug anführen, Richtung Wasser. Sie, die asketischen Hindu-Mönche und Anhänger des Gottes Shiva, sind splitternackt, nur mit Asche beschmiert, ihre Rastazöpfe auf dem Kopf zu Türmen gedreht. Manche schwingen ihren Dreizack, werfen sich für die Kameras in Pose, drehen ihren Penis um einen Holzstock, um zu beweisen, wie sehr sie jedem Weltlichen entsagt haben. Dann stürzen sie sich in den Ganges. Über allem liegt die Hoffnung, dass wer es bis hierher geschafft hat, sich in einem einzigen Bad von all seinen Sünden reinwaschen kann. Den Kreislauf der Wiedergeburten bricht.
Die Kumbh Mela in der indischen Stadt Allahabad wurde in ganz Indien und im Ausland mit Superlativen angepriesen: Das grösste religiöse Fest der Welt, das so nur alle zwölf Jahre stattfindet. Ein unvergessliches Erlebnis. Ein spiritueller Höhepunkt, ja Höhenflug. Sadhus, Gurus, Gelehrte, Mystiker, Touristen, hinduistische Pilger, Millionen von ihnen, sie alle würden 55 Tage lang zum Ganges pilgern, um im heiligen Flusswasser einzutauchen, ihre Sünden abzuwaschen. Denn hier in Allahabad und an drei anderen Orten verschüttete ein indischer Gott einst Tropfen des heiligen Nektars, als er mit dem Kelch den Dämonen entfloh. Zumindest besagt das so ein hinduistischer Schöpfungsmythos, und so wird die Kumbh Mela seit Jahrtausenden reihum an den vier heiligen Orten gefeiert. Und doch klingt es wie Ablasshandel: Ein Bad im Ganges und du bist schuldfrei. Welche Versuchung, welche Abkürzung eines sonst langen und beschwerlichen Weges. Millionen erliegen ihr. Ich tat es auch. Wenn auch nur in der Hoffnung, ein Stück Magie zu finden.
Der heiligste aller Badetage und damit der sicherste, um direkt in die Unendlichkeit zu gelangen, fand am zweiten Wochenende im Februar statt. Meine Reise beginnt unter schlechten Vorzeichen. Am Air India-Schalter in Neu Delhi schnauzt eine missmutige Angestellte, dass die Maschine schon weg sei, nichts zu machen. Der Abflug wurde kurzerhand vorverschoben, ich nicht informiert. Wahrscheinlich musste die staatliche Airline in letzter Sekunde Platz schaffen für einen VIP.
Am kommenden Tag ist Allahabad bereits Auffangbecken eines nicht versiegenden Pilgerflusses. Strassen sind blockiert, Polizisten beschützen die Blockaden mit Knüppeln. Über die Brücken des Ganges strömen Pilger, einzig mit einem Bündel Kleider, ein wenig Essen und einer leeren Plastic-Flasche im Arm. In die leere Flasche werden sie später das Ganges-Wasser füllen, ungeachtet dessen, dass dieses bereits so verschmutzt ist, dass ein Bad darin gesundheitsschädigend ist. Die Pilger – gewohnt daran, dass in Indien Glaube oft das einzig Verlässliche ist – werden das Wasser in ihre Dörfer tragen und es zur Behandlung von Krankheiten und bei heiligen Ritualen wieder hervor holen. Hunderttausende von Indern sind aus ihren Dörfen gekommen, viele wohl zum ersten Mal. Sie klammern sich an den Hemdzipfeln ihrer Nachbarn fest, um im Gedränge nicht verloren zu gehen. Und doch gehen in den ersten vier Wochen 60 000 Menschen in den Massen verloren. Viele haben zwar Mobiltelefone, aber das Netz funktioniert oft nicht. Am Hauptbadetag, als schätzungsweise 34 Millionen Menschen an der Kumbh Mela versammelt sind, werden Tausende von ihren Angehörigen getrennt. Ihre Namen hallen in endloser Wiederholung über dem ganzen Gelände. Zelte schmiegen sich dort aneinander. Sie gehören Ashrams und Gurus, die von nationalen und internationalen Firmen gesponsert werden. Dazwischen füttert eine Frau ihre tanzenden Schlangen, ein Händler bietet Potenzmittel an und einer hat Schuhe zu einem Haufen aufgetürmt. Ihre Besitzer haben sie im Gedränge verloren.
Die Kumbh Mela wirkt wie eine bunte Mischung aus kommerziellem Jahrmarkt, Pilgerfahrt und Quacksalberei. Auf dem Festgelände stellen sich Babas, selbst ernannte Gottesmänner, als Attraktionen zur Schau. Der Arm-Baba beispielsweise, der seit 37 Jahren seinen linken Arm in die Höhe streckt, um damit die Kühe zu retten. Oder der Bein-Baba, der seit zehn Jahren auf einem Bein steht. Andere bekiffte Babas versuchen Ausländer in ihre Zelte zu locken. Diese steigern ihre Popularität und wirken wie ein Magnet auf weitere potentielle Anhänger. Nackte Naga Babas hocken vor ihren glimmenden Wurzeln. Sie sind der Touristen-Magnet der Pilgerfahrt und die ersten, die am grossen Badetag in den Ganges steigen. Schon im Vorfeld liefern sich die verschiedenen Sekten Machtkämpfe, welche von ihnen zuerst das rituelle Bad vollziehen darf. Am Badetag selbst posieren sie in ihrer Nacktheit für die Fotokameras.
Naga Baba G Giri Ji hat dank seiner grossen Sonnenbrille – seinem einzigen Kleidungsstück – einige Berühmtheit auf dem Festgelände erlangt. Er sei eigentlich eher zufällig mit 18 Jahren ein Naga Baba geworden. Denn in der Schule habe er es nicht weitgebracht und sich deshalb entschieden, ein spirituelles Leben zu führen, sagt er. Heute lebt er in einer Hütte, angewiesen auf Almosen. Anhänger scheint er jedoch genügend zu haben. Sie suchen seinen Segen und geben ihm dafür ein paar Rupien. Auch zwei junge Frauen aus Israel und Kanada schauen mit verklärtem Blick auf den Baba und dieser kommentiert wohlwollend das, was er ihren Brustkorb nennt.
Nach zwei Tagen reise ich desillusioniert ab. Am Bahnhof, an dem am Tag zuvor 36 Menschen zu Tode getrampelt werden, warte ich sechs Stunden auf den Zug, der nie kommt. Auch hier stehen Polizisten, immer bereit, die Tausenden von Pilgern, die neben und auf den Geleisen auf ihre Züge warten, in Schach zu halten. Mit Spiritualität hat die Kumbh Mela erdenklich wenig zu tun. Und mit der angeblichen Auflösung des Ichs noch viel weniger.
Veröffentlicht in „Neue Wege“