Als der Anruf aus Bern kam, hatte der Kellner eben den Linseneintopf aufgetragen. Dazu chinesische Nudeln, obwohl nicht klar war, was chinesisch an ihnen war. Der Anruf raubte mir sofort jeden Appetit. Am Ende der Kräfte war ich bereits.
Der Fahrer, ein Übersetzer, ein Freund und ich waren 12 Stunden durch die Wälder des ostindischen Orissa gefahren und schliesslich in diesem Kaff angekommen. Bhawanipatna. Hier trafen wir einen lokalen Mittelsmann der Dongria Kondh und sein Lehrling, der nichts sagte, aber am kommenden Tag ständig in’s Auto kotzte. Der Plan war so: Von Bhawanipatna würden wir am kommenden Morgen in aller Herrgottsfrühe in die zwei Stunden entfernte Provinzstadt Lanjigarh fahren und dann zwei Stunden zu Fuss auf den Niyamgiri Hügel steigen. Die Dongria Kondh, ein Stamm von 8000 Ureinwohnern, erwartete uns dort. Wir planten zwei oder drei Tage bei den Ureinwohnern zu bleiben. Jeder Tag weniger wäre eine Beleidigung gewesen.
Doch dazu sollte es nie kommen.
Wieso das eine Geschichte ist, ist schnell erzählt: Vedanta, ein britischer Rohstoffmulti, will auf dem Niyamgiri Hügel Bauxit abbauen und daraus das billigste Aluminium der Welt herstellen. Obwohl Vedanta die Bewilligung vom Gliedstaat Orissa bereits bekommen hat, wird das Vorhaben 2010 vom damaligen indischen Umweltminister gestoppt. Der Minister spricht von schockierender und eklatanter Missachtung der Rechte indigener Stämme. Die Menschenrechtsorganisation Survival International fürchtet, mit der Bauxit Mine würde die Lebensgrundlage der Dongria Kondh zerstört. Vedanta fechtet mit der staatlichen Bergbaufirma von Orissa den Entscheid des Ministers am Obersten Gericht an. Eine Raffinerie hat die Firma bereits 2006 voreilig am Fusse des Niyamgiri Hügels gebaut. Sie läuft bereits. Die Bauxit-Steine dafür karrt Vedanta aus ganz Indien herbei. Ein Transportband zum Niyamgiri-Hügel hat sie auch bereits aufgebaut. Auf dem Hügel liegen Steine im Wert von zwei Milliarden Dollar. Wenn nur die Dongria Kondh nicht wären.
Wochenlang hatte ich die Reise vorbereitet. Ewige Telefongespräche zwischen London, Delhi, Bhubaneswar, Lanjigarh und Bhawanipatna geführt, um die Ureinwohner mit Hilfe von Mittelsmännern um Besuchserlaubnis zu bitten, Übersetzer und ein Auto zu organisieren, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Jetzt, Mitte März, schien er gekommen. Denn Anfang April wollte das Oberste Gericht entscheiden, ob Vedanta Bauxit auf dem Niyamgiri Hügel abbauen darf oder nicht. Da würden die Stimmen der Dongria Kondh auch ins Radioprogramm passen.
Aber dann passierte etwas, mit dem niemand gerechnet hatte: Die Maoisten, die vor allem im rohstoffreichen Osten Indiens aktiv sind, entführten zwei italienische Touristen. Es war das erste Mal, dass die Maoisten Ausländer entführten. Es war ausgerechnet in Orissa. Und ich sah die Bilder der Italiener in Endlosschlaufe auf den indischen Newskanälen, als ich in der Wartehalle des Flughafens in Neu Delhi sass. Bereit zum Abflug.
Was also macht man in einer solchen Situation? Ich rief meinen Übersetzer, einen lokalen Journalisten von Bhubaneswar, der Hauptstadt Orissas, an. Und der sagte: Kein Problem. Das war ein persönlicher Rachefeldzug der Maoisten, weil der Italiener ständig nackte Ureinwohner-Kinder fotografierte. Die lokalen Bewohner waren genervt. Und dann sagte er noch: Wir fahren zwar durch das Gebiet, in dem die Italiener entführt wurden, aber wir gehen ja nicht dort wandern, sondern auf dem Niyamgiri Hügel und dort gibt es keine Maoisten….Sagt er das nun, weil er um seinen Lohn fürchtet? Oder weil das so ist? Also noch eine zweite Quelle anrufen. Der zweite Journalist klang ein bisschen besorgter, aber vor allem weil er glaubte, uns könnten die Behörden in die Quere kommen und keine Bewilligung zum Besuch der Ureinwohner geben. Zudem sass ich am Flughafen. Das Ticket war gekauft, das Hotel gebucht, die Ureinwohner informiert. Was aber, wenn meine Kollegen auf der Redaktion in Bern Morgen die Agenturmeldungen lesen: Maoisten entführen Italiener in Orissa. Orissa, ist da nicht unsere Korrespondentin? Also besser eine mail schicken. Kurz erklären.
Als der Anruf aus Bern kam, war mir sofort klar, dass gar nichts klar war. Oder bereits alles klar. Zumindest die Weisung: Du steigst nicht auf diesen Hügel. Das ist zu gefährlich. Wir sind verantwortlich.
Vielleicht hatten sie sogar Recht. Vielleicht auch nicht. Frustrierend war, dass wir damit genau das taten, was Vedanta, die lokale Regierung und die Polizei wollte: Nicht mit den Dongria Kondh sprechen. Weil es angeblich zu gefährlich war. Egal ob die Entführung so weit entfernt lag wie Zürich und Genf.
Am Ende entstand doch noch eine Geschichte. Nicht vom Niyamgiri-Hügel, sondern von den Dörfern um die Raffinerie. Wahrscheinlich war sie sogar besser, zumindest weniger voraussehbar.
April 2012
Sie Reportage dazu im Podcast