Das Flüchtlingslager Balata gilt als Keimzelle des palästinensischen Widerstands. Fast jede Nacht sucht die israelische Armee dort nach Mitgliedern der Al-Aksa-Brigaden. Wer gefunden wird, den erwartet der Tod oder das Gefängnis. Viele haben das Leben als Verfolgte satt. Naim fürchtet den Tod. Aber weil es keine andere Möglichkeit gebe, öffne er die Arme für ihn, um endlich befreit zu werden von diesem Leben, das ihm nichts zu bieten habe als ewiges Versteckspiel oder israelische Gefangenschaft. Der 24-Jährige wohnt im Flüchtlingslager Balata, im Norden des Westjordanlandes, neben der Stadt Nablus. Ein Kollege aus dem Lager hat ihn vor einem Jahr bei den Israeli verraten, seither wird er von der Armee gesucht. Nacht für Nacht spielen er und seine Kollegen von den Al-Aksa-Brigaden, dem militärischen Arm der Fatah, Katz und Maus mit der hochgerüsteten israelischen Armee. Schlaflosigkeit ist die ständige Begleiterin der Gesuchten. Nur am Tag oder im Morgengrauen schlafen sie ein paar Stunden. Keine Nacht ohne Schüsse und das Schnarren der Megaphone, wenn die israelischen Soldaten am Eingang des Lagers die Namen der Gesuchten aufzählen und sie auffordern, sich zu ergeben. Die 22 000 Palästinenser, die hier auf einem Quadratkilometer Land wohnen, sind Flüchtlinge und die Nachkommen derer, die 1948 bei der Gründung Israels vertrieben wurden. Die Zelte sind einem Dauerprovisorium gewichen: schlechtverputzte Betonbauten, eng aneinander- und übereinandergebaut wie Kaninchenställe. Am Morgen reparieren die Lagerbewohner kaputte Fenster und abgerissene Vordächer, die die nächtlichen Besucher hinterlassen haben. Lager-Hierarchie «Als ich ein Kind war, gab es keine Soldaten. Am Wochenende fuhren wir nach Akko an den Strand. Als ich älter wurde, arbeitete ich ab und zu in Israel. Bekam Handlangerjobs, aber gutes Geld. Dann brach die Intifada aus.» Seit Naim gesucht wird, hat er das Flüchtlingslager nie mehr verlassen. Zu gross ist das Risiko, von den Soldaten erwischt zu werden. Überall in den Strassen hocken arbeitslose Männer, rauchen und tratschen. Manche fahren im Schritttempo durch die Hauptstrasse und wieder zurück. Ahmed zum Beispiel, als Ahmed der Autodieb weit über Balata hinaus bekannt. Am Nachmittag hat er eine neue Ladung gestohlener Autos aus Israel gebracht. Auch einen roten Golf GTI, das gelbe Nummernschild noch nicht abmontiert, dröhnend der Bass aus den Boxen. «Wie wär’s mit einem kleinen Rennen heute Nacht? Balata-Nablus und zurück?» Naim sagt bloss: «So ein Auto, das wär’s, mit Vollgas über die Strassen brettern, auf dem Beifahrersitz ein hübsches Mädchen. Das ist Freiheit.» Naim übernachtet nicht mehr zu Hause, aus Angst, verraten und im Schlaf von der israelischen Armee überrascht zu werden. Er schläft auf der Strasse oder bei Freunden. Er hat seine Schuhe ausgezogen, das Gewehr in die Ecke gestellt, und mit seinen verkrüppelten, bandagierten Händen fingert er eine Zigarette aus der Schachtel. Bei einer Demonstration im Oktober 2002 wurde er von Kugeln der Israeli an Händen, Kopf und Schultern schwer verletzt. Er lag vier Monate im Koma, wurde für Operationen nach Jordanien, Saudiarabien und später nach Österreich transportiert. Als er Ende 2003 ins Flüchtlingslager zurückkehrte, waren viele seiner Freunde tot oder im Gefängnis. Naim verkroch sich, wurde depressiv. Seine Cousins hatten die Plätze der Erschossenen eingenommen und waren in der Lagerhierarchie zu neuen Führern der Al-Aksa-Brigaden aufgestiegen. «Jedes Mal, wenn ich von Nablus nach Ramallah reisen wollte, wurde ich stundenlang an den Checkpoints festgehalten und über meine Cousins ausgefragt. Irgendwann empfand ich nur noch ohnmächtige Wut, weil mein Leben ruiniert ist.» Naim sagt, es sei eine Erleichterung, Teil der Brigaden zu werden, ein Gewehr zu haben und auf die schiessen zu können, die sein Leben und das der Freunde und der Familie zerstört hätten. «Die Brigaden hier, das ist die einzige Aufstiegsmöglichkeit im Lager, die einzige Möglichkeit, ein Mann zu sein», sagt Naims Freund. «Auf einmal bist du ein kleiner König. Über dein Leben bestimmen die Israeli, aber du kannst über Leben und Tod von anderen richten.» Der Richtplatz ist direkt neben dem öffentlichen Ofen des Lagers, wo die Leute ihre Töpfe mit Huhn und Kartoffeln hinbringen. Vor ein paar Monaten haben die Al-Aksa-Brigaden in der Nacht einen Mann an die Wand gestellt und mit Dutzenden von Schüssen getötet. Sie liessen ihn liegen, zur Abschreckung. Naim hat die Exekution mit seiner Handykamera aufgenommen. Gerecht sei die Strafe gewesen. Der Kollaborateur habe einen seiner Freunde an die Israeli verraten. Nachts seien die Soldaten gekommen und hätten seinen Freund erschossen. Das sei nur mit Hilfe eines Spions möglich. Jeder könnte ein Spion sein. Eine Arbeitsbewilligung, eine Bewilligung für den Checkpoint, Geld, Sex, ein Auto, ein Handy – alles sei erhältlich von den Israeli im Tausch gegen Informationen. Naim sagt: «Er kam zur Beerdigung meines Freundes, sass da mit ängstlichem Blick. Wie er sich damit verraten hat! Wir haben ihn eingesperrt, verhört, ihn gezwungen, den israelischen Captain anzurufen. Sein Geständnis haben wir gefilmt. Er sagte, seine Schwester in Bethlehem sei mit einem Spion verheiratet. So habe er eine Israeli kennengelernt, mit ihr Sex gehabt. Das habe jemand gefilmt, und sie habe ihm gesagt: » Wer ein schwaches Herz habe, der müsse dafür bezahlen, sagt Naim. Hätten sie ihn nicht getötet, hätte er sie umgebracht. Sie schicken andere los, um in Israel zu töten. Zum Beispiel Zeinab Abu Salem, eine 17-jährige Palästinenserin aus dem benachbarten Al-Askar-Flüchtlingslager. Am 22. September 2004 hat sie sich in Jerusalem in die Luft gesprengt. Zwei Polizisten starben, sechzehn Personen wurden verletzt. Jetzt, zwei Jahre nach dem Attentat, sitzt Zeinabs Mutter still auf dem Sofa in ihrem Haus und wiegt den Oberkörper vor und zurück. Im Lager munkelt man, sie sei nach dem Tod ihrer Tochter verrückt geworden. Zur Strafe für das Attentat hatte die Armee das Haus gesprengt. Der Familie bleibt Zeinabs Tat unbegreiflich. Nie habe das Mädchen, das kurz vor dem Soziologiestudium stand, alleine das Haus verlassen. «Wir wissen nicht, was in Zeinab vorging», sagt ihre Tante Salwa. Die Al-Aksa-Brigaden übernahmen die Verantwortung für das Attentat. Sie liessen Poster drucken, mit einem Bild von Zeinab, das Gewehr im Anschlag, und darunter eine kleine Foto von Zeinabs abgetrenntem Kopf, der in einen weissen Schleier gehüllt am Boden liegt. Männer der Brigaden haben Zeinabs Vater Hilfe versprochen, ihm eine Schachtel Poster gebracht, damit er sie an die Hauswände des Flüchtlingslagers kleben könne, sichtbar für alle. Zeinab, die «Märtyrerin». Zeinabs Tante hat die Poster in einen Schrank geräumt, das Bild mit dem Kopf weggeschnitten. Die Männer der Brigaden haben sich nie mehr gemeldet. Zorn spricht aus Salwas Augen und aus ihrer Stimme: «Sie haben unsere Zeinab gestohlen. Sie haben sich mit ihrem Tod gebrüstet. Doch wo waren sie, als unser Haus gesprengt wurde?» Müde Helden «Eines Morgens stand Zeinab bei uns in der Altstadt. Sie flehte Fadi an, er möge sie schicken und zur Märtyrerin machen. Fadi wollte zuerst nicht, doch sie blieb stur. Zehn Tage zuvor hatte die Armee ihren Freund erschossen. Er war einer von uns, ein Gesuchter. Natürlich wusste Zeinabs Familie nichts von ihrer Liebe und nichts von ihrem Vorhaben. Als Fadi ihr den Sprengstoffgürtel anklebte, machte sie noch Witze. So sehr war sie überzeugt, dass dies der richtige Weg war, ihren Freund zu rächen. Dann brachte sie jemand nach Jerusalem. Später gab Fadi zu, dass es ein Fehler war, ein Bild ihres abgetrennten Kopfes auf das Poster zu drucken. Es sah nicht schön aus.» Yasser (Name geändert) hockt vor einem Grab auf dem alten Friedhof von Nablus. Ab und zu reibt er sich die müden Augen. Fadi, der 29-jährige Anführer der Al-Aksa-Brigaden in Nablus, liegt im frisch aufgeschütteten Grab. Am 31. August haben ihn die israelischen Soldaten mit gezielten Schüssen in die Brust getötet. Einige Tage zuvor habe Fadi sein eigenes Poster gemacht, erzählt Yasser. Auf dem Poster Fotos von Fadi in einem israelischen Kampfanzug, das Gewehr hochgestemmt, der Körper aufgedunsen vom Kortison, das er einnehmen musste, seit er bei einer Explosion eine Hand verloren hatte. Fadi habe sich angezogen wie die israelischen Kampfsoldaten, habe ihre Gewohnheiten gekannt wie sie die seinen. Über den Fotos steht in grossen Lettern: «Das Paradies wird denen versprochen, die für Gott kämpfen.» Fadi war nie religiös. Er liebte den Alkohol und die Frauen. Gekämpft hat er nicht für Gott, sondern um seiner Wut und seiner Frustration Ausdruck zu verleihen. Das sagte er selbst, als er noch lebte. «Niemand von uns will sterben. Aber wenn’s nicht anders geht, dann wenigstens als Held», sagt Yasser, der geholfen hat, die Poster in Nablus aufzuhängen. Als die Intifada ausbrach, verlor Yasser seine Stelle in der Kleiderfabrik einer israelischen Modekette. Heute studiert er Wirtschaft an der An-Najah-Universität in Nablus. Er gehe nur selten an die Uni und dann vor allem, um Mädchen zu sehen. «Wir waren eine ganze Gruppe von Freunden. Alle auf einmal ohne Job, ohne Zukunft. Die Invasionen begannen, die Tötungen. Wir begannen uns zu wehren. Was blieb uns anderes übrig. Die, die verhaftet wurden, verrieten die anderen. Und dann bist du auf einmal ein Gesuchter, und dein Leben gleicht dem einer Wildkatze im Käfig.» Zum Überleben hätten sie ein wenig Geld von der palästinensischen Autonomiebehörde erhalten, aber seit dem internationalen Boykott komme auch das nicht mehr. Geld für den Sprengstoff und für Waffen hätten sie aus dem Ausland erhalten, zum Beispiel vom Hizbullah, sagt Yasser. Fadi selbst hat das stets bestritten. Der Geist des Widerstands ist bei Yasser erloschen. Selbstmordattentäter aus den Reihen der Al-Aksa-Brigaden werden seit Monaten keine mehr losgeschickt. Innerhalb der Aksa werde über den Sinn von Selbstmordanschlägen diskutiert. Alle seien sie müde, sagt Yasser, hätten die ständige Angst, das Versteckspiel satt. «Irgendwann fühlst du nichts mehr. Liebe, Hoffnung, Tod, alles wird zu einem grauen Brei, und du sehnst dich nur noch danach, wieder einmal zu Hause schlafen zu können.»