In Indien zu leben, bedeutet mit einer ganz neuen Art von Wertschätzung auf die Schweiz zu blicken. Und es bedeutet vieles von dem, was ich als normal erachtet habe, wieder als grosses Privileg zu erkennen.
Das merkte ich, als ich nach mehreren Monaten Indien in Kloten aus dem Flugzeug stieg, einatmete und meinte, selten so gute und saubere Luft gerochen zu haben. Über Delhi, einer 15 Millionen-Stadt, liegt meist dichter Smog, und neben meiner Wohnung in einem besseren Quartier, fliesst ein breiter, offener Abwasserkanal. Ich habe mich an den Gestank gewöhnt, auch an den Abfall, die Menschen, die überall am Strassenrand ihr Geschäft verrichten, weil sie auch auf diesen Strassen leben und sowieso an all die Menschen immer und überall. Und vielleicht habe ich mich auch schon ein wenig an die Bürokratie und Korruption gewöhnt, die das Land lahmlegt und jede wirkliche Entwicklung verhindert. Da sagte doch vor ein paar Tagen ein indischer Kollege, sein Bruder beaufsichtige alle Strassenprojekte in Kaschmir und habe sich trotzdem nicht bereichert. Und wir alle nickten anerkennend, denn hier ist es ein Verdienst nicht korrupt zu sein. Normal aber ist, dass sich bereichert, wer kann.
Indien ist anders, als ich es erwartet hatte. Das Indien unserer Reiseprospekte, die Rajputen-Paläste, Ayurveda-Kuren und Selbstfindung in Ashrams propagieren, hat jedoch wenig mit dem Indien zu tun, in dem der gewöhnliche, also meist arme Bürger, zuhause ist. Denn für Millionen von Indern bedeutet ihr Land: survival of the fittest, Überleben des Stärksten. Da sind zum Beispiel die knapp 13-jährigen Knaben, die vor meiner Wohnung auf der Baustelle leben, schlafen und arbeiten und dafür knapp zwei Franken pro Tag verdienen.
Wer in Indien ein besseres Leben haben will, muss klüger, ausdauernder und härter sein, als Millionen andere, er muss eine gute Ausbildung oder Geld haben. Deshalb legen selbst die Ärmsten Ersparnisse an, um ihre Kinder auf eine bessere Schule schicken zu können. Und diese lernen mit einem Eifer, wie ich ihn bei uns kaum gesehen habe. In der Schweiz zahlt sich auch Mittelmässigkeit aus, – ja, es gehört gar zum guten Ton, in der Mitte zu bleiben. In Indien gibt es kaum Mitte und nur eine langsam wachsende Mittelschicht. Auch das viel gepriesene Wirtschaftswachstum hat da kaum ausgleichend gewirkt. Nach wie vor gibt es eine harte Trennlinie zwischen arm und reich, Klassen und Kasten. Die Gleichheit aller mag in Indien verfassungsrechtlich noch so gesichert sein, aber es ist nichts so sicher wie die Ungleichheit in diesem Land. Und wer es einmal geschafft hat, auf der Wohlstandsleiter eine Stufe höher zu klettern, schaut mit Verachtung oder Nichtachtung, auf alle herab, die auf der Strecke geblieben sind.
Da mag es erstaunen, dass mich Indien auch Bescheidenheit lehrt. Vor allem mit Blick auf die Schweiz. Denn unsere Vielfalt ist nichtig, verglichen mit der Intensität der Gerüche, Laute, Farben, Lebensarten und Naturereignisse auf dem Subkontinent. Hier gibt es Wüsten und Gletscher und Regenwälder. Und ein Inder aus dem Punjab ist in Tamil Nadu genauso fremd wie ich. Da ist es doch bemerkenswert, dass Indien mit mehr als hundert Sprachen, Ethnien, Land- und Wasserkonflikten, Dürren und Armut weitgehend friedlich funktioniert. Und wir bilden uns weiss Wunder was ein auf unsere Viersprachigkeit und unser friedliches Zusammenleben in der wohlgeordneten Schweiz.
In Anbetracht von Indiens gigantischen Herausforderungen, beschämen mich die Probleme unserer Wohlstandsgesellschaft, sie belustigen mich zuweilen auch, vor allem aber verblassen sie. Während bei uns ein immer noch besseres Leben mit noch mehr Sicherheit angestrebt wird, geht es in Indien um’s nackte Überleben, um Leben überhaupt.
Leben und Tod sind in der indischen Gesellschaft als untrennbares Paar ständig präsent. Zum Beispiel an den Ufern des Ganges, des heiligen Flusses in Varanasi.
Dort brennen Leichen auf offenen Scheiterhaufen. Der Körper einer schwangeren Frau, die nicht verbrannt werden konnte, treibt auf dem Wasser und gleich daneben plantschen Kinder und beten Pilger. Der Körper aber, der aufgedunsen dahintreibt, ist bloss noch Hülle, unbedeutend in einer Welt, in der die meisten Menschen glauben, dass der Tod zum Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt gehört. Damit verliert der Tod viel von seinem Schrecken. Die Menschen begegnen ihm mit viel weniger Angst als bei uns, wo er endgültig und abschreckend wirkt und hinter schwarz getönte Autofenster und hohe Friedhofsmauern weggesperrt wird.
Wer Leben und Tod als Kreislauf sieht, gewinnt zum Leben einen anderen Bezug. Das prägt die Mentalität einer Gesellschaft. Zumal die die meisten Menschen in Indien glauben, dass ihr jetziges Leben die gerechte Folge aller vorangegangenen Leben und ihrer Taten sei. Dieses tief verankerte Glaubenskonzept scheint Leid erträglicher zu machen. Nach Sinn fragt hier kaum jemand. Es macht die Gesellschaft aber auch anfälliger für Ausbeutung und gleichgültiger gegenüber Ungerechtigkeit. Solche Gegensätze sind symbolisch für ein Land wie Indien, in dem es für jedes Beispiel ein Gegenbeispiel gibt. Wieviel simpler und durchschaubarer erscheint mir da die Schweiz.