Blockade und politische Querelen lähmen das Gesundheitswesen
Die israelische Blockade behindert den Nachschub von Medikamenten und medizinischer Ausrüstung für die Spitäler im Gazastreifen. Es ist aber das politische Seilziehen zwischen der Hamas und der Fatah, das dem Gesundheitswesen den Todesstoss zu geben droht.
Die Uhr zeigt bereits zwölf Uhr mittags, und Doktor Mahmud Basal sollte längst zu Hause sein, wenn er den Streikaufruf seiner Gewerkschaft befolgen würde. In der Intensivstation des Shifa-Spitals, des grössten Krankenhauses von Gaza, zeigt er auf die Patienten, die schwer atmend unter dünnen Laken liegen und an allerlei Apparate angeschlossen sind. Ob die Regierung in Ramallah all diese Leute einfach sterben lassen wolle, empört sich Basal. Er gehöre weder der Hamas noch der Fatah an, stellt er fest, er arbeite für die Leute und nicht für irgendeine politische Partei. Erscheint Basal weiterhin zur Arbeit, riskiert er, dass ihm sein Lohn gestrichen wird. Denn diesen bezahlt die Administration von Präsident Abbas in Ramallah.
Lieber tot als Hamas?
Am letzten Montag hat die Gewerkschaft der palästinensischen Ärzte, unterstützt von der Fatah-Regierung in Ramallah, alle Mitarbeiter des Gesundheitssektors im Gazastreifen zum Streik aufgefordert. Diese sollen fortan aus Protest gegen die Hamas, die Mitte Juni die Fatah im Gazastreifen entmachtet hat, nur noch von acht bis elf Uhr morgens zur Arbeit erscheinen. Etwa zwanzig Prozent der Angestellten im Gesundheitssektor, vor allem Ärzte, sind der Aufforderung gefolgt.
Basal steht vor einem der elf Betten in der Intensivstation. Das neunjährige Mädchen, das darin liegt, kann seine Beine nicht mehr bewegen, seit es bei einer Schiesserei in Gazas Strassen angeschossen wurde. Werde das Mädchen nicht bald operiert, dann sei nichts mehr zu machen, sagt Basal, es werde ein Leben lang gelähmt sein. Eigentlich, so sagt Basal, müssten die Beine des Mädchens fixiert werden, aber das Material dazu fehle. «Anästhesiemittel, Krebsmedikamente, Impfstoff, Fixierungsstäbe . . .» Basal beginnt die endlos scheinende Liste von Medikamenten und medizinischen Instrumenten aufzuzählen, die aufgrund der geschlossenen Grenzen nicht mehr importiert werden können.
Wolle man Notfälle, wie jenen des gelähmten Mädchens, in ein Spital nach Israel transferieren, dann dauere die Koordination heute zwei Tage anstatt weniger Stunden, wie das früher üblich gewesen sei. Mehr als 70 Patienten warten auf einen Transfer in ein Spital ausserhalb des Gazastreifens, und 150 Patienten sollten ausreisen, um ihre medizinische Behandlung fortzusetzen. Denn viele Behandlungen könnten nicht mehr durchgeführt werden, weil auch die Ersatzteile für medizinische Apparate fehlten, sagt Basal und zeigt auf einen Raum in der Intensivstation, der mit unbrauchbaren Geräten angefüllt ist.
Kein Strom für das Spital
Im Stationsraum der Intensivabteilung herrscht allgemeine Niedergeschlagenheit. Zum Medikamentenmangel und zum Streik, den knapp die Hälfte der 1500 Angestellten im Spital aus Angst vor Lohnverlust befolgen, kommt seit wenigen Tagen ein neues Problem. Am Freitag hat Israel den Import von Treibstoff in den Gazastreifen gestoppt, und seit Sonntag bezahlt die Europäische Union die Rechnungen für das importierte Dieselöl nicht mehr. Die Fatah-Regierung in Ramallah sagt, dass dies eine Konsequenz dafür sei, dass die Hamas den bisherigen Chef des Elektrizitätswerks mit einem Mann aus den eigenen Reihen ersetzt hatte. Die EU will den Treibstoff nicht mehr bezahlen, weil die Hamas darauf eine Steuer erhebt.
Folge des fehlenden Treibstoffs ist, dass alle vier Generatoren im Elektrizitätswerk nicht mehr betrieben werden können und die Hälfte des Gazastreifens ohne Strom ist. Das Shifa-Spital kann mit Hilfe eines Generators den Betrieb vorderhand mehr schlecht als recht aufrechterhalten, doch befürchten die Ärzte ein Desaster, wenn das Spital noch lange keine Versorgung von aussen erhält. «Gestern hatten wir ständig Stromunterbrüche, weil der Generator nicht die volle Leistung erbringen kann. Wie sollen wir so Operationen durchführen und die Intensivstation aufrechterhalten?», fragt auch Hadad Mahmud, der Chefchirurg. Mahmud sagt, das Spitalpersonal versuche, mit den Machthabern im Gazastreifen und in Ramallah Kompromisse zu finden, um das Überleben der Patienten zu ermöglichen. Weil die beiden Lager nicht mehr miteinander sprächen, sei das aber schwierig.
Mahmud, der seit Jahren im Spital arbeitet und ebenfalls weder mit der einen oder anderen politischen Partei etwas zu tun haben will, kritisiert nicht nur die Boykottpolitik Ramallahs, sondern auch das Verhalten der Hamas im Gazastreifen. Korrupt seien beide Lager, sagt Mahmud; die Hamas stehle zwar nicht das Geld von den Leuten, wie das die Fatah-Administration mache, dafür besetze sie alle Stellen nur mit ihren Leuten. Schlüsselpositionen, wie beispielsweise die Direktorenstelle des Spitals, würden nicht öffentlich ausgeschrieben, sondern unter der Hand an Leute der Partei vergeben.
Politisch motivierte Personalpolitik
Vor einer Woche hat die Hamas Jumaa Sakka, einen Arzt, der auch als Sprecher des Spitals fungierte, festgenommen, verhört, wieder freigelassen und abgesetzt. Heute sitzt an seiner Stelle Hassan Khalef, ein Hamas-Mann, der gleichzeitig neuer Direktor des Spitals ist. Die Entlassung habe nichts mit Politik zu tun, behauptet Khalef. Man habe Sakka an seinen ursprünglichen Arbeitsplatz, die Chirurgie, zurückversetzen wollen, er habe dieses Angebot aber abgelehnt.
Dass das Spital heute von den neuen Herren des Gazastreifens kontrolliert wird, zeigt sich nicht nur an den neuen Gesichtern in den leitenden Positionen. Jeder, der im Spital Informationen einholen will, muss dafür eine Bewilligung beim Gesundheitsministerium einholen. Dessen Sprecher ist neuerdings Khaled Radi, auch er von der Hamas. Er sagt, dass der entlassene Arzt Fehler begangen habe. So habe er eine Pressekonferenz einberufen, ohne dafür eine Bewilligung beim Gesundheitsministerium einzuholen. Er habe die Legalität der Ernennung eines neuen Direktors in Zweifel gezogen. Auch habe er Mängel im Gesundheitssektor öffentlich kritisiert und damit die palästinensische Bevölkerung verängstigt. Und zu guter Letzt habe er Dokumente kopiert und entfernt, ohne das Ministerium zu fragen. Deshalb sei er von den Exekutivkräften verhaftet und verhört, aber nach wenigen Stunden auch wieder freigelassen worden. Dann holt Radi zu einem Rundumschlag gegen die Administration in Ramallah aus. Diese sei das wahre Übel und nicht die Hamas.