Salah hat beinahe einen entgegenkommenden Eselkarren angefahren. Auf Nuras Schoss sitzt Samer. Neben mir, in diesem viel zu kleinen Wagen, schreit die ein-jährige Sara, ein Mädchen mit Kraushaar, weinerlich. Ein Schreien, das immer lauter wird, wie eine Sirene. Dann wirft sie sogar die zerbrochene Wasserpistole, ihr Lieblingsspielzeug, weg. Und mit Saras Schreien wird auch Salah immer lauter. „Wieso hast du mir nicht gesagt, dass du zu deinem Vater willst? Gestern waren wir bei deinen Freunden, wieso heute dein Vater, wieso fragst du mich nicht? Mich, deinen Ehemann?“ Salah hat all das, was ihn gestern noch als liebenswürdigen Ehemann, der sogar Teller wischt und Sara wickelt, auszeichnet, verloren. Grimmig starrt er durch die Windschutzscheibe, hebt den Finger und später die Hand, wenn er spricht. Und als er seine kleine, ur-ur-alte Fiat Karre, die morgens nur mit viel Geröre und langem Motorengeheul, oft sogar nur mit einem Blick unter die Haube, wach wird, erneut zwischen zwei Eselkarren hindurchzwängt, schreit er: „Du Nura, du musst mich fragen, wieso verstehst du das nicht?“ Nura sagt zuerst nichts. Sie wirkt müde, hat den ganzen Tag im Ramattan News Studio als Sekretärin gearbeitet, und Salah, ein Buchhalter bei der Palästinensischen Autonomiebehörde hat seit Sonnenaufgang keine Zigarette mehr geraucht. Doch an diesem Streit ist nicht der Ramadan Schuld. Nicht nur. Dann wird auch Nura laut. Als wir Jabalia hinter uns gelassen haben und auf die Hauptstrasse Richtung Erez einbiegen, beginnt der vier-jährige Samer zu weinen. Sara klettert auf den vorderen Sitz zu Nura und Samer. Salah schnalzt mit der Zunge, beschimpft seine Frau mit Fluchwörtern. Dann schlägt er zu. Zuerst nur leicht auf ihren Oberschenkel, dann kneift er in ihre Wange und haut immer fester auf ihr Bein ein. Nura greift ins Steuerrad, reisst an der Handbremse, die, altersschwach, nicht mehr funktioniert. Ein Lastwagen kommt entgegen. Salah packt Nura am Hals. Dazwischen, in diesem Wagen schreien die Kinder und die Eltern. Salah hält am Wegrand, reisst Samer zu sich, steigt aus, geht ein paar Schritte, steigt wieder ein, fährt weiter. Und dann nach einem weiteren Aufwallen von Beschuldigungen hält Salah die Karre ganz und stapft mit Samer an der Hand davon. Zurück bleiben Nura, Sara und ich, am Wegrand, irgendwo in Gaza, in einem Auto, das eigentlich schon keines mehr ist. Nach langen Minuten beginnt auch Nura zu weinen. „Ich lasse mich scheiden“, sagt sie und nochmals wiederholt sie diesen Satz und dann: „Seit einem Jahr, seit einem Jahr geht das so.“ Wir sitzen und warten, sehen den Autos zu, die an uns vorbei fahren, den Eseln und Pferden, die Karren beladen mit Schrott, bis Nura fragt: „Kannst du Auto fahren?“ Und tatsächlich, der Krüppel fährt, fährt uns vor die Haustür, die mit einer Eisenkette verschlossen ist. Die Wohnung ist geräumig und leer. Das Sprudelbad ist Nuras ganzer Stolz, so sagte sie gestern. Die Doppelmatratze im Schlafzimmer hat sie auf den Boden gelegt, schläft darauf mit ihrer kleinen Sara. Salah verbringt die Nächte jeweils mit Samer im Wohnzimmer. Natürlich war das nicht immer so. Nura sagt: „Nein, geliebt habe ich ihn nicht, als wir heirateten. Aber so ist das hier, alle Mädchen machen das so. Aber er hat mich geliebt.“ ‚Machen das so’ heisst, sie heiraten den, der sie, oder viel eher; der ihren Vater, fragt. Bei Nura war’s Salah, der Cousin ihres Vaters und der habe sie sogar noch angerufen, bevor er mit ihrem Vater den Brautpreis ausgehandelt habe. Mit 19 Jahren hat Nura den 32-jährigen Salah geheiratet. Die ersten drei Jahre seien auch ganz gut gewesen. Salah hat nichts dagegen, dass Nura arbeitet, er hilft im Haushalt, aber dann vor einem Jahr begannen die Schläge, die Wutanfälle. Nura sagt: „Wir haben Geld von der Bank geliehen, um das Haus zu bauen. Salah sagt, dass mache in nervös. Aber das machen doch viele Leute hier, die meisten.“ Im Frühling brach Salah während eines Streits Nuras Arm. Nura sagt: „Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Schluss; ich lasse mich scheiden.“ In der Eingangstür steht Nuras Vater, dahinter Salah und Samer. Nura sagt, Salah mache das immer so, lasse sie stehen, gehe zu ihrem Vater und beschwere sich über sie. Der Vater schüttelt Nura, was sie sich denn wieder gedacht habe, rüffelt er. Nura sagt: „Aber er hat mich geschlagen.“ Dann zieht sie Samer ins Schlafzimmer, wechselt seine Hosen, die immer nass sind. Vor der Tür schreit Sara. Draussen, irgendwo am Himmel, wieder die F16, Überschall, so dass alles zittert, wenn sie wieder in den Himmel stechen. Wir fahren zu Nuras Vater und seiner neuen Frau. Nura ist in Ägypten aufgewachsen und erst mit der Palästinensischen Autonomiebehörde 1997 mit ihrer Familie nach Gaza zurückgekommen. Als ihre Mutter 2001 den Gazastreifen kurz nach Nuras Hochzeit verlassen hatte, wurde ihr verboten, hierher zurück zu kehren, da sie keine palästinensische Identitätskarte besitzt. Nura hat ihre Mutter bis zum Abzug der Siedler nicht mehr gesehen. Doch dann, als die Grenze zu Ägypten nach dem Siedlerabzug ausser Kontrolle geriet, kam auch Nuras Mutter zu Besuch. Der Vater hatte inzwischen eine zweite, junge Frau geheiratet. Nura sagt: „Ich konnte das zuerst nicht akzeptieren. Aber jetzt, langsam kann ich, sie ist sehr nett. Sie hat auch meiner Mutter viele teure Geschenke mitgegeben.“ Nuras Mutter verliess den Gazastreifen wieder und kehrte nach Kairo zurück. Nura fragt: „Und wenn ich mich scheiden liesse, wen hätte ich denn hier? Beinahe meine ganze Familie, meine Mutter und meine Geschwister, sind in Ägypten, nur mein Vater nicht und der unterstützt mich nicht. Aber nach Ägypten will ich nicht, nicht als geschiedene Frau. Wenn, dann in die Schweiz oder nach Kanada, da könnte ich ein neues Leben beginnen. “ Sina, die neue Frau des Vaters steht am Herd und brät Fische für das Fastenbrechen. Als sie Nura sieht, sagt sie: „Immer, immer schon geht das so.“ Sinas Mann ist an einem Herzinfarkt gestorben, ihre Tochter blieb bei den Grosseltern. Sie durfte sie nicht zu ihrem neuen Mann mit nehmen, so sage es der Islam. Eine ältere Tochter, Sinas Tochter ist 14-jährig, dürfe nicht bei einem fremden Mann aufwachsen. Jede Woche besucht Sina ihre Tochter und jetzt kurz vor den Feiertagen nach dem Ramadan, hat sie ihr neue Kleider gekauft. Der Vater, ein älterer Mann mit weissem Haar, hockt sich vor den Fernseher, schaltet auf al-Jazira, öffnet gleichzeitig die Zeitung und sagt: „Nur weil du arbeitest Nura, nur deshalb sind diese Probleme.“ Nura verteidigt sich, wiederholt immer und immer wieder, dass sie geschlagen wird. Der Vater stellt den Fernseher lauter. Bilder von einem Selbstmordanschlag in Israel fesseln seine ganze Aufmerksamkeit. Er will nichts mehr hören von Nuras Problemen und schon gar nichts von einer Scheidung. Wir essen stumm den Fisch, verfolgen die Kommentare zum Selbstmordanschlag. Der Vater sagt: „Gestern haben die Israeli einen Führer vom Islamischen Jihad im Westjordanland ermordet. Kein Wunder, der Anschlag von heute.“ Natürlich weiss niemand mehr, wer angefangen hat, zu lange das Spiel von Auge um Auge, Zahn um Zahn. Das wird keine ruhige Nacht geben. Bestimmt keine ohne F16. Viel später liegen wir unter unseren Wolldecken auf den Matratzen am Boden. Salah hat Samer geholt und Sara hat zwei Stunden geweint, oft geschrieen. Endlich ist sie ruhig. Nura sagt: „Wenn ich mich scheiden lasse, dann verliere ich das Geld, das Samer bei der Hochzeit gezahlt hat und das ich erhalten sollte im Fall einer Scheidung. Aber diese Sicherheit gilt nur, wenn er die Scheidung will, sonst verliere ich alles. Trotzdem, es ist mir egal. Doch, was sagen die Leute? Als geschiedene Frau, hier im Gazastreifen, bin ich nichts, ein Nichts, eine Hure. Als geschiedene Frau kehre ich zu meinem Vater zurück. Und meine Kinder, die bleiben wahrscheinlich bei Salah. Soll er sie nehmen. Ich hasse alles was von ihm kommt.“ Am Morgen früh. Sara hat wieder zu weinen begonnen. Drei Überschallknalle heute Nacht. Ich gehe mit Nura zurück zu ihrer Wohnung, wo Salah gerade dabei ist Samers Hosen zu wechseln. Nura beginnt Kleider in eine grosse Tasche zu packen, die sie zu ihrem Vater mitnehmen will. Sie fragt Salah, um das Geld, das er vor Tagen von ihr ausgeliehen hat. Sie will sich ein Taxi in die Stadt nehmen, nicht mehr in die kleine Karre steigen. Salah sagt: „Ich geb dir kein Geld.“ Samer klettert auf meinen Schoss, schaut mich stumm an und fragt dann: „Hast du gehört, die Flieger, heute Nacht?