Seit Mitte März wird der Gazastreifen mit Panzerartillerie und Raketen beschossen. Seit Mitte März haben die Angestellten der Autonomiebehörde keinen Lohn mehr erhalten. Nahrung hat es noch genug. Aber die Leute haben kein Geld mehr, sie zu kaufen. In Salah Salims Wohnung stinkt es nach Pisse. Gestank der Angst. Wieder ein Raketenabschuss, ein Bang, wie entferntes Donnergrollen. Man sieht die Panzer von Salims Wohnung an der Peripherie von Beit Hanun im Norden des Gazastreifens nicht. Aber kein Zweifel, sie sind dort, irgendwo an der Grenze, schiessen Rakete um Rakete, manchmal im Minutentakt, kaum genug Zeit, um sich auf den nächsten Einschlag vorzubereiten, sich zu fragen, wo der nächste Krater entstehen wird. Salims drei kleine Kinder klammern sich mit einer Hand an die lahmen Beine ihres Vaters, die andere Hand auf das Ohr gepresst, das Sirren der Rakete über dem Haus, dann der Einschlag, gewaltig, so dass das Haus zittert, wie bei einem Erdbeben. Salah fährt seinen Rollstuhl an die Wohnungstür, öffnet sie einen Spalt breit und zeigt auf die Staubwolke, die über dem Einschlagskrater, fünfzig Meter von den Häuserblöcken entfernt, in den Himmel stiebt. Schnell schliesst er die Tür wieder. Gefährlich wird’s erst jetzt, Sekunden nach dem Einschlag, dann wenn Tausende von messerscharfen Metallteilchen wie Regentropfen auf die Dächer der Häuser, an die Wände, die Strassen, auf die Menschen prasseln. Salah sagt: „Tag und Nacht. Tag und Nacht die Raketen. Wie sollen wir so noch schlafen?“ Die Mädchen bleiben stumm, die Augen leer. Eines zupft an seinem Hosenbein, das sich dunkel verfärbt. Es hat sich in die Hose gepinkelt. Panzer und Raketen Ende März beschloss Israel mit harschen Methoden auf die Kassam Raketen, die aus dem Gazastreifen geschossen werden, zu reagieren. Kein Tag mehr ohne Panzerartillerie, F16 oder Apache Helikopter am Himmel über Gaza. Zwischen dem 28. März und dem 22. April wurden 126 selbstgemachte Raketen von palästinensischen Milizen nach Israel geschossen. Die israelische Armee reagierte mit 4150 Panzergeschossen und 36 Luftangriffen. In dieser Zeit wurden im Gazastreifen laut dem Office for Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) 21 Palästinenser, unter ihnen auch drei Kinder, von den israelischen Geschossen getötet und 54 Palästinenser und 14 Kinder verletzt. Nach israelischen Militärangaben wurden seit Anfang Jahr drei Israeli von palästinensischen Raketen leicht verletzt. Eine Armeesprecherin sagt: „Es ist mir nicht bekannt, dass jemand von unseren Panzergeschossen verletzt wurde. Wir zielen auf nicht bewohntes Gebiet und dorthin, von wo die palästinensischen Raketen abgefeuert werden. Wir haben die Leute gewarnt, dass sie das Gebiet verlassen sollen.“ Salah dreht sich mit seinem Rollstuhl langsam im Kreis, die Lippen zu einer Grimasse verzogen. Er sagt, neben seinem Haus habe nie jemand eine Rakete abgeschossen. Er sagt, ja, die Israeli hätten die Bewohner im Norden gewarnt. Aus Flugzeugen haben sie Tausende von rosaroten und weissen Zetteln abgeworfen, auf denen stand, dass sich die Bewohner dieses Gebiets in Gefahr befänden. Doch Salah weiss nicht wo er hin gehen sollte. In der erste Intifada wurde er von israelischen Soldaten angeschossen und ist seither querschnittgelähmt. Er bewegt sich nicht viel weiter als von der Küche in die Stube und manchmal vor’s Haus. Seit die Raketenangriffe zugenommen haben, geht er überhaupt nicht mehr raus. Man kann nie schnell genug in Sicherheit sein. Aber auch wenn er noch gehen könnte, wo sollte er hin? Wo sollten die Tausenden von Menschen im Norden des Gazastreifens hin, fragt er sich laut. „Die glauben wohl, wir hätten soviel Geld, dass wir Zweit- und Drittwohnungen haben. Dabei wollen sie uns bloss vertreiben. Nicht genug, dass sie uns schon früher, 1948, von unserem Land vertrieben haben“, schnaubt Salah grimmig. Seit seinem Unfall arbeitet Salah nicht mehr. Er erhielt eine kleine Rente von der Autonomiebehörde von 300 Schekel im Monat, zirka 80 Euro. Damit ernährte er seine Familie, seine vier Kinder, seine Frau und sich selbst. Seit dem Antritt der Hamas Regierung haben die Europäische Union, die USA und andere Spender ihre Gelder für die palästinensische Autonomiebehörde (PA) gestoppt. Seit März sind die 165 000 Angestellten der PA im Westjordanland und Gazastreifen ohne Lohn. Betroffen sind nicht nur die Angestellten, sondern auch ihre Familien, ihre Verwandten, die überall in den besetzten Gebieten seit Ausbruch der Intifada im Herbst 2000 unter Arbeitslosigkeit leiden und vom Lohn ihrer Verwandten leben. Im Gazastreifen betrifft die Arbeitslosigkeit an manchen Orten siebzig Prozent der Bewohner. Wer arm war, wurde mit dem Ausbleiben der Gehälter noch ärmer. Die Menschen verkaufen, was sie verkaufen können. Zum Beispiel die Splitter der Panzergeschosse. Für eine 47 Kilogramm schwere, nicht explodierte Panzerrakete, zahlen die Altmetallhändler 15 Schekel, drei Euro. Überall fallen die Preise. Auch der Goldpreis ist gefallen, weil die Frauen ihr Brautgold verkaufen, um die Familien noch zu ernähren. Nur der Benzinpreis ist von dreieinhalb auf viereinhalb Schekel gestiegen, weil der einzige Güterübergang Karni tagelang geschlossen war und Benzin knapp wurde. Vor wenigen Tagen demonstrierten die Bewohner von Gaza in den Strassen, weil die Taxifahrer wegen des steigenden Benzinpreises den Fahrpreis von eineinhalb auf zwei Schekel erhöht hatten. Wer kann, geht zu Fuss oder mit dem Eselkarren. Wer sowieso keinen Lohn mehr erhält, bleibt lieber gleich zu Hause. Auch Salah hat kein Geld mehr erhalten, seine Ersparnisse sind längst aufgebraucht, das Brautgold seiner Frau verkauft. Milch, Brot, Reis, Zucker kauft er auf Kredit im Krämerladen des Quartiers. Dass das nicht mehr lange so weiter gehen kann, das weiss er selbst. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Salahs schäbiger Wohnsiedlung liegt das Balsam Spital. Am Eingang steht ein einsamer Polizist. Er sagt, normalerweise seien sie drei Wachen hier, aber die anderen kämen längst nicht mehr zur Arbeit. Wenn er nächste Woche keinen Lohn erhalte, dann bleibe auch er zu Hause. Mit seiner Kalaschinkov zeigt er über die Einöde vor dem Spital über die eine Strasse zu einem Beduinen Dorf führt. Man sieht bis zu den ehemaligen jüdischen Siedlungen im Norden des Gazastreifens, dazwischen ein Streifen Niemandsland, gerodet und zerstört, einige Hundert Meter breit. Früher war das der sogenannte Sicherheitsstreifen zwischen Siedlern und Palästinensern. Eine Mondlandschaft, auf die auch heute niemand einen Fuss setzt. Wer es trotzdem tut, der riskiert von israelischen Scharfschützen oder Panzergeschossen getötet zu werden. Ein Elektriker hatte vor einer Woche versucht, die Stromleitung zu reparieren, die vierzehn Tag zuvor von Panzergranaten zerfetzt wurde. Als er an der Arbeit war, schlug eine Panzergranate in seiner Nähe ein, die Splitter des Geschosses rissen ihm die Hand ab. Die Beduinen-Haushalte der Gegend sind immer noch ohne Strom, die Drähte baumeln weiterhin lose über der Einöde. Dann wieder ein Bang, der Polizist rennt ums Spital und sucht Deckung hinter einer Betonmauer. Kinder stehen auf der Strasse, pressen ihre Hände an die Ohren und sehen zu, wie wenige Meter neben ihnen das Panzergeschoss ein Loch in den trockenen Boden reisst. Ein Splitter schlägt in eine Metalltür direkt neben einem Jungen, der sich umdreht, das Loch neugierig betrachtet und dann weiter geht, als ob nichts geschehen wäre. Medikamentenmangel „Sieh her, sag der Welt, was die Panzergeschosse anrichten.“ Fares Chahine, in einen weissen Arztkittel gekleidet, hält den Finger seines Patienten demonstrativ hoch. Sein Patient Asis al-Nadi, ein 16-jähriger Junge aus dem Jabalia Flüchtlingslager, stöhnt leise auf dem alten Bett im notdürftig eingerichteten Operationssaal. Asis hatte vor wenigen Minuten, kurz nachdem ein Panzergeschoss im Feld nebenan einschlug, die Schule verlassen. Jetzt hängt sein kleiner Finger als loses Fleischstück herunter, der Knochen weiss und glänzend sichtbar. „Er hatte das Pech ein Raketenstück abzukriegen. Wahrscheinlich wird er den Finger verlieren“, attestiert der Arzt und greift zu Nadel und Faden, um anzunähen, was noch zu flicken möglich ist. Jeden Tag nähen die Ärzte des Balsam Spitals Wunden, die von Panzergranaten gerissen werden, zusammen. Heute heisst der Patient Asis, am Tag zuvor war es ein 12-jähriges Kind, das beim Spielen getroffen wurde. „Es ist immer dasselbe: Der Einschlag tötet meist niemanden, aber die Splitter, die werden überall hin geschleudert.“ Ein ganzer Eimer voller finger- und handgrosser Metallsplitter haben die Angestellten des Spitals auf dem Dach gesammelt. Vor den Fenstern des Ärztezimmers liegen Sandsäcke, weil hier wenige Tag zuvor ein Splitter die Scheibe zerstört hatte. Chahine, der Arzt mit der grossen runden Brille, der fliessend Französisch spricht, sagt: „Jeden Tag die Verletzten. Wir wissen bald nicht mehr, wie wir sie versorgen sollen.“ Das Balsam Spital ist nicht das einzige, in dem es an Medikamenten mangelt. Im ganzen Gazastreifen fehlen Medikamente; Anästhesie-, Krebsmittel, Diabetesmedikamente, Verbandsmaterial. Zum Teil stecken die Mittel am Karni Checkpoint fest und werden nicht eingelassen. Die staatlichen Krankenhäuser haben das Vertrauen der Zulieferer aufgrund der prekären Finanzsituation der PA verloren und müssen Vorschüsse bezahlen, um die Medikamente zu bekommen. Geld, das die PA jedoch nicht hat. Die Organisation Physicians for Human Rights spricht vom Kollaps des palästinensischen Gesundheitssystems aufgrund der ausbleibenden ausländischen Hilfsgelder. Eine humanitäre Krise stehe bevor. Im Gazastreifen haben die Krebspatienten seit einem Monat keine Chemotherapie mehr erhalten, weil die Mittel nicht vorhanden sind. Mindestens vier Personen seien aufgrund des Medikamentenmangels gestorben. „Vor einem Monat gingen die Leute noch in die staatlichen Krankenhäuser, heute kommen sie zu uns, weil sie bei uns nicht bezahlen müssen. Wir haben noch Medikamente um Bluthochdruck und Diabetes zu behandeln, Mittel, die in den staatlichen Spitäler fehlen. Aber wir haben keine Krebsmittel“, sagt Christer Nurdahl, stellvertretender Direktor der United Nations Relief and Works Agency (UNWRA) in Gaza. Die UNWRA verteilt an 135 000 Flüchtlinge im Gazastreifen Nahrungsmittel, führt Kliniken und Schulen. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung Gazas, über eine halbe Million Personen, wird von der UNWRA und dem World Food Programm mit Nahrungsmittel unterstützt. Vor einem Monat sei noch eine Hand voll neuer Menschen gekommen, um Hilfe zu beanspruchen, sagt Nurdahl. Heute seien es Hunderte, die täglich an die Tür der UNWRA klopften. Nach Nurdahls Meinung lässt sich das Problem mit einem Wort beschreiben: Geldmangel. Die Märkte in Gaza sind voller Früchte und Gemüse, das Kilo Tomaten zu zwanzig Cent. Selbst das ist jedoch für die meisten zu teuer. Die Wirtschaft ist tot. Das Gemüse und die Früchte, die im Gazastreifen produziert werden, können nicht exportiert werden, verrotten am Karni Güterübergang. Dieser wurde in den ersten vier Monaten des Jahres von den Israeli während 57 Tagen komplett geschlossen. Im vergangenen Monat konnten im Durchschnitt fünf Lastwagen täglich den Gazastreifen verlassen. Das ist nichts im Vergleich zu 43 Lastwagen, die vor dem Abzug der Siedler im vergangenen Herbst den Streifen verlassen haben. Seit Anfang Mai ist die Grenze für den Export erneut dicht. Aus „Sicherheitsgründen“ sagen die Israeli. Kein Geld für Essen An der Strasse Richtung Jabalia Flüchtlingslager, steht ein weisses Gebäude, auf dem in grossen blauen Lettern steht: UNWRA und World Food Program. Eselkarren, Fahrräder und Männer, mit mehlweissen Gesichtern und Hemden drängeln sich gierig vor dem blauen Gitter, das die Lagerhalle, in der sich stapelweise Mehlsäcke türmen, vor dem Ansturm der Menge schützt. Vor dem Eingangstor bricht eine Schlägerei aus, wutentbrannte Worte, Männer, die sich in Hoffnungslosigkeit und Frustration um Säcke von Mehl prügeln. Ein alter Mann aus dem Jabalia Flüchtlingslager hat seinen Schein am Eingang abgegeben, sich einen 50-Kilo-Sack Mehl auf die Schulter gestemmt, einen Plastiksack mit fünf Kilo Zucker und einen mit fünf Kilo Reis unter den Arm geklemmt und dann die ganze Last auf seinen Eselkarren geladen. Wenn er spricht dann schreit er, seine Worte, sie klingen wie Hilferufe: „Ich habe dreizehn Kinder. Das Mehl, der Zucker, der Reis, das reicht für zwei Wochen. Nahrungsmittel erhalten wir jedoch nur alle drei Monate.“ Dann verstummt er im Lärm der Männer, die sich um den Eselkarren scharen, die Anzahl ihrer Kinder brüllen und die Frage: „Wie sollen wir sie ernähren?“