Rabiha Jamal zählt bis zwölf, dann schlägt das Artilleriegeschoss mit einem dumpfen Knall in der Nachbarschaft ein. Die fünf Töchter verstummen, starren auf den Bildschirm auf dem die libanesische Popsängerin Nancy in fröhlichen Tönen über die Liebe singt. Es ist neun Uhr abends im Norden des Gazastreifens. Um die Wohnblöcke der Siedlung Scheich Zayed schleichen junge Männer. Rabiha hat Tee aufgebrüht und in Gläser gefüllt, die zittern, wenn die Granaten irgendwo in der Nähe einen Krater in den Boden reissen. Seit dem frühen Morgen bombardiert die israelische Armee von der Grenze her den Norden des Gazastreifens. „Wir vergelten die Raketen, die die Palästinenser auf unsere Städte schiessen. Wir zielen nur auf leere Felder“, begründet eine Armeesprecherin das anhaltende Trommelfeuer. Am Rande eines Feldes im Dorf Beit Lahia, wohnte ein Bauer. Dann wurde er von einem Panzergeschoss getötet. Hassan Abu Jarad, ein Taxifahrer, der palästinensische Sicherheitsoffiziere transportierte, kam am Sonntag Morgen in Beit Hanun durch Artilleriegeschossen ums Leben. Die Bilanz an einem Wochenende sind 15 Tote, die Mehrzahl unter ihnen sind Miliz-Angehörige, jedoch auch Zivilisten und ein fünf-jähriger Junge. Die Armee-Sprecherin sagt: „Wir haben die Leute gewarnt, sich nicht dort aufzuhalten, von wo Raketen abgeschossen werden.“ Das Spiel der Vergeltung „Wo sollen wir denn hin?“, fragt Rabiha, die sehr wohl weiss wie gefährlich ihre Wohnung in Scheich Zayed an diesem Abend ist. Vor einem Monat wurde sie beinahe von einer Rakete getötet, die von einer israelischen F16 abgefeuert wurde und in das Auto neben ihr, gleich vor dem Haus, einschlug. An diesem Abend vermischen sich die Einschläge israelischer Geschosse mit den Abschüssen von palästinensischen Raketen. Zuerst hört man nur ein Zischen, dann ein Lärm, so laut, dass sich Rabiha die Hände an die Ohren presst. Auf dem Feld vor ihrem Haus brennen kleine Feuer. Junge Männer haben sich an Raketen zu schaffen gemacht, die in der Dunkelheit nur beim Abschuss als rotes Flackern erkennbar sind. Nach den Abschüssen rennen die Männer in Richtung der Wohnblöcke, die Wasserpfeife unter dem Arm. Über vierzig Raketen, die auf israelischem Territorium gelandet sind, hat die israelische Armee in den vergangenen zwei Wochen gezählt. Dabei wurde eine Person verletzt. Rabiha weiss, dass sich Israel diese Angriffe nicht gefallen lassen wird. An Schlaf wird heute Nacht nicht zu denken sein. Es vergeht eine Stunde. Dann beginnt die Vergeltung, die die Armeesprecherin später mit „einem Durchschnitt von täglich 300 Panzergranaten“ beziffert. Die israelische Armee werde erst dann mit Ruhe antworten, wenn die andere Seite auch ruhig sei. Ein Ende der Gewaltspirale ist nicht absehbar. Die al-Aksa und die Abu Rish Brigaden, beides Fatah Milizen, haben nach der Tötung von Palästinensern wieder Vergeltung angedroht. Rabiha hat aufgehört zu zählen und resigniert: „Was sollen wir tun? Wir fürchten uns auf die Strasse zu gehen. Du kannst Pech haben und stehst neben einem Auto, das von einem Kampfflugzeug aus beschossen wird. Oder du gerätst ins Kreuzfeuer von verfeindeten Milizen.“ Steigende Armut und Arbeitslosigkeit „Die Beschiessung vom Land, Wasser und durch die F16 Kampfjets ist eine kollektive Strafe für die 1,5 Millionen Palästinensern. Viel mehr Menschen werden bei solchen Angriffen getötet, als bei innerpalästinensischen Auseinandersetzungen“, sagt Darrin Waller, einer der wenigen Ausländer, die noch im Gazastreifen anzutreffen sind. Seit dem Antritt der Hamas Regierung und den Kidnappings von Ausländern, haben die Europäische Union, die United Nations Relief and Works Agency (UNWRA), sowie andere internationale Organisationen ihre ausländischen Mitarbeiter abgezogen und die Gelder eingefroren. Die 500 Millionen Euro, die von der EU ausbleiben und die monatlich 50 Millionen Dollar Zollrückzahlungen, die Israel zurück hält, hinterlassen im Gazastreifen deutliche Spuren der Entbehrung. Noch immer haben die 140 000 Angestellten der palästinensischen Autonomiebehörde ihre März Löhne nicht ausgezahlt bekommen. „Die Besatzung des Gazastreifens ging mit dem Abzug der Siedler nicht zu Ende. Israel kontrolliert weiterhin den Luft- und Seeraum und die Grenzen“, sagt Waller, der für das palästinensische Menschenrechtszentrum (PCHR) arbeitet. Er stellt seit dem Abzug der Siedler im vergangenen August einen rapiden Anstieg der Armut fest. Die Arbeitslosigkeit ist auf 70 Prozent angestiegen. 72 Prozent der Palästinenser im Gazastreifen leben unter der Armutsgrenze mit weniger als zwei Dollar am Tag. Karni, der einzige Güterübergang war in den ersten drei Monaten dieses Jahres 50 Tage lang geschlossen. Für ein Gebiet, das neunzig Prozent aller Güter aus Israel über Karni einführt, hat das verheerende Folgen. Die Bauern, die die Gewächshäuser der Siedler übernommen haben, konnten ihre Erdbeeren, Cherry-Tomaten und Peperoni nicht aus dem Gazastreifen ausführen. Gemüse und Früchte verrotteten Tonnenweise am Grenzübergang oder wurden zu Schleuderpreisen auf dem lokalen Markt verkauft. Als ein Gefängnis mit etwas mehr Auslauf und einem Nadelöhr nach Ägypten, beschreiben die Bewohner von Gaza den Streifen. Vor zwei Wochen ging das Brot aus, weil die Mehlsäcke auf der anderen Seite von Karni blockiert wurden. Falls Karni in den nächsten Tagen nicht geöffnet werde, dann stehe der Gazastreifen wieder am gleichen Punkt wie vor zwei Wochen. „Bereits jetzt fehlt es an Antibiotika, Milchpuder und einer ganzen Reihe von Medikamenten“, sagt Waller. Medikamentenmangel Am Eingang des Shifa Krankenhauses in Gaza steht Doktor Juma Saqqa und schaut schweigend auf die zwei Ambulanzwagen, die eingefahren sind. Zwei Männer der al-Aksa Brigaden wurden von einer Rakete aus einer israelischen F16 getötet, als sie versuchten eine Rakete in Richtung eines Kibbuz abzufeuern. Ihre Überreste werden stückweise aus dem Wagen getragen. „Es wird schwierig sein, ihre Körperteile so zu sortieren, dass wir sie ihren Familien zurückgeben können“, seufzt Saqqa, der stellvertretende Chef des Spitals. Früher habe er noch Archiv geführt über die Toten und Verletzten, jetzt, seitdem die Angriffe und gezielten Tötungen zum Alltag gehörten, habe er aufgehört mit dem Papierkram. Die tägliche Arbeit fordere genügen Energie und Kreativität. Im Krankenhaus fehlt es an allen Ecken und Enden, an Antibiotika, Schienen, um Brüche zu fixieren, Chemo-Therapie-, Anästhesie- und Schmerzmitteln. Die Patienten werden gebeten, Pflaster selbst mitzubringen, weil der Vorrat im Krankenhaus zu Neige geht. „Gestern brauchten wir die letzten Plasticschläuche, um Blutkonserven oder Infusionen stecken zu können. Die bestellten Schläuche liegen seit Tagen am Karni Checkpoint und werden nicht eingelassen“, klagt Saqqa. Auch früher sei Karni manchmal geschlossen gewesen, aber jetzt seien es so viele Tage, dass bei den kurzen Öffnungen gerade mal der akute Mangel behoben, jedoch kein Vorrat anlegt werden könne. „Wenn das so weiter geht, sterben uns die Leute an einfachen Krankheiten weg“, prognostiziert der Arzt, der wenig Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation hat. Mit der neuen Hamas Regierung sei nicht mehr damit zu rechnen, dass das Ausland Druck auf Israel ausüben werde, um die Menschen in Gaza vor eine Katastrophe zu bewahren. Pragmatische Hamas Rosiger und heller sieht Ghaze Hamad, Chefredaktor von Hamas Wochenzeitung al Risala, die Zukunft. Trotz, der vertrackten Situation, in der sich die neue Regierung befindet, strotzt der frisch gebackene Regierungssprecher von Hamas vor Stolz und Zuversicht hinter seinem Pult in der Zeitungsredaktion in Gaza. „Die EU wird ihre Gelder vielleicht über Nichtregierungsorganisationen verteilen oder eine Art Parallelregierung kreieren“, glaubt Hamad, der die guten Beziehungen zu den arabischen Staaten betont und sich ihrer finanziellen Unterstützung sicher ist. Amerika und Europa müsse einsehen, dass sie nicht Hamas sondern alle Palästinenser bestraften, wenn sie nicht mehr bezahlten. Die von Israel geäusserte Kritik, dass man nicht mit einer Regierung verhandeln könne, die Israel nicht anerkenne, wischt Hamad mit einer Handbewegung weg. „Wir haben uns geändert, wir sind pragmatisch und bereit für Kompromisse, bereit für einen Staat innerhalb der Grenzen von 1967. Die Frage ist, ob Israel uns zuhören will oder nicht.“ Hamad bejaht zwar, dass in der Hamas Charta immer noch vom historischen Palästina die Rede sei, das auch Israel mit einschliesst, aber die Charta sei kein Koran und könne geändert werden. Während früher Hamas für Selbstmordattentate und Kassam Raketen verantwortlich gewesen war, hat sich das Blatt gewendet und der militante Widerstand wird vor allem vom islamischen Jihad und den Fatah Milizen ausgeübt. Hamad sieht keinen Grund diese Gruppierungen daran zu hindern, Raketen abzuschiessen, solange Israel als Besatzer so deutlich spürbar sei. Die neue Regierung werde ihre Energie vorerst gegen Innen richten, für Recht und Ordnung zwischen den Fraktionen und den Palästinensern sorgen. Die Korruption in der plästinensischen Autonomiebehörde müsse bekämpft werden. Zu viele Leute erhielten einen Lohn, ohne dafür etwas zu tun. Aufräumen will Hamas, auch in den ehemaligen Siedlungen. Wie bereits ihre Vorgänger Fatah wollen sie die Trümmerfelder für Schulen, Landwirtschaft und Tourismus nutzen. Gemacht wurde seit dem Abzug der Siedler im August noch nichts. Fabriken sollen gebaut werden, um Arbeitsplätze zu schaffen, der Handel mit den arabischen Ländern müsse angekurbelt werden. Hamas habe für alles einen Plan. Wie diese Pläne bei geschlossenen Grenzen und den grossen finanziellen Problemen durchgeführt werden sollen und wie sie genau aussehen, das kann Hamad auch nicht erklären. „Ja es stimmt“, sagt Hamad „Hamas ist von ihrem eigenen Wahlsieg überrascht worden.“ Siedlungsabfall als Überlebenshilfe Es scheint, als halte der ganze Gazastreifen in diesen Wochen den Atem an. Warten auf Änderung. Sogar die Esel und Pferde verharren in starrer Dumpfheit an der Strandstrasse, angespannt an Karren, auf denen Kinder neben Bananenstauden hocken. An der Verbindungsstrasse Richtung Süden knien Frauen am Strassenrand, wedeln mit einem Pappkarton die Fliegen von den Fischen, die sie verkaufen wollen. Schulbusse karren ganze Kindergartenklassen an den Strand, wo die Kinder in Momenten des Glücks über den Sand tollen. Da wo einst die israelische Siedlung Neve Dekalim in gepflegter Ordentlichkeit gestanden hatte, zieht sich heute ein Ruinenfeld über den Sand. Hier hat die Armut ein Gesicht. Eine Frau mit einem bestickten Palästinenserkleid bündelt Kupferdrähte, die sie vorher aus den Betonresten abgezwackt hat. Für das Kilo Kupferdraht bekommt sie auf dem Markt einen Franken Fünfzig. Ihr Mann, Abu Ali, kratz mit einer Schaufel zwischen Badekacheln und Betonpfählen. Langsam schabt er ein Abwasserrohr frei. Das Kilo Wasserrohr zu dreissig Rappen. Früher arbeitete Abu Ali in den Treibhäusern der Siedler und verdiente dabei 270 Franken im Monat. Davon lebte seine zehnköpfige Familie im Flüchtlingslager Khan Yunis ausgezeichnet. Nach dem Siedlerabzug hat Abu Ali seine Arbeit verloren. Mit dem Verkauf von Kupferdrähten und Wasserrohren hält er die Familie mit 30, manchmal 45 Franken mehr schlecht als Recht über Wasser. Alle vier Monate gibt die UNWRA der Familie 90 Kilo Mehl, 10 Kilo Zucker und 10 Kilo Reis. Bald ist die nächste Ration fällig. Ob Karni für den Nahrungsmitteltransport offen sein wird, weiss Abu Ali jedoch nicht. „Gott ist gross“, murmelt er, als der Ruf des Muezzins von Rafah über die Ruinen getragen wird. Dann greift er wieder zur Schaufel, schabt weiter. Vielleicht findet er noch ein Rohr.