WIEDER IN GAZA. An einem Nachmittag Anfang August bin ich zurückgekehrt, nach einer Zeit der Ruhe und der Distanz. Panzer stehen gleich nach der Grenze auf den Hügeln, ihre Rohre auf die ersten Dörfer gerichtet. Von Gaza-Stadt her rollt ein israelischer Bulldozer Richtung Grenze. Warten, bis er vorbei ist. Stundenlang warten, bis die Armee dem Taxifahrer erlaubt, auf der demolierten Strasse zu fahren. Niemand, der nicht zu sterben bereit ist, wagt sich in die Frontlinie zurzeit.
Am Abend stehe ich allein auf der Terrasse, auf der wir, der Fotograf und ich, im Frühling jeweils zugesehen haben, wie die Sonne ins Meer tauchte. Damals schaukelten nachts Hunderte von Fischerbooten wie ein Schwarm Glühwürmchen auf dem Meer. Heute ist das Meer schwarz, auch die Stadt liegt im Dunkeln. Vieles ist anders geworden, seit palästinensische Kämpfer Ende Juni einen israelischen Soldaten entführten. Die israelische Armee hat sich im Gazastreifen ganz selbstverständlich ausgebreitet. Der Krieg mit seinen Panzern und Bulldozern sucht sich alle paar Tage ein neues Dorf, ein neues Stadtviertel. Wenn sie weiterziehen, bleiben Frauen und Kinder und Männer in den Trümmern ihrer Häuser zurück. Strassen werden unter den Panzerketten zu Schuttpisten. Wo sich einst Felder, Gemüsegärten, Olivenhaine, Gewächshäuser befanden, erzählen nur noch Baumstrünke und kaputte Wasserleitungen von dem, was war, ehe die Bulldozer alles platt walzten. «Kommen sie heute Nacht wieder?», fragen die Kinder. Das Meer ist eine militärisch gesperrte Zone, die Fischer können ihre Netze seit Wochen nicht mehr auswerfen. Vor einigen Tagen sind die Panzer in den Süden des Gazastreifens vorgerückt. Die Menschen fliehen. Nicht weit, die Grenzen sind ja geschlossen, aber bis in die Schulen der Vereinten Nationen, die Schutz bieten sollen. Jeden Tag Trauerzüge in den Strassen. In den Spitälern werden immer öfter Gliedmassen amputiert. Die Ärzte sagen, noch nie hätten sie solche Verletzungen durch Granaten gesehen: Ganze Körperteile seien verbrannt. Und die Kampfflugzeuge, sie haben Brücken und Häuser und das Elektrizitätswerk zerstört. Wegen der Terroristen, heisst es. Strom gibt es, wenn überhaupt, bloss in knappen Rationen. Regelmässig ist nur das Brummen der Generatoren. Und das Einschlagen der Panzergranaten.
Das war allerdings schon so, als wir noch zusammen hier waren. Damals, im April, standen wir auf dieser selben Terrasse, die Luft war noch kühl, atemraubend der Blick übers Mittelmeer. Und wir waren froh, nach Wochen und Monaten der Vorbereitungen, des Pläneschmiedens, endlich hier zu sein. Vor uns ein Zeitraum für Zusammenarbeit, noch nicht fest begrenzt, Monate vielleicht. Wir wollten viel. Den Eindrücken von Zerstörung und Hoffnungslosigkeit wollten wir trotzen und versuchen, von Inseln des Glücks zu erzählen. Eine Gratwanderung in Zeiten des Krieges.
CAFé HUSAM NUMMER ZWEI, IM APRIL. Eines der vielen Cafés, die den Strand von Gaza in eine Oase verwandeln. Die Menschen haben die Winterkälte abgeschüttelt und sind mit Wasserpfeifen, Picknickkörben und plärrenden Kindern unter die Sonnenschirme zurückgekehrt. Jeden Freitag drängen sie sich zu Tausenden am Strand, als ob der freie Blick aufs Mittelmeer das Gefangensein vergessen liesse, die Abkühlung in den Fluten den Krieg für Stunden wegspülte. An Wochentagen werden manchmal ganze Schulklassen an den Strand gefahren. Mädchen in blauen Schuluniformen und weissen Kopftüchern verwandeln sich in Muschelsucherinnen. Buben schlagen einander Schalen von Wassermelonen über den Kopf, andere zerren einen Esel am Schweif ins Meer. Ein paar Männer hoch zu Ross überholen ein Arbeitspferd, das den verebbenden Schaumkronen entlang eine Karre zieht. Darauf bunte Schwimmringe neben einem Topf mit Maiskolben, die ein Alter mit lautem Rufen feilbietet.
Unter einem Palmdach hält Hanan ihr Töchterchen auf den Knien. Sie schält Zwiebeln, steckt sie auf Spiesse, klebt Lammkebab daran. Später trägt sie die Spiesse vor das Strandhaus. Ihr Mann wendet das Fleisch über der glühenden Kohle. Nach dem Essen macht wohlige Entspannung sich breit. Leise blubbert die Wasserpfeife. Hanan weist mit dem Daumen auf einen jungen Mann, der Fruchtsäfte verteilt: «Siehst du ihn? Er liebt meine Freundin. Sie haben sich vor einem Jahr hier kennen gelernt. Manchmal steht er nachts vor ihrem Fenster, oben im Norden, in Scheich Zayed. Sie wollen heiraten, aber ihm fehlen die 2000 Dinar Brautgeld. Ihre Mutter weiss von nichts; sie drängt die Tochter, es sei an der Zeit, sie solle sich endlich einen der Männer aussuchen, die alle paar Wochen vorbeikommen.»
Bei uns ist das anders. Wir sind frei. Ich sage, dass die Zeit an diesem Ort nur mit Liebe zu überstehen sei. Er sagt, dass an einem solchen Ort alle Aufmerksamkeit der Arbeit, dem Umfeld gehört und nicht der Liebe.
FREITAGSPICKNICK IM NORDEN. Am Nachmittag des 9. Juni. Blut hat den Sand kupferrot verfärbt. Nach der Explosion hat jemand die Picknickdecke aufgehoben und sie ein paar hundert Meter weiter weg über einem Fischerboot zurechtgezupft. Auf der Decke liegen Sandalen, ein Becher, eine zerbrochene Schüssel, ein Teller, mit Essensresten und Hautfetzen besudelt, Granatsplitter, säuberlich aufgereiht. Ein makabres Stillleben. Überbleibsel der Explosion, sagt jemand. Ein Mädchen hat überlebt. Es schwamm im Meer, als seine Eltern und fünf Geschwister getötet wurden. Ein Mann starrt auf die Kriegsschiffe draussen vor der Küste, dann auf das Einschlagloch der Panzergranate. Er wird nicht hören wollen, er wird nicht verstehen, dass die israelische Armee später sagt: Wir waren das nicht.
Die Toten werden gekühlt. Kinderkörper in bunter Freitagskleidung. Zwei auf einer Bahre. Kinderköpfe, offen. Blick auf ein halbes Gehirn. Wo ist das Schädeldach? Eine faustgrosse Öffnung, gezackt wie ein Scherenschnitt. Wieso hat niemand das Blut abgewischt? Ein Onkel, der auf die Zähne beisst. Der Vorwurf in seiner Stimme ist nicht zu überhören: «Siehst du es? Hast du hingeschaut?» Das Neonlicht blendet. Die Kühlschränke brummen. Dieser Wunsch, die Bilder aus der Erinnerung zu reissen, sie dann aufzuwischen und wegzuspülen, wie Erbrochenes.
Manchmal in der Nacht blicke ich in den Kinderkopf. Dann stehe ich auf, trete an den Rand der Terrasse und schaue auf die Strasse. Dort haben sich Männer versammelt, die streiten. Sie werden immer zahlreicher, immer lauter, bis einer zu schiessen beginnt. Ich zähle die Kugeln und denke bei jeder fünften: Für das Geld hättest du ein Kilo Fleisch kaufen können.
Anderntags eine Beerdigung. Männer stemmen den Toten wie eine Trophäe in die Luft. Wenn sie auf ihrem Weg zum Friedhof in die Luft schiessen, knie ich hinter einer Wand. Es ist nicht so, dass die Angst kleiner würde, je mehr Gewehrschüsse man hört. Auch grösser wird sie nicht. Nur unkontrollierbar.
HAST DU DIE TOTEN AM STRAND GESEHEN? Träumst du von ihnen? Magst du die Israeli? Mein Vater hatte Probleme mit ihnen. Liebst du Gott? Was heisst Gewehr auf Englisch? Wo wohnst du? Unten am Meena? Dann musst du viel Geld haben. Bist du schon einmal bis nach Ägypten gereist? Mein Vater war dort. Er hat Sandalen mitgebracht. Nein, ich war noch nie weiter als bis zum Wadi neben Gaza. Am Freitag gehen wir dort picknicken. Meine Mutter bringt Saft mit. Als die Siedler hier waren, haben die Soldaten einmal geschossen. Wir sind weggelaufen. Den Saft haben wir mitgenommen. – Kinder plaudern im Vorhof der alten Moschee. Man sagt, sie sei 1500 Jahre alt, habe allerlei Kriegen getrotzt. Die Ruhe darin ist unbeschreiblich. Als ob sie konserviert worden wäre, herübergerettet aus früheren Zeiten, als Gaza ein Handelszentrum war, aufbewahrt für diese Zeiten des Krieges.
Gott ist gross, ruft der Muezzin durch die Lautsprecher, die wie falsche Ohren am kunstvoll verzierten Minarett hängen. Männerkörper, die sich im Gebet beugen, mit der Stirn den Boden berühren; andere liegen gekrümmt auf den ausgetretenen Teppichen, halten Mittagsschlaf. Hamsi und Mohammed kommen jeden Tag hierher, um zu spielen. Barfuss klettern sie auf das Holzgerüst. Wer mehr Mut hat, klettert höher und springt dann auf den Kiesplatz. Dieser liegt zwischen den Steinmauern und der langen Treppe, die hinaufführt zur Altstadt mit ihren verwinkelten Gassen. Erst dort beginnt der Alltag, in dem die Ruhe keinen Platz findet.
Kinderspiel in Beit Hanun: Samer hält seinem Freund eine Spielzeugpistole an die Stirn. Er sagt «klack», doch der andere bleibt reglos stehen, bis Samer in Tränen ausbricht und schreit: «Leg dich hin, du bist tot!» Die Spielzeugpistole ist farbig und hat ein auswechselbares Magazin. Am Lauf ist sie kaputt. Samer hätte lieber so ein grösseres schwarzes Plasticgewehr, wie es die Knaben im Flüchtlingslager in Jabaliya haben. Diese Gewehre gleichen den M16 der israelischen Soldaten, nicht so wie seines, das rot und grün und lustig ist, als ob der Krieg ein Spiel wäre. Wenn die Kinder weg sind, bleibt Samer im Haus. Nie ginge er ohne seinen Vater auf die Strasse, wo er sich fürchtet vor denen mit den richtigen Gewehren.
KEINE GEWEHRSCHÜSSE, nur der regelmässige Aufschlag von Artilleriegranaten am äusseren Rand von Beit Lahiya. Vor uns eine Senke mit Elektrizitätsmasten, die Drähte von einer Granate zerrissen. Einer, der sie reparieren wollte, hat den Versuch nicht überlebt. Der trockene dunkle Klang beim Abschuss irgendwo an der israelischen Grenze, das Sirren, wenn sie über die Häuser hinter uns und über uns fliegt. Es nützt nichts, die Hände an die Ohren zu drücken und die Augen zu schliessen. Die Staubwolke über der Ebene bleibt lange hängen. Dann das Aufschlagen der Splitter in der Wand hinter uns – was zum Teufel macht er da! Er rennt über die Strasse, dorthin, wo die Granate eingeschlagen hat. Dort bleibt er geduckt hinter einem Erdwall, die Kamera mit dem Körper schützend, als die nächste Granate einschlägt. Ich lehne an der Innenwand des Quartierladens. Wortlos schaue ich den Ladenbesitzer an. Wortlos gehe ich zu den Beduinen zurück. Als er im Türrahmen steht, ist er ausser sich. Ich verstünde seine Arbeit nicht. Es stimmt, ich muss nicht alles sehen, um diesen Krieg zu beschreiben. Doch er ist Fotograf. – In der Nacht zählt er die Sekunden zwischen den Einschlägen. Ich liege starr. Wie ein Körper, der mit jedem Granateinschlag zu einem löchrigen Stück Haut verkommt. Durch die Löcher fallen die Gedanken, die Gefühle und die Kontrolle über sie. Es dauert nur wenige Wochen, bis ich mir fremd bin, weil zu viel von dem herausgefallen ist, was hinter der Haut liegt.
AUF EINER TERRASSE IN GAZA: eine Mutter, die einen roten Teppich einschäumt. Ein Knabe wirft seinen Drachen in die Luft, zupft am Faden, lässt ihn schnell von der Rolle laufen. Der Wind kommt vom Meer, trägt den blauen Drachen hoch in den Himmel, bis der Faden abgespult ist. Wie stolz er ist, der Bub. Dann wird der Drachen von einer Böe erfasst und stürzt auf den Taubenschlag.
In seinem Taubenschlag sitzt Omar auf einem umgestülpten Futtereimer. Er lächelt verklärt, wenn er den Blick über die Tauben gleiten lässt. Dieser kleine Mann mit den düsteren Augen ist Sicherheitschef einer Schule in Gaza. Nie verlässt er sein Haus ohne Maschinengewehr. Man wisse ja nie. Der Ort hier, er werde zur Hölle fahren, vor allem jetzt mit der neuen Regierung, die das Ausland und Israel nicht wollten. «Sie werden einen Vorwand finden, um auf uns und unsere Institutionen zu schiessen. Und dann, wenn wir keine Regierung mehr haben, dann wird sich die innere Gewalt ausbreiten wie die Blattern oder die Pest.»
So spricht er, als er noch nicht unter seinen Tauben, sondern auf der Hollywoodschaukel in seinem Garten sitzt. Auf dem Tisch steht sein Funkgerät: Zwei Raketen von Beit Hanun abgefeuert; die israelische Armee richtet zwei Panzergeschütze auf Beit Hanun aus. Das sind die Neuigkeiten, die Omar müde machen oder krank, wie er selber sagt. Doch was soll man machen in diesem Nicht-Land, in dem sich die einen in die Religion, die anderen in den Alkohol und die Dritten in den Wahnsinn stürzen? Was tun, wenn man sieht, wie sich Cousins wegen fünfzig Schekel bekämpfen und Familien vor die Hunde gehen? Die Religion, die sich gleichmässig mit der Armut verbreitet hat, ist nicht Omars Sache. Auch Alkohol nicht. Omar kauft sich Kleider und Shampoo, mit dem er seine Siamkatze wäscht, damit ihr Fell seidig bleibt. Manchmal zündet er sich einen Joint an, um dann die verdreckten Treppen zum Dach emporzusteigen, auf dem zwei Taubenschläge stehen. Zwischen den balzenden, brütenden, gurrenden, scheissenden Vögeln bleibt er sitzen, manchmal stundenlang. «Schau, das ist die Mutter von dem Grauen dort drüben», sagt er, «und dort auf der Stange sitzt sein Bruder. Und diese dort, sie ist seit drei Tagen verschnupft. Wetterumschwung.» Er nimmt einen Vogel in die Hand, ganz zart, trägt ihn aus dem Käfig und wirft ihn hoch in die Luft, wo das Tier zu fliegen beginnt.
SIE FLIEGEN ÜBER GAZA. Wir rennen auf die Terrasse, tasten mit den Augen den Nachthimmel nach ihren Spuren ab, während wir dem Knattern der Rotorblätter lauschen. Man sieht sie nicht. Wie viele sind es? Wahrscheinlich zwei. Wo fliegen sie hin? Wen suchen sie? Werden sie schiessen? Da! Wie rote Pfeile, die Raketen aus ihrem Bauch, die auf Gaza niedersausen. Der Frost auf einmal, der Frost über meinem Körper, der geschüttelt wird von der Vision zerfetzter Leiber. Die Sehnsucht, mich in einem Netz von Geborgenheit wiederzufinden. Er steht am anderen Ende der Terrasse. Schaut konzentriert in den Nachthimmel. Stille in den Stunden der Schlaflosigkeit. Wir haben aufgehört, miteinander zu sprechen. Das Einzige, was uns verbindet, ist die Einsamkeit.
Ein Haus brennt. Man sieht die Rauchsäule weit draussen vor dem Jabaliya-Flüchtlingslager. Woher sie kommen, die Menschen, all die Männer mit ihren Waffen, die neben den Eselskarren mit ihren Schrottladungen und den hupenden Autos zur Rauchsäule drängen, bis für Autos und Esel und auch für die Ambulanz und die Feuerwehr kein Durchkommen mehr ist. «Ein Helikopter hat eine Rakete auf einen Jeep gefeuert!», schreit der Knabe, der dem Rauch entgegenläuft. Wie viele Tote? «Einer, zwei, vielleicht drei.» Wer? «Ich weiss es nicht.» Was rufen die Leute? «Märtyrer!» – «Tod den Israeli!» – «Gott ist gross!» Und da, der Jeep. Da, die Vorderräder, ein Teil der Kühlerhaube und dann nichts mehr, bloss das Loch, das den Jeep und die Insassen in sich hineingesogen hat.
«HAST DU GEHRT: Zwei hat’s erwischt unten in Jabaliya.» – «Einer Hamas, einer Islamischer Jihad.» – «Und die Kinder, die daneben standen?» – «Da waren keine Kinder.» – «Aber vor zwei Wochen, gleich nach den Märtyrern vom Strand, da waren Kinder. Die erste Rakete traf ein Auto auf der Salah-ad-Din-Strasse, die zweite die herbeigelaufenen Leute.» – «Ich hab’s auch gehört. Elf Märtyrer. Auch ein Vater mit seinen zwei Söhnen.» – «Von welcher Familie?» – «Al-Mughrabi, der am Kreisel Zuckerwatte verkauft.» – «Hatte nicht sein Nachbar, der jüngste Sohn . . .» – «. . . er wurde vor zwei Wochen von einer Kugel getroffen, als die Männer bei der Hochzeit der Cousine in die Luft schossen. Die Kugel fiel ihm auf den Kopf.» – «Ya haraam! Die arme Mutter, Gott behüte sie.»
Frauengespräche im Coiffeursalon in Beit Hanun. Auf den Bänken an den Wänden sitzen Junge und Alte und warten, bis eine der beiden Coiffeusen Zeit für sie findet. Geschnatter, Kindergeschrei, Scherengeschnipsel, das Summen der Föhne, der Geruch von Enthaarungswachs. Hier, hinter den Glasscheiben, die mit weisser Farbe übermalt sind, knöpfen die Frauen ihre Jilbabs auf, nehmen das Kopftuch ab, entblössen hennarotes oder graues Haar, tratschen über Neugeborene, Schnäppchen, die jüngsten Toten. Nur einmal verstummt das Stimmengewirr; die Frauen drängen sich zwischen die ausgestellten Hochzeitskleider im oberen Stock an die unbemalte Glasscheibe, binden hastig die Tücher um den Kopf. Auf der Strasse wird geschossen. Kehllaute, Schimpfen, Gebrüll. Männer, die sich prügeln. «Der mit der Lederjacke, siehst du ihn? Er hat die Rechnung in der Autogarage nicht bezahlt, deshalb hat der Garagenbesitzer seine Cousins und Brüder und Onkel geholt, um ihn zu verhauen. Jetzt hat auch er seine Familie geholt.»
NEIN, JACK DANIEL’S habe er seit seinem Besuch in Frankreich nicht mehr getrunken. Seit Beginn der zweiten Intifada wird Alkohol in Gaza nicht mehr öffentlich verkauft. Damals zündete eine wütende Menge das Restaurant Windmühle an. Einen Akt der Ignoranz nennen es die Männer im Reitklub, andere sagen, der Islam verbiete den Alkohol. Spätestens damals wurde allen klar, dass es klüger ist, nur noch zu Hause zu trinken. Auf dem Schwarzmarkt wird zwar noch Alkohol verkauft, aber die Preise sind hoch, 120 Franken für eine Flasche Whisky. Am Geld soll’s nicht liegen, sagen die Männer, aber die geschlossenen Grenzen haben auch den Schwarzmarkt ausgetrocknet.
Im Reitklub im Norden des Gazastreifens, wo die Hürden für die Springturniere unverrückt im Sand stehen, auch wenn seit Monaten kein Turnier mehr durchgeführt wurde, spricht Mann über Whisky, über die schlechten Geschäfte und über Mätressen. Die Frau von Samir hat einen Topf voll Maklube, Reis mit Huhn und Kartoffeln, gekocht. Die Frauen sind zu Hause geblieben, sie haben die Speisen abgepackt, Oliven und Naschwerk bereitgemacht und alles in den Jeep gestellt. Die Männer, Ärzte, Businessmen, Funktionäre und ihre Söhne, haben sich im Reitklub die Körbe von den Stallburschen über den grünen Rasen tragen und auch die Gamaschen und Reitgerten bringen lassen. Nach dem Essen haben sie sich die Finger geleckt und gerufen: «Ahmed, sattle die Pferde!» Der Reitlehrer, die Gerte zwischen den Ellbogen und die Rippen geklemmt, lässt unbarmherzig seine Reitschüler Runde für Runde den Trab aussitzen. Er sagt, die Pferde seien besser als Menschen, besser als diese gefährlichen Kreaturen auf zwei Beinen, die ihre Panzer und Flugzeuge losschickten, und auch besser als alle, die hierher kämen und die Pferde wie Sklaven behandelten oder als Spielzeug.
Samir besitzt Cäsar, einen Prachtsschimmel, seit sieben Jahren. Langsam reitet er mit seinen Kollegen aus dem Klub hinaus, vorbei an den Beduinen, die er nicht grüsst, vorbei am verlassenen Reitplatz von Arafat, bis an den Strand. Er reitet nicht rechts entlang, wo der menschenleere Strand sich als Rennstrecke anböte, sondern biegt links ab, reitet mitten durch die Leute, die sitzen und staunen ob den stolz im Sattel thronenden Männern und den edlen Tieren. Samir kehrt früh zurück: «Die Hämorrhoiden schmerzen.» Er telefoniert mit der stark geschminkten Frau, die als Bildschirmschoner auf seinem Handy leuchtet. Das ist Liebe, sagt er. Sie habe nichts mit der Ehe zu tun, in der eine Frau Kinder gebäre und Maklube koche. Die Geliebte jedoch erfülle seine Sehnsüchte und romantischen Träume, sie sei die Leidenschaft selbst.
Samirs Liebesbeziehung sei zerstörerisch und krank, sagt ein Freund von Samir. Sie widerspiegle die Hölle von Gaza mit ihren winzigen Fetzen Himmelsblau. An die Himmelsfetzen klammert man sich, selbst wenn die nächste Wolkenwand bereits sichtbar ist. In diesem Umfeld wirkt Liebe wie eine Fratze, deren Lächeln sich zu einem schiefen Grinsen verzerrt. Ehepaare werden nicht selten zu Feinden, die sich sinnlos bekämpfen. Als Einziges überlebt die Erinnerung an eine Zeit, in der alles besser war, und die Hoffnung, dass es wieder so werden könnte.
Gegen Ende Juni verlassen wir den Gazastreifen. Unserer Ausreise steht nichts im Weg. Eine Freiheit, von der die Menschen, die wir dort zurücklassen, nur träumen.