Nach dem Tod seines Adoptivvaters, Yassir Arafat, hat Tarek aufgegeben nach seiner leiblichen Familie zu suchen. Der Zufall wollte es. Aufzeichnungen einer verspäteten Familienzusammenkunft. Tarek mag seinen neuen Namen, Nader Jurfesh, nicht. Vor Jurfesh, der Name einer Stechpflanze, gefällt dem Adoptivsohn Arafats ganz und gar nicht. Vor einer Woche hatte er das gefunden, was er für sein ganzes Leben verloren geglaubt hatte: seine leibliche Familie. Zwölf Familienmitglieder der Jurfeshs aus dem Dorf Kibiya, das auf der grünen Grenze im Westjordanland liegt, sind in aller herrgottsfrühe nach Ramallah gekommen, um ihr verloren geglaubtes Schaf zu sehen. Lehrer, Olivenbauer, Krämerladenbesitzer, Hausfrauen und ein Scheich sitzen an diesem Samstag Morgen im Wohnzimmer von Tarek, der zusammen mit einem anderen Adoptivsohn Arafats in Ramallah wohnt. Der Scheich hat sein Kinn auf den Spazierstock gestützt. Ab und zu klingelt sein Telefon in der Melodie eines Muezzingebets. Tareks Tanten sitzen in farbig bestickten Palästinensertrachten, mit dem Brautgold umgehängt und einer Tasse voll arabischem Kaffee in der Hand nebeneinander und erzählen vergnügt einen Witz nach dem anderen. Getötet im Libanon Auf dem Tisch liegen vier Fotografien. Tareks Mutter, eine grossgewachsene schöne Frau mit einer Rose im Decolté ihres schwarzen Abendkleids stützt sich auf den Arm ihres Mannes, der ernst in die Kamera schaut. Tarek hatte eine einzige Fotografie besessen. Die anderen haben die Verwandten aus dem Dorf mitgebracht. Namer, die Schwester von Tareks Vater, Taufik, mag sich noch gut an ihren Bruder erinnern. 1967 hatte Taufik als 14-jähriger Junge die Familie verlassen, um mit Yassir Arafat und der Guerillagruppe Arab Liberation Front nach Jordanien zu reisen. Nach dem Schwarzen September im Jahre 1970, einem blutig niedergeschlagenen Aufstand von Palästinensern unter Führung der PLO gegen den König von Jordanien, waren die Palästinenser jedoch nicht mehr willkommen in Jordanien und zogen nach Beirut weiter. Dort heiratete Taufik und Tarek wurde am 25 Februar 1979 geboren. Dieses Geburtsdatum ist jedoch nicht sicher. Denn als Tareks Eltern zu Beginn der 80er Jahre ermordet wurden und sich die (Palestinian Liberation Organisation (PLO) der Kinder annahm, verblieben nur wenige Dokumente. Arafat adoptierte Tarek und dessen Schwester. Die Kinder wurden zusammen mit anderen Waisen nach Syrien und Tunesien, dann nach den Osloverhandlungen Mitte der 90er Jahre nach Gaza und später ins Westjordanland gebracht. Mit Hilfe des Kleiderimporteurs Tarek sitzt mit frisch gewichsten Stiefeln in seiner blau gemusterten Polizeiuniform, die er aus Anlass der Festlichkeiten angezogen hat, stramm auf seinem Bürostuhl. Alle paar Minuten drückt ihm seine Tante Nashah einen Kuss auf die Wange. Der Zufall hat ihm geholfen, seine Familie wiederzufinden. Die Jurfesh hatten zwar einige Male bei der PLO nachgefragt, ob sie die Kinder Taufiks bei sich aufziehen konnten, aber Arafat wollte seine Adoptivkinder nicht weggeben. Tarek wusste gerade mal den Kämpfernamen seines Vaters, von Jurfesh hatte er nie etwas gehört. „Vor zehn Jahren gab ich einer Freundin, die nach Beirut reiste, eine Liste mit Telefonnummern mit. Die PLO hatte einige Nummern von Verwandten meines Vaters aufbewahrt.“ Die Jahre verstrichen und Tarek hörte nichts. Mit dem Tod Arafats schwand die Hoffnung, seine Familie zu finden, zusätzlich. Doch dann, vor einer Woche erhielt Tarek einen Anruf aus dem Libanon. Über viele Umwege hatte eine Tante in Beirut Tareks Nummer ausfindig gemacht. „Sie sagte mir, dass ich Nader Jurfesh heisse und ich begann die verschiedenen Taxigesellschaften in Ramallah abzuklappern. Vielleicht hatte ein Taxifahrer regelmässige Jurfesh Passagiere und wusste, wo sie wohnen.“ Die Suche schien aussichtslos. Am Ende war das Westjordanland dann doch klein genug. Ein Freund, der ein Importgeschäft für Kleider aus China in Ramallah betreibt, wusste von Tareks Familiensuche. Als er eines Tages einen Kunden mit Name Jurfesh fragte, ob er mit dem verstorbenen Taufik Jurfesh verwandt sei, antwortete dieser: „Das war mein Onkel.“ Von Lämmern und Hochzeiten Die Verwandten sind so erfreut über den späten Familienzuwachs, dass sie gar nicht mehr gehen wollen. Und als Abu Jusef und der Scheich nach einigen Stunden Kaffee- und Teetrinken die Wohnung verlassen, flüstert Tarek: „Hoffentlich bringen sie jetzt kein Lamm, das sie hier schlachten wollen.“ Die zwei Männer kommen ohne Lamm, dafür mit vollen Einkaufstaschen voller Süssigkeiten und Sprudelgetränken zurück. Die Tante wirft immer wieder die Hände in die Luft uns sagt: „Gott sei dank“ und „hoffentlich finden wir bald eine Frau für dich“, eine Aussage, die Tarek mit einem irritierten Lächeln quittiert. Am liebsten würden die Verwandten Tarek am selben Tag noch nach Kibiya bringen, aber Tarek glaubt nicht, dass er dorthin gehen wird, so lange die israelischen Soldaten noch Strassensperren aufstellen. Er hat eine Identitätskarte von Gaza. Erwischen ihn die Israeli hier, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass er zurück nach Gaza geschickt würde. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er bei der palästinensischen Polizei arbeitet oder dass er Arafats Adoptivsohn ist oder dass er eigentlich Nader Jurfesh heisst.