Da stehen sie also, zehn Mann auf meiner Terrasse im zweiten Stock. Die Hände fest am Seil, die Füsse gegen die Wand gestemmt, ziehen sie nach Kräften. Doch die Kiste, solide vernagelt und schwer wie ein halber Elefant, bewegt sich keinen Zentimeter vom Boden weg. Ma’m, das Piano ist zu schwer, wirklich zu schwer! – Sie sagten mir doch gestern, dass Sie einen Kran herbringen… – But, Ma’m, das ist viel zu teuer. Keine Sorge Ma’m, wir finden eine Lösung…
Koshar heisst der Mann, der eine Lösung finden muss für das Problem, wie mein Klavier von der Hauseinfahrt in den zweiten Stock gebracht werden kann, obwohl das Treppenhaus dafür viel zu eng ist. Klein und drahtig ist Koshar und rührt keinen Finger, wenn seine Männer am Seil ziehen, weil er der Manager ist, sie aber die Arbeiter. Vor drei Tagen hat er mich abgeholt, und wir sind zusammen ins Zolllager am Stadtrand von Delhi gefahren. Container sind dort gestapelt wie Zündholzschachteln. Und verloren mitten in einer Halle standen meine Umzugskartons und das Klavier in seiner Holzkiste.
Ein dickbauchiger Beamter inspizierte die Kisten: Ma’m, how old is your computer? – Oh, very old Mister. Everything is very, very old…. – And the piano? – Old Sir, mindestens zehnjährig… So verschwand er wieder, kehrte eine Stunde später zurück und drückte mir meinen Pass in die Hand. Ma’m, alles o.k., Sie müssen keine Zollgebühren zahlen, aber ich will Sie jetzt meinem Chef vorstellen…
Das wäre dann der Moment gewesen, sich entgeltlich zu zeigen. Ich habe dem Chef die Hand geschüttelt, mich höflich bedankt. Ma’m, you should pay now!, hat Kishor geflüstert, und ich habe weiter höflich gelächelt. Was soll ich zahlen? Hier steht’s doch in meinem Pass, schwarz auf weiss: Goods are cleared. Das Lächeln der Beamten war eisig. Vielleicht bringen sie die nächsten Kunden zuerst zum Chef und geben ihnen dann erst den Pass…
Und jetzt stehen diese Kartons voller Bücher, Kleider und Radiogeräte also in meiner Wohnung. Wie fleissige Ameisen sind die Arbeiter in meine Wohnung geschwärmt und haben hier alles abgeladen. Nur das Piano, die schwere Kiste, steht unten in der Einfahrt und rückt nicht vom Fleck. Die kleine Arbeiterarmada zieht unverrichteter Dinge ab.
Am nächsten Tag kommt Kihshor zurück. Ohne Kran, dafür mit weiteren zehn Mann und deren Chef. Es müssen Tagelöhner sein. Viel Manneskraft für wenig Geld. Tripptrapp, tripptrapp sind alle auf der Terrasse. Einer trägt ein Seil, ein anderer eine Kette, ein dritter eine Seilwinde, die anderen stehen und schauen. So sei das eben in Indien, hat mir ein Inder gesagt: Einer arbeitet und die anderen teilen die Erfahrung. Das Seil fliegt runter und hoch kommt ein Baumstamm, dann ein zweiter. Eine Baumstammkonstruktion entsteht auf meiner Terrasse, mit eingebauter Seilwinde, einer Eisenkette, die gefährlich der Hauswand entlang schleift. Und dann rückt es hoch, Zentimeter um Zentimeter schaukelt die Pianoholzkiste nahe der Hauswand empor. Auf dem gegenüberliegenden Hausdach sichert unser Nachtwächter die Kiste mit einem Seil. Zwei ziehen, einer gibt Anweisungen, die anderen schauen zu. Inzwischen stehen alle Nachbarn an den Fenstern. Der Abfall-Wallah, der jeden Tag den Abfall holt und jetzt mit seinem Fahrrad gefahren kommt, hält an.
Es klingelt. Zwei Männer stehen vor der Tür. Guten Abend Ma’m, ich bin von Airtel. –Einer von euch war heute schon hier und hat ein Kabel gelegt. – Ich soll das Modem bringen und ihren Internet-Fernseher installieren. – So, wolltet ihr nicht vor vier Stunden kommen? – Ja, Ma’m, very sorry. – Und wieso hat dein Kollege nicht gleich das Modem mitgebracht? – Ma’m, der legt nur Kabel. Wo kann ich hin mit dem Modem? – Ins Büro. Und warum kommt ihr zu zweit? – Das ist mein Freund. Ingenieur. Er ist zu Besuch. – Na dann.
Die Kiste hat jetzt die ersten zwei Meter geschafft. Da steht schon wieder einer in der Wohnung. Und wer bist du? – Ich komme für die Ventilatoren. – Die sind doch o.k. Was willst du? – Muss sie zählen. Und dann verschwindet er, zählt alle Ventilatoren und ist wieder weg.
Die Kiste ist jetzt auf halber Höhe. Es klingelt. Einer taucht mit einer Werkzeugkiste auf. (Der Airtel-Mann hat inzwischen das Modem aufs Pult gestellt). Hello Ma’m, wo ist die Lampe? – Lampe? – Die ich flicken soll? – Aha, Lampart, endlich. Sie steht hier, aber sie steht nicht wirklich. – O.k., Ma’m, no Problem.
Aus dem Büro ruft der Airtel-Mann: Ma’m, wo wollen Sie Ihren Fernseher haben? – Neben dem Pult.
Derweil ist draussen die Holzkiste auf der Höhe der Terrassenbrüstung angelangt. Es gibt ein Problem. Die Kiste müsste jetzt zwischen den Holzstämmen hindurch auf die Terrasse geschoben werden – aber sie ist zu breit…
Und auf einmal dieser Polizist vor der Tür. Constable Surrender Singh. Ma’m, Ihre Polizeiakte? – Wie bitte? – Hier, ihre Formulare, nicht komplett! Er wedelt mit vier Blättern vor meiner Nase herum, auf denen meine vier Passfotos kleben und auf denen steht, wo ich wohne, wen ich kenne, was ich arbeite. Ich habe sie gestern ausgefüllt und abgegeben. Zu meinem Schutz, wie die Polizei sagte.
Setzen Sie sich. Was muss ich ausfüllen? – Hier, Mädchenname ihrer Mutter, der fehlt Ma’m. Ausfüllen! – O.k., o.k. – Haben Sie Freunde hier? Adresse aufschreiben! – Ja, ja… – Was? Nur eine Adresse von Freunden? – Sir, ich bin neu! – Name ihrer Brüder. – Habe ich nicht. – Aha, nicht gut.
Ma’m Ihr Internet-Fernseher funktioniert, kann ich ihn erklären? – Moment!
Die Männer auf der Terrasse stehen immer noch um die hängende Box herum. Sie beraten. Und der Elektriker sitzt am Boden. Die Lampe liegt in Einzelteile zerlegt vor ihm. Er sieht etwas ratlos aus.
Es dunkelt bereits. Vier Stunden sind verstrichen. Der Polizist ist weg. Der Elektriker hat nach einer Stunde die Stehlampe so zusammengebaut, dass sie zumindest nicht mehr umfällt. Und weil er schon mal hier war, habe ich ihn verknurrt, auch gleich noch die Spots zu befestigen. Wer weiss, wann wieder ein Elektriker ins Haus kommt.
Auf der Terrasse haben die Männer eine Ecke der Holzkiste abzufeilen begonnen. Und der Airtel-Mann erklärt: Ma’m, 135 Kanäle, mit diesem weissen Gerät stellen Sie die Verbindung her, hier drücken, dann passiert das, hier das, dann rauf, runter, rüber… Ich beobachte durchs Fenster die Kiste. Sie passt immer noch nicht durch die Vorrichtung…. Ma’m können Sie mir folgen? Also, wenn Sie hier drücken, dann kommen Sie auf unser spezielles Airtel-Angebot… – Warten Sie! Sie haben’s geschafft! Fünf Mann haben an einem der zwei Baumstämmchen gezerrt, bis die Luke gross genug war. Und jetzt steht es hier, ein Klavier auf meiner Terrasse!! Es ist zehn Uhr abends. Die Tagelöhner verschwinden. Job erledigt, ein anderer soll das Klavier reinbringen. Auch der Elektriker ist weg. Übrig bleiben Kishor und sein einziger Mitarbeiter und ein ungeduldiger Airtel-Monteur – und ein Haufen Karton und das Holz der Kiste. Kishor will auch weg. Halt! Wer räumt den Müll weg? – Ma’m, wir kommen morgen um elf mit ein paar Mann und einem kleinen Lastwagen. – Und dann ruft wieder der aus dem Büro: O.k. Ma’m, wir müssen jetzt noch meinen Chef anrufen, und dem müssen Sie erklären, dass wir IP-TV erfolgreich installiert haben…
Am nächsten Morgen um halb sieben klingelt es. Kishor hat drei Männer geschickt. Hatten wir nicht elf Uhr gesagt? – Sorry, Ma’m! Sie nehmen ein paar Schachteln mit und sagen, sie kämen zurück für den Rest und die Holzkiste. Natürlich kommt niemand zurück. Ich beschimpfe Kishor am Telefon. Er entschuldigt sich tausendmal und sagt, er schicke die Männer am Nachmittag. Es kommt niemand. Auch später nicht. Dafür steht wieder einer von Airtel vor der Tür. Er komme wegen der Box. – Welcher Box? – Die, auf die Sie dann das Modem stellen können…
Karin Wenger