Entführungen im Gazastreifen – Geschäft oder Politik? Mutmassungen über den Verbleib des verschleppten BBC-Korrespondenten Alan Johnston, der BBC-Korrespondent im Gazastreifen, ist vor einem Monat von Unbekannten in Gaza entführt worden. Die Unfähigkeit der palästinensischen Autonomiebehörde und von deren Sicherheitsdiensten, Johnston zu befreien, belegt den allgemeinen Zusammenbruch von Recht und Ordnung im Gazastreifen. Gaza, Anfang April «Free Alan», befreit Alan, steht in grossen Lettern auf einem Banner im Stadtzentrum von Gaza. Palästinensische Journalisten, Fotografen, Politiker und Studenten haben ein Zelt errichtet, in dem sie sich versammeln, um ihre Solidarität mit dem entführten BBC-Korrespondenten Alan Johnston zu bezeugen. Aus Lautsprechern dringen abwechselnd laute Musik, Lobreden auf Johnstons Arbeit und Aufrufe zu seiner Befreiung. Am 12. März war der 44-jährige Journalist von Unbekannten in Gaza entführt worden. Johnston, der wenige Tage später nach London hätte zurückkehren sollen, steht seit 1991 im Dienste der BBC. Er arbeitete als Korrespondent in Usbekistan und Afghanistan und lebt als einziger westlicher Korrespondent seit drei Jahren in Gaza. Seine Entführer haben sich bis heute nicht gemeldet und keine Forderungen gestellt. Am Sonntag versandten zwar die Tawhid und Jihad Brigaden, eine bisher unbekannte Miliz, eine e-mail an verschiedene palästinensische Journalisten. Diese besagte, dass die Brigaden Johnston getötet hätten. Die BBC verwies jedoch darauf, dass diese Nachricht bislang nicht bestätigt werden konnte. Beobachter in Gaza bezeichneten sie als Gerücht ohne Wahrheitsgehalt. Grosse Solidarität «Johnston hat unsere Probleme in die Welt getragen. Er war einer von uns», sagt Abdelhakim Awad, ein Sprecher der Fatah, der sich in der Runde der Männer im Zelt befindet. In den vergangenen Tagen haben sich palästinensische und ausländische Journalisten immer wieder zu Protestmärschen zusammengefunden und die Freilassung von Johnston gefordert. Dem Aufruf zu Solidarität haben sich auch die Politiker angeschlossen. So forderten Präsident Abbas und Ministerpräsident Haniya die Freilassung des Journalisten. Auch in Gazas Strassen und sogar bei den bewaffneten Gruppierungen, wie den Kassam-Brigaden der Hamas, ist die Empörung gross. «Ausländer sind unsere Gäste. Ihre Entführung ist absolut inakzeptabel», sagt ein Kassam-Führer im Jabalia-Flüchtlingslager. Trotz den allgemeinen Solidaritätsbekundungen werden Entführungen von Journalisten und ausländischen Mitarbeitern internationaler Organisationen im verarmenden Gazastreifen immer mehr als Geschäft betrieben. Im vergangenen Jahr wurden 18 Ausländer entführt, unter ihnen 6 Journalisten. Seit 2002 wurden 14 ausländische Journalisten entführt. Alle kamen innerhalb von wenigen Stunden oder Tagen wieder frei. Bei den Entführern handelte es sich um Clans und kriminelle Banden, die die Ausländer als Faustpfand benutzten, um die palästinensische Autonomiebehörde zu erpressen. Dabei forderten sie die Freilassung von gefangenen Familienangehörigen, eine Anstellung in der Autonomiebehörde und zunehmend auch Geld oder Waffen. Zur strafrechtlichen Verfolgung der Entführer oder zu Verhaftungen kam es bisher nie. Die Entführungen haben zur Folge, dass immer mehr ausländische Journalisten dem Gazastreifen fernbleiben und viele ausländische Organisationen ihr Personal abziehen. Eine besonders schmerzliche Entwicklung für ein Gebiet, das fast ausschliesslich von ausländischer Hilfe lebt. Sufian Abu Zaida, ein Fatah-Führer und ehemaliger Minister, der selbst Opfer einer Entführung geworden war, bezeichnet die Entführungen als Symbol für den Zusammenbruch von Recht und Ordnung im Gazastreifen. Dieser wird immer mehr von bewaffneten Clans, zersplitterten Sicherheitsdiensten und Milizen regiert. Jeder Familie ihre Privatarmee, jedem Sicherheitsdienst seinen eigenen Willen. Beinahe täglich werden in Familienfehden oder bei Kämpfen bewaffneter Gruppierungen Mitglieder der jeweils anderen Partei entführt. «Gaza war einst ein sicherer Ort. Jetzt haben wir zu viele Waffen und zu viele Verrückte, die Waffen besitzen, aber nicht schiessen können», kommentiert Ibrahim Adwan, ein lokaler BBC-Produzent in Gaza, die zunehmende Unsicherheit und Anarchie und erinnert an ein Beispiel der entfesselten Selbstjustiz im März. Damals feuerten bewaffnete Männer elf Kugeln auf das gepanzerte Auto von John Ging, dem Chef des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge (UNWRA) im Gazastreifen, der für die Korruptionsbekämpfung in den eigenen Reihen bekannt ist. Der Dughmush-Clan Viele glauben, dass der Dughmush-Clan für die Entführung Johnstons verantwortlich ist. Bewaffnete Männer des Clans hatten am 1. Januar dieses Jahres Jaime Razuri, einen Fotografen der Nachrichtenagentur AFP, entführt. Nach Angaben des BBC-Mitarbeiters Adwan wurde Razuri wieder freigelassen, nachdem die Familie einen Geldbetrag in unbekannter Höhe sowie 20 000 Gewehrpatronen und Waffen von der Autonomiebehörde erpresst hatte. Auch in die Entführung der Fox-Journalisten Steve Centanni und Olaf Wiig im vergangenen August war die Dughmush-Familie verwickelt. Die Journalisten wurden 13 Tage lang festgehalten und nach einer Zahlung in unbekannter Höhe wieder freigelassen. «Die Dughmush-Familie ist zwar nicht sehr gross, aber mit fünfhundert bewaffneten Männern gehört sie zu den stärksten in Gaza», sagt Hazam Abu Shanab, Medien-Professor an der Azhar-Universität. Seine Wohnung befindet sich im Dughmush-Quartier, einer Ansammlung von Hochhäusern im Osten von Gaza, das vom Clan beherrscht wird und in das sich kein Sicherheitsdienst traut. Solange er sich nicht mit der Familie anlege, habe er nichts zu befürchten, sagt Abu Shanab. Zakaria Dughmush, der Chef des Clans, pflegte gute Verbindungen zur Hamas, der er als Waffenlieferant diente. Die Beziehungen zur islamistischen Partei brachen jedoch ab, als zwei Familienmitglieder während gewaltsamer Zusammenstösse im vergangenen Dezember von Hamas-Kämpfern getötet wurden. Zakaria musste sich im anschwellenden Streit zwischen der Organisation und der eigenen Familie, die von der Hamas eine Entschädigung für die toten Familienmitglieder forderte, entscheiden. Er und seine fünfhundert bewaffneten Männer wählten die Familie. Im Gazastreifen laufen jetzt die Spekulationen um die Entführung von Johnston und die allfälligen Gründe dafür auf Hochtouren. «Nie ist ein Journalist länger als zwei Wochen gefangen gehalten worden», sagt der BBC-Produzent Adwan ratlos. Falls die Dughmush-Familie hinter der Entführung von Johnston stehe, könnte dies politische Motive haben, glaubt er. Zum Beispiel könnte es sein, dass die Familie die Hamas und die neue Einheitsregierung aus Rache für die fehlenden Zahlungen öffentlich blamieren wolle. Vielleicht aber wolle der Clan wieder ins Geschäft kommen mit der Hamas, brauche dazu ein Druckmittel und verhandle bereits im Geheimen. «Doch das sind alles Spekulationen», sagt Adwan, der mit zunehmender Frustration die Tage zählt. Dass die Regierung, die Autonomiebehörde und die Sicherheitsdienste bis jetzt nicht fähig waren, Johnston zu befreien, erklärt Khaled Abu Hilal, Sprecher des Innenministeriums, in einfachen Worten: «Unsere Sicherheitsdienste sind unfähig und schwach.» Auf dem Platz in Gaza, wo Journalisten und Politiker bei Ansprachen und Schweigeminuten Solidarität mit dem entführten Johnston zeigen, kommt auf einmal Unruhe auf. Ein älterer Herr in braunem Jackett und mit säuberlich zur Seite gescheiteltem Haar nähert sich mit einer Entourage bewaffneter Leibwächter dem Zelt. Der Mann heisst Abu Saleh Dughmush und gehört zu den Ältesten der gefürchteten Familie. Von der Entführung will er nichts wissen. «Unsere Familie verurteilt dieses Verbrechen. Wir schätzen Johnston sehr», rechtfertigt er sich. Die palästinensischen Journalisten strafen ihn mit verächtlichen Blicken. Solange Alan Johnston entführt bleibt, trauen sie keinen besänftigenden Worten, vor allem nicht solchen aus dem Munde eines Dughmush.