Im Ramadan scheint in Gaza die Stimmung noch aufgeheizter, gereizter als sonst. Das sieht man zum Beispiel bei den Ampeln. Nicht dass man in Gaza vor Rot oder Grün oder gar Orange Respekt hätte, nein, auch sonst fährt jeder wie er will, aber im Ramadan wird noch aggressiver auf das Gaspedal gedrückt, noch länger gehupt. Und am Ende einer Taxifahrt bleibt mir denn auch ein lauthalsiges Wortgefecht über den Preis nicht erspart. Ich muss sogar noch Verstärkung meiner Freunde des Ramattan News-Studios herbeiholen, um die Preisfrage zu klären. Diese rufen die Taxifirma an, dann wird mit dem Fahrer weitergestritten und am Schluss laufen wir entnervt davon. Das ist Gaza kurz vor dem Fastenbrechen. Die Journalisten im Ramattan News-Studio haben das iftar, die Mahlzeit des Fastenbrechens vorbereitet: Hühnerbeine in Zwiebelsosse, Reis und Salat nach Gazaart mit viel Chili. Um fünf sitzen wir alle um den grossen Tisch neben dem Fernsehstudio. Der Tisch ist voll beladen mit Speisen; ein gefüllter Teller vor jeder Person, dazu die eingeschenkte Limonade. „Noch fünf Minuten“, sagt einer und so hocken wir und starren auf die Hühnerbeine, die Männer seit Sonnenaufgang ohne Speis und Trank im Magen und ohne Zigarette im Mund. Hastiges auf die Uhr schauen. Dann Stille und endlich hebt der Älteste am Tischende das Glas und sagt: „Los, fangen wir an.“ Es ist fünf nach fünf. Natürlich ist das Fastenbrechen kein Genuss, sondern ein In-sich-hinein-Stopfen. Und nachdem das Futtern bereits zwei, drei Minuten angehalten hat, erklingt auf einmal die Stimme des Muezzins. Alle halten inne, schauen denjenigen am Tischende vorwurfsvoll: man hat zu früh begonnen. Der Älteste verwirft die Hände, verdreht die Augen und dann – greift er wieder zum Löffel. Schnell ist das Missgeschick vergessen und noch viel schneller ist die erste Zigarette angezündet. Die Esserei macht müde und so fahre ich ins Hotel. Nach dem iftar ist es auch wieder möglich zu telefonieren und Termine zu organisieren. Vor dem iftar wird man nur gehässig abgewimmelt. Mitten in einem Gespräch fällt mir vor Schreck beinahe das Telefon aus der Hand: ein Knall, so laut als ob eine Bombe im Garten meines Hotels abgeworfen worden wäre. Die Scheiben nebenan klirren, splittern und bersten schliesslich. Von der Druckwelle werden sie förmlich zerrissen und in die Veranda geschleudert. Meine Scheiben erhalten nur deshalb einen einzigen Riss, weil jemand in guter Voraussicht, die Läden geschlossen hatte. Später seufzt der Hotelbesitzer: „Erst gestern habe ich die Scheiben ersetzt, die vor einem Monat durch Druckwellen geborsten sind.“ Ich mache, was auch jeder Palästinenser in einer solcher Situation macht: ich rufe einen Freund an, der vielleicht weiss, was das eben war. Und tatsächlich. Sami Abdel Shafi sagt: „Das sind die israelischen F16, die so tief fliegen, dass der Überschallknall wie eine Bombe wirkt.“ Das sind keine zufälligen Aktionen, sondern ist gezielte kollektive Bestrafung. Diesmal wurden am Morgen ein Mitglied des Islamischen Jihad im Westjordanland und ein angebliches Fatah Mitglied von den Israeli erschossen. Darauf haben Palästinenser aus dem Gazastreifen Raketen auf die israelische Stadt Sderot abgefeuert. Die Israeli ihrerseits reagieren mit ihren Schreckangriffen. Sami fragt: „Hast du dir einen solchen ohrenbetäubenden Knall unter dem Wort Überschallknall vorgestellt?“ Natürlich habe ich nicht. Viel mehr dachte ich an die Knällerchen, die man auf einer frühlingshaften Bergwanderung in den Alpen hört. Aber nicht so was, nicht so, dass die Scheiben bersten, nicht so, dass ich die Druckwelle am Körper spüre. „Jetzt da die Siedler weg sind, können die Israeli machen, was sie wollen“, sagt Sami. „Früher, vor dem Abzug, da gab es keine F16, die Scheiben bersten liessen, denn damals wohnten auch noch Israeli im selben Gazastreifen. Heute nicht mehr. Heute ist alles möglich, schliesslich muss man auf keine Israeli mehr Acht geben.“ Später am Abend treffen wir uns auf einen Whisky. Jede zweite Stunde wieder ein Knall. Nach jedem Überschallknall sieht Sami nach seinem alten Vater. Der sagt bloss: „Wie soll ich denn so schlafen?“ Sami weint. Ein Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins. Und die Angst. Dann das Brummen von Helikoptern und das entfernte Dröhnen von Raketen, die in Rafah niedergehen. Am Morgen heisst es: Fünf Verletzte in Rafah. Nachts um vier erneutes Aufschrecken. Die Angst vor dem Erwachen macht das Einschlafen nicht einfach. Dann, um sieben Uhr früh, das letzte Mal. Bis auf weiteres.