Hoffnung und Angst vor dem israelischen Abzug aus dem Gazastreifen In rund drei Monaten will der israelische Ministerpräsident Sharon die jüdischen Siedlungen im Gazastreifen räumen lassen. Die Einwohner des Streifens schauen erwartungsvoll friedlicheren Zeiten entgegen. Bleiben die Grenzen des Gazastreifens jedoch geschlossen, ist keine nachhaltige Beruhigung und Entwicklung zu erwarten. «Ich werde sofort ans Meer gehen», antwortet Faria Hamude auf die Frage, was sie als Erstes machen werde, wenn die israelischen Siedler aus Gaza abziehen. Faria wohnt mit ihrer Familie im Flüchtlingslager Khan Yunis in unmittelbarer Nähe des Siedlungsblocks Gush Katif, der den Einwohnern des südlichen Gazastreifens den Zugang zum Meer versperrt. Vor der Intifada hat Farias Bruder in einem Hotel in Gush Katif gearbeitet, heute ist er arbeitslos. Um einen Blick auf das Meer zu erhaschen, muss Faria in den Norden des Gazastreifens reisen. Eine Reise, die die Frau selten macht, weil die Palästinenser am Checkpoint Abu Holi, der den nördlichen vom südlichen Gazastreifen trennt, oft lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen. Abu Holi ist eine Art Tunnel, der unter einer Brücke hindurchführt, über welche die israelischen Siedler nach Gush Katif fahren. Per Megaphon oder per Ampel werden die Palästinenser angewiesen, zu fahren oder zu warten. Faria sagt: «Solange die Siedler hier sind, fürchte ich mich. Ich habe Angst, meine Kinder zur Schule zu schicken oder dass Abu Holi geschlossen ist und mein Sohn nicht zur Arbeit nach Gaza fahren kann. Sind die Israeli weg, dann ist auch die Angst weg.» Abhängig von Hilfe In einem Raum ohne Fenster sitzt Farias Nachbarin, Binan al-Habash. «Gott sei Dank, das Leben wird besser sein, wenn die Siedler weg sind», sagt sie, fügt jedoch skeptisch an: «Aber solange Gaza ein Gefängnis bleibt, so lange haben wir auch nicht grosse Hoffnung auf Arbeit.» Binan kramt in ihrer Tasche und zieht eine Karte der UNRWA, des Uno-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge, hervor. Mit dieser Karte kann sie alle drei Monate Reis, Zucker, Mehl und tausend Dollar abholen. Eine Überlebenshilfe, die für sie, ihre zehn Kinder und ihren arbeitslosen Ehemann dringend nötig ist. Die Familie Ser, die ein paar Häuser weiter wohnt, erhält keine Uno-Hilfe. Dafür wird sie von der national-islamistischen Bewegung Hamas unterstützt, denn fünf ihrer Angehörigen sind während der Intifada von den Israeli getötet worden. Die Fotos der Getöteten hängen an den Wänden; junge Männer mit Gewehren in der Hand und Hamas-Flaggen im Hintergrund. Auch die Bewohner dieses Hauses sind fast alle arbeitslos. Jamal, der früher in Israel als Bauarbeiter gearbeitet hatte, wurde zwar eine Arbeitsbewilligung angeboten, aber nur wenn er auch als Kollaborateur für die Armee arbeiten würde. Trotz ihrer Wut auf die Siedler glaubt die Familie nicht, dass die Häuser der Siedlungen nach dem Abzug geplündert oder zerstört werden. Jamal sagt: «Das Land und die Häuser wird sich die palästinensische Autonomiebehörde aneignen. Wir gewöhnlichen Leute werden vor allem eines haben: Zugang zum Meer und keinen Abu Holi mehr.» Leben in der Pufferzone Am Rande von Khan Yunis liegen einige Betonhäuser, die das sogenannte österreichische Quartier bilden. Weltkriegsstimmung liegt in der Luft. Um eine genügend grosse Pufferzone zu den Siedlungen zu schaffen, haben die Israeli das halbe Quartier in Schutt und Asche gelegt. Die Häuser, die noch stehen, sind mit Einschusslöchern von Maschinengewehren übersät, aus den Fenstern flattert die Wäsche jener, die noch nicht weg konnten. Ein paar Teenager sagen, wenn die Siedler weg seien, dann werde es vielleicht wieder etwas ruhiger, vor allem die Nächte, die gewöhnlich mit dem Lärm von Maschinengewehren erfüllt seien. Auch ein paar Frauen, die vor einem Haus sitzen, das unter den Bomben wie ein Kartenhaus zusammengesackt ist, haben Erwartungen. Wenn die Siedler wirklich gingen, dann würden sie sich sofort deren Häuser ansehen. Ein paar Fahrminuten weiter weg befindet sich at-Tufah, das Apfel-Viertel. Es ist in genauso jämmerlichem Zustand wie das österreichische Quartier. Ein alter Mann schlurft in Richtung der Mauer, die den Siedlungsblock abschirmt. Er wohnt im Dorf Mawasi, das vom israelischen Siedlungsblock vom Rest des Gazastreifens abgeschnitten wird. Um auf die andere Seite zu gelangen, einzukaufen oder zum Arzt zu gehen, dürfen die Bewohner eine einzige Strasse benutzen, die wegen der Nähe zur israelischen Siedlung mit einer Strassensperre versehen ist und von den Soldaten kontrolliert wird. Die Männer und Frauen, die an der Sperre im Sand hocken, warten seit dem frühen Morgen auf Durchlass. Der Alte sagt: «Wenn die Siedler weg sind, dann können wir endlich wieder unsere Datteln nach Gaza bringen – und die Kranken in das Spital.» Wenig optimistisch betrachtet Salah Abdelshafi, Direktor des Gaza Community Mental Health Center, Sharons Abzugsplan. «Der Abzugsplan ist Teil von Sharons Strategie, die darauf abzielt, dem Projekt eines lebensfähigen palästinensischen Staats ein Ende zu setzen. Sharon wollte internationalem Druck zuvorkommen, indem er zeigt, dass Israel etwas tut. Er war erfolgreich. Die internationale Gemeinschaft sagt: Palästinenser seht her, Sharon offeriert euch etwas, nehmt es an, und dann sehen wir weiter. Doch während die Siedler den Gazastreifen verlassen, führt Sharon die Besiedlung, den Bau der Mauer und die Demütigungen der Bevölkerung im Westjordanland weiter. Es handelt sich nicht um den ersten Schritt zu einem kompletten Abzug, sondern ist eine Taktik, um die internationalen Forderungen einzufrieren.» In den Augen Abdelshafis bringt der israelische Rückzug vor allem den Abbruch der Symbole der Besetzung, mehr Bewegungsfreiheit und den Zugang zu Wasserressourcen und zu 25-30 Prozent mehr Land. Das neu gewonnene Land werde zu zirka 95 Prozent an die Autonomiebehörde gehen. 5 Prozent gehört privaten Leuten, die ihr Land entweder zurückerhalten oder dafür entschädigt werden. Abdelshafi warnt vor den zahlreichen Problemen, welche die Übergabe stellen wird. Die technischen Teams, die auf palästinensischer Seite für eine reibungslose Übergabe an die Palästinenser verantwortlich seien, verfügten über keine Pläne der Siedlungen, die zum Beispiel zum Anschluss des Wasser- und Elektrizitätsnetzes nötig seien. Zudem stellt sich die Frage, was mit den Gewächs- und den Wohnhäusern der Siedler geschehen soll. Abdelshafi bevorzugt die Lösung der Zerstörung der Wohnhäuser, da sie nicht für Palästinenser mit niedrigem Einkommen geeignet seien. Die Möglichkeit, dass die Palästinenser die Häuser nach dem Abzug plündern oder zerstören werden, schliesst er nicht aus. Die Häuser seien Symbole der Besetzung, und dies werde sich nicht über Nacht ändern. Um einem solchen Szenario vorzubeugen, leisten palästinensische Komitees bereits jetzt Aufklärungsarbeit. Sie gehen in Schulen, verteilen Broschüren und lancieren TV-Spots, um klar zu machen, dass das Land der Siedler in Kürze bereits palästinensisches Gebiet sein werde. Und der palästinensische Staat? Für Abdelshafi bedeutet der Abzug jedoch nicht viel mehr als eine kosmetische Verschönerung, wenn die Grenzen des Gazastreifens nicht gleichzeitig geöffnet und das Gebiet mit dem Westjordanland verbunden wird. Bleibt Gaza ein Ghetto, dann zeichnet Shafi ein wenig erfreuliches Szenario: «Wenn wir am Ende zwei getrennte Systeme, den Gazastreifen und das Westjordanland, haben, dann hat das keinen Sinn. Die Welt muss verstehen, dass wenn unmittelbar nach dem Abzug nicht Gespräche über eine endgültige Lösung, die Schaffung eines palästinensischen Staates, begonnen werden, die Intifada im Westjordanland wieder ausbrechen und früher oder später Gaza folgen wird.»