Die Rückkehr in die Schweiz hat mich zuerst staunen lassen: staunen über das Grün der Wälder und die abwechslungsreichen Wetterprognosen. Ansonsten hat sich nicht viel verändert: Alles wie gehabt; unaufgeregte Überraschungslosigkeit und deshalb auch erholsam. Mein letzter Palästina-Eintrag will ich den Rückkehrern in Palästina, den PLO-Kindern, meiner Ramallah Familie und den täglichen Überraschungen widmen. Es handelt sich dabei um vier Kurzgeschichten, die ich in Tagebuchnotizen festgehalten habe. Grillen mit Bassam Abu Sharif Das ehemalige Gehirn von Arafat, Bassam Abu Sharif, hebt die Lamm-Beinchen vom Grill und sagt: „Die sind gut.“ Seine Tochter Carmela schreit: „Wir kommen!“ Abu Sharif ist beinahe taub, seit er das Päckchen mit der Briefbombe geöffnet hatte. Dabei verlor er nicht nur einen grossen Teil seines Gehörs, sondern auch die Hälfte seines Gesichts. Das Gesicht ist inzwischen, zwar mit Narben und einigen Spuren, wieder hergestellt. Abu Sharif öffnet sich ein Bier. Mit Arafats Tod ist auch er in Pension. Er schreibt noch immer Bücher, ab und zu auch Kolumnen in den Zeitungen, nimmt an Fatah Sitzungen teil und liebt die Freitäglichen Grill-Feste im Garten seiner Tochter, welcher vom Mini-Kläffer Zatar bewacht wird. Obwohl schwerhörig mag es Abu Sharif noch heute, endlose Vorträge zu halten, zum Beispiel über die Schönheit der Arabischen Sprache. Abschliessend und in Erinnerung daran, dass er eine Gesprächspartnerin hat, sagt er: „Die Schweiz, die kenn ich. Vor allem das Dolder am Zürichberg, das ist ein tolles Hotel. Der Garten und der See und die vielen netten Lokale.“ Die Aussage, dass ich Revolutionsführern eigentlich andere Logen zugetraut hätte, quittiert der alte Mann mit einem besonnen Kopfnicken. „Verliebt habe ich mich in Zürich in ein Mädchen, das eine Arbeit über die islamische Welt schrieb. Wir streiften oft stundenlang durch die Stadt. Ein Liebesnest dieses Zürich.“ Verliebt ist auch seine Tochter Carmela und zwar in den Musiker Shadi. Diese Liebe wechselt zwar alle paar Wochen und die Leidenschaft nagt nicht nur an Shadi und Carmela, sondern führt auch zu regelmässigen und exzessiven Alkohol- und Drogenfiaskos. Shadi gehört gleich wie Carmela zu jenen PLO-Kindern, die ihr halbes Leben in Syrien, dem Libanon und Tunesien verbracht haben. In Ramallah bleiben diese Rückkehrer oft unter sich. Waffa, ein Freund Carmelas, der Abu Sharif am Grill abgelöst hat, gehört auch zu ihnen. Da Waffa als Filmemacher arbeitet, kommen wir auf den Film „Paradise now“ zu sprechen. Erst vor einer Woche feierte er Premiere in Ramallah. Der Film erzählt von zwei Selbstmordattentäter, die in ungeschminkter und oft ironischer Art und Weise bei ihrer Vorbereitung für das Attentat gezeigt werden. Der Regisseur spart nicht mit kritischen Hieben auf den Heldenkult, der hier zu Lande in professionellster Form betrieben wird. Waffa mag den Film nicht. Er sagt: „Hamas wird so dumm dargestellt, wie sie überhaupt nicht sein kann. Auch die Auswahl der Selbstmordattentäter verläuft nicht nach einem Zufallsprinzip wie es im Film dargestellt wird. Und dass ein Hamasführer am Tag vor dem Attentat bei den Attentätern übernachtet, stimmt einfach nicht.“ Waffa weiss wovon er spricht. Sein Cousin hat sich vor zwei Jahren bei Sharons Farm in die Luft gesprengt. Er sei extrem religiös gewesen, sei immer in die Moschee gegangen und so von Hamas angeworben worden. Heute gehen nicht mehr viele Junge in die Mosche. Jene, die trotzdem gehen, werden von der Hamas besonders überwacht und irgendwann ins Gebet genommen. Dabei werden sie schrittweise auf ein Attentat vorbereitet. So auch Waffas Cousin. Weder Waffa, der zur Zeit des Anschlags in Mekka war, noch andere Freunde oder die Familie wussten vom Attentat. Den Männern würde jedoch versprochen, dass dies der direkte Weg in den Himmel sei. Waffa sagt: „Das ist alles Scheisse, aber man muss wissen wie diese Leute ticken.“ Mit Glaube, mit dem Islam habe ein Selbstmordattentat herzlich wenig zu tun. Ehrenmord Heute wurde eine Frau auf offener Strasse in Ramallah mit einem Beil erschlagen. Der Vater, ein Christ, erschlug sie, weil sie mit einem Muslimen zusammen war. Amir in Jericho Amir ist ein Amerikaner-Palästinenser aus Connecticut, der ein Jahr lang seinen Wurzeln in Palästina nachgeht. Er ist gross, sportlich, hat schwarzes, mit Gel verklebtes Haar, spricht Arabisch mit amerikanischem Akzent und ist ein chaotischer jedoch sehr liebenswürdiger Zeitgenosse. Da er mit der Überwachungsmentalität seiner Grossmutter in Palästina bald nicht mehr zurecht kam, ist er vor kurzem bei einem Arafat Adoptivsohn eingezogen, den wir Cowboy nenne (wegen seiner Vorliebe sich mit Schüssen vor dem Haus seiner Geliebten bemerkbar zu machen). Gestern war Amir mit dem Cowboy auf einem Ausflug in Jericho. Amir erzählt die folgende Geschichte: „Als wir Jericho verliessen, wurden wir zuerst von den Palästinensern gestoppt, die nun ihren Checkpoint an derselben Stelle errichtet haben, an der zuvor die Israeli waren. Sie wollten unsere Pässe sehen. Später mussten wir am israelischen Checkpoint halten. Der Soldat kam mir irgendwie bekannt vor. Ich sagte: ‚komm mal her’ und wollte ihn mir genauer anschauen. Er schaute in den Wagen und als er mich sah, rief er freudig aus: ‚hey Amir!’ Es war mein Kollege aus Connecticut. Wir waren Nachbarn und da wir kein Schweinefleisch in unserem kleinen Lebensmittelladen verkauften, kauften er und sein Vater immer bei uns ein. Er ist Jude und Israeli und konnte jeweils nur sechs Monate in den USA bleiben. Als wir uns am Checkpoint sahen, freute er sich sehr – ich glaube, viel mehr als ich mich freute. Er sagte, wir sollte einmal ausgehen und fragte mich, ob ich meine Familie besuche. Die Autos warteten und mir war es irgendwie unangenehm. Die palästinensische Polizei war gleich hinter uns. Was mochten die bloss denken, vielleicht, dass ich ein Kollaborateur bin. Als wir zurück nach Ramallah fuhren, sagte der Cowboy kein Wort. Er war wütend, aber was konnte ich dafür, der Soldat war mein Nachbar. Ich konnte ihn doch nicht einfach ignorieren.“ Immi’s Mann Immi ist an diesem Abend irgendwie anders. Normalerweise kann sie sich furchtbar aufregen über die Tomatenpreise, die in Ramallah viel höher sind als in Gaza. Dann wieder verliert sie sich in detaillierten Exkursen über die Kunst des Karotten-mit-Reis-Stopfens. Heute sagt sie nichts. Auch ihre Söhne Samer, Abid und Ihab siten auf den Sofas und schauen schweigend fern. Erst nach einigem Nachfragen sagt Samer: „Unser Vater lebt!“ Der Vater, den die Familie 23 Jahre lang tot geglaubt hatte, lebt anscheinend und zwar in syrischer Gefangenschaft. Abid erzählt von ganz vorne: „Vor dem Sechs-Tage-Krieg, als das Westjordanland noch unter jordanischer Herrschaft war, war mein Vater im jordanischen Geheimdienst und verantwortlich für das Jordantal. Später wurde er, wegen seiner Kenntnisse über den jordanischen Geheimdienst, von Abu Ali und Abu Ammar für die PLO abgeworben. Er kämpfte während des Schwarzen Septembers als die PLO aus Jordanien geworfen wurde und flüchtete mit der PLO und meiner Mutter nach Syrien und später in den Libanon. Im Libanon kamen wir zur Welt, zuerst ich, dann mein Bruder Ihab und Samer. Wir lebten zehn Jahre im Libanon. Mein Vater avancierte zu einem General in der PLO und war dafür verantwortlich Raketen aus dem Südlibanon nach Israel abzufeuern. Als die Israeli 1982 in den Libanon eindrangen, um die PLO Kämpfer zu schnappen, versteckte uns ein Priester in einer Kirche. Ich läutete die Glocke und wir gingen zur Messe. Mein Vater kämpfte weiter. Wir sahen ihn wenig. Einmal kam sogar ein israelischer Offizier und wollte meine Mutter interviewen, aber der Pater wies ihn weg. Nach drei Monaten flüchteten wir in einem Auto voller Nonnen und Priester aus der Kirche nach Syrien. Wir warteten auf unseren Vater, erfuhren jedoch nur noch, dass der umgekommen sei; von den Israeli getötet. Die Israeli wollten uns den Körper unseres Vaters nie geben, sie sagten, der Körper sei zu sehr zerstört und erfanden immer wieder neue Entschuldigungen. Wir blieben zwei Jahre in Damaskus. Eine Mutter mit drei Kindern, das machte uns uninteressant für die Syrer. Für andere PLO Kämpfer war Syrien kein Ort zum Verbleiben. Die Syrier wollten nicht, dass Arafat und die PLO die Politik in die eigenen Hände nahmen und warfen sie aus Syrien, von wo die PLO später nach Tunesien und Algerien ins Exil flüchtete. Weit weg von Israel unterschrieben sie die Friedensverträge. Wir gingen nach Jordanien und später nach den Oslo-Verhandlungen kehrten wir nach Ramallah zurück. Vor einigen Tagen erhielten wir jedoch die Nachricht aus Jordanien, dass mein Vater am Leben sei. Ein PLO-Kämpfer, der 20 Jahre in syrischen Gefängnissen gewesen war, überbrachte die Nachricht unseren Verwandten in Jordanien. Unser Vater sei nie den Israeli in die Arme gefallen, sondern von den Syrern gefangen genommen worden. Wir sind uns beinahe sicher, dass es stimmt und werden alles versuchen, um unseren Vater frei zu bekommen. 23 Jahre im Gefängnis, das ist eine lange Zeit. Ich weiss nicht, ob wir ihn noch erkennen werden – vorausgesetzt die Syrer lassen ihn raus.“