Zwei Betonpfeiler staksen aus dem Boden. Es sind die Überreste der Brücke, über die die Siedler noch vor rund einem Monat nach Gush Katif im Süden des Gazastreifens gefahren sind. Abu Holi, wurde die Brücke genannt, unter der die Palästinenser nur unter Megaphon-Anweisung israelischer Soldaten durchfahren konnten und die den Gazastreifen in Süden und Norden trennte. Oft war die Durchfahrt für die Palästinenser stundenlange, manchmal sogar tagelange gesperrt. Nach dem Abzug des letzten israelischen Soldaten Mitte September existiert kein Abu Holi mehr. Die Strandstrasse wurde wieder geöffnet und der Weg von Gaza Stadt nach Khan Yunis oder Rafah im Süden kann man in einer guten halben Stunde im Auto zurücklegen. Im Sammeltaxi, das eben die zwei Betonpfeiler bei Abu Holi passiert hat, starren die Leute jedoch ohne ein Anzeichen der Freude aus dem Fenster. Zwei Frauen vergleichen die Preise der Tomaten und Gurken auf dem Markt in Gaza und jenem in Rafah. Eine beklagt sich über Kopfschmerzen, die ihr die israelischen F16 Kampfjets seit der letzten Nacht bescheren. „Jetzt, da die Siedler weg sind, können die Israeli noch härter zuschlagen“, seufzt die Frau. In den vergangenen Tagen und Nächten flogen die israelischen F16 so tief über dem Gazastreifen, dass ihre Überschallknalle wie Bomben krachten und die Fensterscheiben von den Druckwellen barsten. Begonnen hatten die kollektiven Vergeltungsaktionen, nachdem israelische Soldaten im Westjordanland ein Mitglied des islamischen Jihad erschossen hatten. Daraufhin feuerten Palästinenser Raketen aus dem Gazastreifen nach Sderot, worauf die Israeli wiederum mit F16 reagierten, die die Menschen während der Nacht alle zwei Stunden aus dem Schlaf schreckten. Auch Enmira, eine 26-jährige Russin, wirkt verängstigt. Nach dem Abzug der Siedler, als an der ägyptischen Grenze allgemeines Chaos herrschte, ist sie durch ein Loch in der Mauer nach Rafah gelangt. Hier, im Flüchtlingslager Sultan gleich neben Rafah, wohnt ihr Mann Raed mit der gemeinsamen Tochter Diana. Das Paar hatte sich in den 90er Jahren in der russischen Stadt Ulyanovsk kennengelernt und später geheiratet. Raed hatte in Russland Medizin studiert und kehrte im Jahr 2002 wegen Arbeitsmangeln in den Gazastreifen zurück. Enmira erhielt nach Ausbruch der Intifada von den Israeli keine Einreiseerlaubnis in den Gazastreifen und befindet sich nun ohne gültige Papiere hier. „Ich hätte gedacht, dass es jetzt ohne die Siedler ruhiger wird“, sagt sie, die wenig hoffnungsvoll in die Zukunft blickt. Die studierte Automobilingenieurin ist zur Zeit an Haus und Herd gebunden. Eine Automobilindustrie existiert im Gazastreifen nicht und ohne Aufenthaltsbewilligung sind auch ihre Reisemöglichkeiten limitiert. Doch auch wenn sie die nötigen Papiere hätte, die Grenze zu Ägypten ist geschlossen und der Gazastreifen hat sich in den letzten Wochen mehr denn je in ein Gefängnis verwandelt. Mindestens für den Grenzübergang in Rafah haben sich der israelische Sicherheitsminister Mofaz und der ägyptische Präsident Mubarak am vergangenen Mittwoch auf eine Vereinbarung geeinigt. Der Grenzübergang soll in Zukunft unter Aufsicht der Palästinenser, der Ägypter und einer europäischen Drittpartei für Personen wieder geöffnet werden. Wann das sein soll, bleibt aber weiterhin unklar. Auch alle anderen Hauptverhandlungspunkte bleiben weiterhin ungelöst oder blosse Prinzipienabkommen. So besteht für die Passage, die den Gazastreifen mit dem Westjordanland verbinden soll lediglich technische Lösungsvorschläge. Der Bau des Hafens wurde zwar von den Israeli genehmigt, wann er beginnen soll, ist jedoch auch nicht klar und schon gar nicht, ob er jemals in Betrieb genommen werden kann. Der Flughafen in Rafah wird von den Israeli weiterhin als zu hohes Sicherheitsrisiko eingestuft und die Wiederinstandstellung der Rollbahn wird deshalb nicht einmal diskutiert. Beim Gütertransport, dem sogenannten Tür-zu-Tür Transport, bei dem die Ware nicht mehr an jedem Checkpoint auf einen anderen Laster umgeladen werden müsste, scheiterten die Verhandlungen bislang an den Sicherheitsanforderungen der Israeli. Nach Angabe von Nigel Roberts, dem Weltbank Vertreter im Westjordanland und dem Gazastreifen, konnten Gaza im vergangenen Monat nur gerade 35 bis 50 Laster durch den Güter Checkpoint von Karni verlassen. Das ist ein Viertel der Laster vor dem Abzug. Und der Personenübergang in Erez bleibt so menschenleer wie in den letzten Monaten. „Die Erwartungen waren höher, als das, was bisher geschah“, sagt Omar Shaban, ein Wirtschafter im Gazastreifen. Die Veränderungen seien deshalb vor allem psychologischer Art und Weise: die Bevölkerung sei nicht mehr direkt mit den Israeli konfrontiert und die Bewegungsfreiheit innerhalb des Gazastreifens sei besser. Doch von Lösungen könne nicht die Rede sein, denn diese bestünden wenn, dann höchstens als Prinzipienerklärungen. Die israelischen Hauptargumente, die gegen mehr Freiheit, mehr Öffnung sprechen sind Terrorismus und Sicherheit. Gideon Ezra, der israelische Minister für Innere Sicherheit, sagt: „Alles hängt vom Terror ab. Nur wenn die Palästinenser den Terror bekämpfen und fähig sind, die Grenze zur Rafah zu kontrollieren, können wir über mehr Grenzöffnung sprechen.“ Dass die israelischen Vergeltungs- und anhaltenden Tötungsaktionen, sowie die Gefängnissituation im Gazastreifen den Terror nährt, das glaubt Ezra nicht. Er sagt, alles hänge von den Palästinensern ab. Dass er diesen jedoch nicht all zu viel Vertrauen entgegenbringt, zeigt sich in Ezras Sicherheitsverständnis. „Wenn es um israelische Sicherheit geht, dann werden wir auf niemanden hören.“ Tatsächlich ist es um die palästinensische Sicherheitssituation nicht gut bestellt. Viele Militär- und Sicherheitseinrichtungen wurden im Laufe der Intifada vom israelischen Militär zerstört. Der Polizei war es bis vor kurzem nicht erlaubt, Waffen zu tragen. Zudem wuchsen unter Arafat diverse sich rivalisierende Sicherheitsdienste heran, die seit dem Tod des Rais ausser Kontrolle geraten sind. Der Gazastreifen wird in weiten Teilen von der militanten Hamas kontrolliert. Diese haben bereits ehemalige Sicherheitsposten der israelischen Armee übernommen. Die Polizei begnügt sich aus Angst vor bewaffneten Gruppen mit ihrer Rolle als Statisten am Strassenrand. In den Siedlungen gehörten die Polizisten, die zum Schutz gegen Plünderung platziert worden waren, zu den Ersten, die mitzunehmen begannen, was von den Siedlern zurückgelassen wurde. Die Siedlungen, für die so wohlklingende Projekte wie „Häuser für die Bevölkerung“, „Naturreservate“ oder „Hotelanlagen“ geplant waren, sind heute Schuttwüsten. Nur die Aussenmauern haben Farbe bekommen. Sie wurden bereits mit Männern, die palästinensische Fahnen und Gewehre schwingen, und dem Felsendom mit leuchtend gelber Kuppel bemalt. Auf den ehemaligen Siedlerstrassen, die früher für die Palästinenser streng verboten waren, trotten Esel, die Wagen, beladen mit Schrott, hinter sich her ziehen. Am Siedlungseingang der grössten Siedlung von Gush Katif, Neve Dekalim, hockt ein einzelner Polizist auf einem Plastikstuhl. Trostlos sieht der Ort aus, in dem vor wenigen Wochen noch Bio-Cherrytomaten in den Läden verkauft und Menschen im Amtsgebäude ein und aus gegangen sind. Im einstigen Siedlerladen erinnern nur noch Drähte, die aus der Wand lugen, daran, dass hier gelebt wurde. Im Amtsgebäude liegt Abfall und Schutt. Die orangen Fahnen der Siedler wurden durch palästinensische ersetzt. Die Strassen im Innern der ehemaligen Siedlung sind links und rechts von Bauschutt der zerstörten Siedlerhäuser gesäumt. „Ich habe keine Ahnung, was hier geschehen soll“, sagt ein Soldat, der gerade seinen Gebetsteppich zusammenfaltet. Er sei bloss hierher abkommandiert worden. Wer eine Ahnung haben sollte, ist Mohammed Samhouri. Als Chef des Technischen Komitees lag die Verantwortung zur technischen Übernahme der Siedlungen und zur weiteren Planung bei ihm. Aber auch Samhouri scheint nicht viel mehr an Information bereit zu haben, als einen vier-Phasen Plan. Erster Punkt: die Evaluierung der Infrastruktur in den Siedlungen, zweitens, die Reparaturen an den Wasserleitungen und Gebäuden, drittens, die Wiederinbetriebnahme von allem, was noch brauchbar ist und viertens, die Reintegration der Infrastruktur. Samhouri sagt, die erste Phase sei nun abgeschlossen. Über den Zustand der Infrastruktur kann er trotzdem nichts sagen, denn diese müsse noch genauer evaluiert werden. „Wir leben auf dem dicht besiedeltsten Flecken Erde, da müssen wir sehr sorgfältig planen, wie wir diese 25 Prozent mehr Land nutzen wollen. Sicher ist, dass Hochhäuser gebaut werden sollen.“ Diese Planung basiert auf dem „Gaza Entwicklungsplan für die Region“, dieser stammt jedoch aus den 90er Jahren, als die Siedlungen noch nicht in Gazas Entwicklung miteinbezogen wurden. Während Samhouri sich Zeit lässt, die Zukunft des Siedlungsgebiets zu planen, wird abtransportiert, was nicht niet und nagelfest ist. Sogar die Palmen, die zum Schutz der Strandgemeinde al-Moasi angepflanzt worden waren, wurden von den Bewohnern der Flüchtlingslager abgesät und als Brennholz verwertet. Die Polizei hat bloss zugeschaut. Samhouri sagt, er bedaure, zu sehen, was zur Zeit in den Siedlungen passiere, aber das sei nicht sein Problem, das sei das Problem der fehlenden Sicherheit hier. Und Sicherheit falle ins Gebiet des Innenministeriums.