Im Gazastreifen glauben nur wenige an eine Lösung der Finanz- und Sicherheitsprobleme Anfang Februar haben sich die zwei palästinensischen Parteien Hamas und Fatah auf eine Einheitsregierung geeinigt. Damit ist im Gazastreifen weitgehend Ruhe eingekehrt. Doch kaum einer glaubt, dass die neue Regierung die alten Probleme, den Mangel an Geld und an Sicherheit, wird lösen können. Gaza, im April Mit der Unterzeichnung des Abkommens von Mekka und der Bildung der palästinensischen Einheitsregierung Anfang Februar hat sich der Machtkampf zwischen der Hamas und der Fatah vorerst beruhigt. Beide Parteien haben eingesehen, dass keine die andere besiegen kann. Aber die Wunden, die geschlagen worden seien, könnten jederzeit wieder aufbrechen, befürchtet Sami Abdelshafi. Der Berater lokaler und internationaler Organisationen hat wenig Vertrauen in die neue Regierung und schätzt ihre Erfolgschancen gering ein. «Die Kämpfe haben zwar aufgehört, aber was nützt uns eine noch so vollkommene Einheit, wenn der internationale Boykott anhält und die Israeli unsere Gelder zurückhalten?», fragt er rhetorisch und bezieht sich dabei auf die palästinensischen Steuergelder in der Höhe von 800 Millionen Dollar, die Israel seit einem Jahr zurückhält und die 70 Prozent des palästinensischen Haushalts ausmachen. Dauerbrenner innere Sicherheit Innere Sicherheit und das Ende des internationalen Boykotts stehen zuoberst auf dem Regierungsprogramm. «Wenn wir es nicht schaffen, Sicherheit im Gazastreifen herzustellen, werden wir alles verlieren», gibt sich der Regierungssprecher Ghazi Hamad, ein pragmatisches Hamas-Mitglied, überzeugt. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten seiner Meinung nach die mehrheitlich von der Fatah kontrollierten Sicherheitsdienste reformiert werden und ihre Mitglieder politisch ungebunden sein. Im Dienst der Sache stehen, das sei wichtig, und nicht im Dienst einer Partei. Die Idee der Umstrukturierung der Sicherheitsdienste ist nicht neu, sondern seit dem Tod des alten Präsidenten Yasir Arafat ein Dauerbrenner. Zurzeit stehen 65 000 Palästinenser in mehreren Organisationen im Dienste der Sicherheit. Wegen der Machtspiele ihrer Führer schaffen sie statt Sicherheit zusätzliches Chaos oder spielen eine Statistenrolle am Strassenrand. Von den 19 000 Polizisten beispielsweise besitzen weniger als 10 Prozent eine Waffe. Sie sind schlecht ausgebildet, ihre Ausrüstung ist ungenügend und veraltet, und sie wagen es nicht einmal, Verkehrssünder zu bestrafen, weil sie sich vor der Rache grosser Familien fürchten. Diese beherrschen in Gaza wie Kriegsfürsten ganze Quartiere. «Wenn die Polizei einen Drogendealer verhaften will, dann steht sie in manchen Fälle einer Familie mit mehreren hundert schwerbewaffneten Männern gegenüber. Deshalb gehen sie gar nicht erst hin, um ihn zu fassen», klagt auch Khaled Abu Hilal, der Sprecher des Innenministeriums. Für die Sicherheit ist das Innenministerium die Schlüsselstelle. Ihm sind die Polizei, die Präventive Sicherheit, die Zivilverteidigung und die Nationale Sicherheit angegliedert. Vom Hamas-Innenminister Said Siyam ging das Ministerium nun in die Hände des unabhängigen, aber von der Hamas vorgeschlagenen Hani Kawasmeh über. Trotz dem neuen Kopf hat sich im Ministerium und in der Rhetorik von Abu Hilal, der bereits unter Siyam Pressesprecher war, nichts geändert. Der Schreibtisch des Sprechers ist bis auf eine kleine palästinensische Flagge leer, in den Räumen des Ministeriums sitzen kaffeetrinkende Männer, und in den Gängen stehen ein paar Bewaffnete herum. Hausgemachtes Problem Der neue Minister müsse sich zuerst einarbeiten und die Lage analysieren, sagt der Sprecher. Er nennt die Probleme beim Namen: Erstens seien die Verantwortungsbereiche der einzelnen Sicherheitsdienste nicht klar definiert, zweitens seien diese schlecht ausgerüstet und agierten unkoordiniert, und drittens hätten Clans und bewaffnete Gruppen das Recht in den vergangenen Monaten gänzlich in ihre Hand genommen. Angesprochen darauf, dass er exakt dieselben Kernprobleme schon ein halbes Jahr zuvor genannt hatte, sagt Abu Hilal: «Die Antwort ist bitter, aber wir müssen eingestehen, dass unsere Sicherheitsprobleme hausgemacht sind. Statt für Sicherheit zu sorgen, kümmern sich einige unserer Führer ausschliesslich um die Durchsetzung ihrer Interessen und ihrer Macht.» Der neugegründete Nationale Sicherheitsrat solle die Probleme nun lösen, sagt Abu Hilal. Zudem denke man darüber nach, ein nationales Komitee zu bilden, das durch Gespräche Vertrauen zwischen den Parteien und den Familien aufbauen soll. Auch der Regierungssprecher Hamad spricht von einem Nationalen Versöhnungskomitee, in dem Parlamentsabgeordnete und Regierungsvertreter sitzen und das in Zukunft Vermittlerdienste zwischen Familien und Parteien anbieten soll. Ein solches Komitee mit Vertretern der zwei dominierenden politischen Parteien Fatah und Hamas besteht bereits; Hamad meint aber, man brauche angesichts der Dimension der Probleme ein neues, grösseres. «Kein Grund für den Boykott» Das zweite Problem der Palästinenser, den internationalen Finanzboykott, kriegt Hamad wie die anderen Beamten der Autonomiebehörde direkt bei seinem Lohn zu spüren; im vergangenen Jahr habe er umgerechnet nur 400 Franken erhalten. Mit 2,7 Milliarden Dollar beziffert Hamad das Defizit in der Kasse, aus der die Autonomiebehörde die Löhne der Angestellten und die laufenden Kosten finanziert. Die neue Regierung habe jedoch von überall aus der Welt positive Signale erhalten, meint Hamad optimistisch. In der EU ist man sich allerdings uneinig darüber, wie man der Einheitsregierung begegnen soll, und die USA wollen den Boykott so lange aufrechterhalten, bis die drei Bedingungen – Anerkennung aller bisherigen Abkommen, Anerkennung Israels und vollständiger Gewaltverzicht – erfüllt sind. Mit der Unterzeichnung des Mekka-Abkommens hat sich aus palästinensischer Sicht auch die Hamas auf die Achtung der bisher geschlossenen Verträge verpflichtet und sich der Forderung nach einem Staat innerhalb der Grenzen von 1967 angeschlossen und damit Israel implizit anerkannt. Hamad verweist zudem darauf, dass die Hamas gegenüber Israel eine Waffenruhe beachte und somit kein Grund zur Aufrechterhaltung des Boykotts bestehe. Bruch in der Hamas? «Heute gibt es keinen Unterschied mehr in der Ideologie von Fatah und Hamas. Beide streben einen Staat innerhalb der Grenzen von 1967 an, beide haben sich vom Widerstand verabschiedet, und beide haben kein klares politisches Programm, sondern betreiben eine Politik der Reaktion statt der Aktion», umschreibt Hazem Abu Shanab, Professor für Medien an der Azhar-Universität in Gaza, die Position der neuen Regierung. Hingegen sei eine zunehmende Spaltung innerhalb der Hamas zu erkennen, sagt Abu Shanab. Während sich der politische Flügel gemässigt gebe, werde der militärische Flügel gewaltbereiter und radikaler – eine Theorie, die Regierungssprecher Hamad vehement bestreitet. Könnten die Hamas-Politiker nicht bald Erfolge vorweisen, bestehe die Gefahr, dass sie den Einfluss auf ihren militärischen Arm, die Kassam-Brigaden, verlören und diese den Kampf gegen Israel in eigener Regie wiederaufnähmen, sagt Abu Shanab. «Als die Fatah noch an der Macht war, hat sie von Israel nichts bekommen, auch wenn alle Bedingungen erfüllt wurden, die man an sie stellte. Wieso sollte jetzt die Hamas etwas kriegen?», fragt Omar Shaban zur israelischen und amerikanischen Hinhaltetaktik. Shaban, ein Wirtschaftsberater, ist trotzdem zuversichtlich, dass der Boykott gegen die Palästinenser schrittweise gelockert werden wird. Nicht weil die Hamas gestärkt werden soll, sondern weil ein anhaltender Boykott nur dazu führen würde, dass die Hamas wieder in die Opposition und in den Widerstand ginge. Eine schwache Hamas an der Macht sei das Ziel der Übung, Finanzhilfe an der Regierung vorbeizuschleusen. «Die internationale Gemeinschaft will, dass unsere einzige Sorge das tägliche Überleben bleibt und wir keine Energie mehr haben für die grossen Forderungen nach einem eigenen Staat oder dem Rückkehrrecht für die Flüchtlinge.» Wie viele Palästinenser ist Shaban von den palästinensischen Politikern enttäuscht. Nicht nur hätten die Hamas-Politiker im Jahr ihrer Regierung nichts gelernt, auch seien mit der neuen Einheitsregierung die alten Fehler wiederholt worden: «Wieder wurden Leute auf Ministerposten gesetzt, die entweder keine Ahnung von ihrem Aufgabengebiet haben oder aber sich dem palästinensischen Volk nicht verpflichtet fühlen», kritisiert Shaban. Er meint zum Beispiel den Wirtschaftsminister Ziad Thatha, der ein Ingenieur-Diplom besitze und bisher nichts mit Wirtschaft zu tun gehabt habe, oder den Finanzminister Salam Fayyad, der dank seiner Arbeitserfahrung in der Weltbank viel Wissen besitze, den jedoch wenig mit dem palästinensischen Volk verbände. «Im heutigen Chaos brauchten wir eine Art Super-Politiker», sagt Shaban und sagt den Palästinensern nichts Neues voraus: «Mehr Geld wird aus dem Ausland kommen, aber die Spaltung in der Regierung wird wieder aufbrechen. Die politische Kultur der Verantwortungslosigkeit und Gleichgültigkeit wird auch in Zukunft eine Lösung unserer Probleme verhindern. Alles wird so weitergehen wie bisher: Verhandlungen, aber keine Resultate.»