Zwei Monate vor dem geplanten Gaza Abzug, organisiert das israelische Medienzentrum Pressereisen in die Siedlungen von Gush Katif. Vorgeführt werden Siedler, die sich auf die Bibel und das heilige Land berufen und auf Sharon schimpfen. Abziehen werden sie trotzdem.
19. April, Gush Katif
Die Gruppenführerin, Dina Abramson, ist eine hübsche, 22-jährige Frau, die in der israelischen Siedlung Netzarim im Gazastreifen wohnt. Im Bus mit den gepanzerten Fensterscheiben sitzen Journalisten aus der ganzen Welt und sollen an diesem Tag zu den Siedlungen in Gush Katif, im Gazastreifen gekarrt werden. David S. Bedein, der Cheforganisator der Reise, hofft auf die Wirkung der persönlichen Begegnung zwischen Journalisten und einigen der 8500 Siedler. Diese fristen ähnlich den 1.5 Millionen Palästinensern, die im Gazastreifen leben, ein Inseldasein. Ein selbst gewähltes.
Nur im gepanzerten Wagen
An der Karni Kreuzung, dem einzigen Eingang zur Siedlung Netzarim, stehen Soldaten neben gepanzerten Wagen und Hunde liegen im Schatten eines Jeeps. „Das Problem in Netzarim sind nicht die Kassam Raketen, sondern der Weg bis nach Hause“, sagt Dina und meint damit die Teerstrasse, die von der Grünen Grenze durch den Gazastreifen bis zum Meer führt. Die Siedlung wurde 1972 von ideologisch höchst motivierten Bauern gegründet und liegt isoliert an der Peripherie der Grossstadt Gaza. Da die Strasse vollständig durch palästinensisches Gebiet führt, kann sie nur mit gepanzerten Wagen oder unter Militärschutz und nur zu bestimmten Zeiten befahren werden. Links und rechts der Strasse hat die Armee über einige hundert Meter das Land zerstört, so dass nur noch die Raupenspuren der Bulldozer zu erkennen sind. Palästinensische Terroristen sollen so frühzeitig erkannt und liquidiert werden, lautet die Erklärung der Reiseleiterin. Sandhügel und israelische Wachtürme zieren die Landschaft. Ab und zu steht ein herunter gekommenes palästinensisches Haus mitten in der Sandwüste, unklar ob es noch bewohnt oder bereits verlassen ist.
Von Gott versprochen
Die knapp 400 religiösen Einwohner von Netzarim haben eine atemberaubende Meersicht. Einen Fuss an den Strand oder ausserhalb der Siedlung zu setzten, bedeutet jedoch seit Ausbruch der Intifada Selbstmord. Deshalb bleiben die Siedler zu Hause und pflanzen Cherry Tomaten. „Wir wollen zeigen, dass die Kinder von Netzarim auch Fahrrad fahren, Jeans tragen und Hamburger mit Ketchup lieben“, sagt Dina, als der Bus das Sicherheitstor passiert hat. Auf dem Rasen am Eingang fährt ein orthodoxer Jude einen Rasenmäher um die Bäume und zwei Männer joggen die Strasse entlang. Auf einem Sandplatz spielen Teenager Fussball. Wer nicht in der Siedlung ist, pflanzt Cherry Tomaten. 70 Prozent des organischen Export Gemüses, das beispielsweise in Europa abgesetzt wird, kommt nach Angabe von David Bedein aus Gush Katif, 30 Prozent davon wird in Netzarim angepflanzt. Zudem beherbergt die Strandsiedlung ein Lehrerseminar. In einem kleinen Ausstellungsraum erklärt Dina, wieso die Siedler von Netzarim da bleiben sollen, wo sie sind: weil es in der Bibel steht, dass Gaza den Juden gehört. Hanan Kalner und ihr Vater, ein Rabbiner und Bewohner der Strandsiedlung, wiederholen, was Dina bereits gesagt hat: „Wir glauben, dass Gott uns das Land Israel gegeben hat. Ein spezielles Land für spezielle Leute. Nach zweitausend Jahren sind wird zurückgekehrt.“ Der Vater des Rabbiners wurde in Netzarim von den Palästinensern ermordet. Auch die Tante von Hanan wurde bei einem Besuch in Netzarim getötet. Trotzdem will die Familie nicht weg. Dies ist Heimat. Wenn der Abzug wie geplant im Juli durchgeführt wird, dann werde ihm zwar das Herz brechen, aber weder er noch seine Tochter werden Gewalt gegen die eigenen Leute anwenden, beteuert der Rabbiner. Auf dem Weg zur Synagoge treffen wir eine dieser Polittouristinnen, die erst vor wenigen Wochen, als der Abzugsplan bereits klare Sache war, in die Siedlung gezogen ist. Als Unterstützung, wie sie sagt. Die junge Lehrerin Hani Alfasi stösst einen Kinderwagen vor sich her und sagt: „Wenn alle Israeli verstanden haben, dass wir hier bleiben müssen, dann ist meine Mission erfüllt.“ Wird es jedoch zum Abzug kommen, dann wird auch Alfasi die Siedlung räumen. Sie sagt: „Wir sind ein Volk des Friedens, nicht des Krieges.“
Das kommerzielle Zentrum Neveh Dekalim
Wir verlassen Netzarim, fahren zurück nach Karni und entlang der Grünen Grenze Richtung Norden, dann vorbei an einem gelben Eisentor, Stacheldraht, wieder ins Herz des Gazastreifens. „Hier wurde eine Frau und ihre vier Kinder getötet“, kommentiert Bedein und der Bus überquert kurz darauf eine Brücke, die auf beiden Seiten mit Betonmauern versehen ist. Unter der Brücke fahren gelbe, palästinensische Taxis. Panzer und Gewächshäuser wechseln sich im Strassenbild ab. Später eine Beduinensiedlung, eine Ansammlung von Zeltkonstruktionen aus Plastik, zwischen der Kinder und Esel stehen. Der Bus fährt ins kommerzielle Zentrum des Siedlungsblocks, nach Neveh Dekalim. Hier wohnen über zweieinhalb Tausend Einwohner. Es gibt acht Synagogen, Metallverarbeitungs- und Teppichfabriken, Schulen, ein Forschungszentrum der Sinai Region und ein Minizoo wird als Touristenattraktion angepriesen. Beim Mittagessen – Biohühnchen und Salat – erzählt der Anwalt Zvi Grünglück und seine Frau, wieso sie vor wenigen Wochen von Ranana, einer Stadt nördlich von Tel Aviv, nach Neveh Dekalim gezogen sind, nämlich um die Siedler zu unterstützen. Die Leute von hier wegzuschicken sei ein Trauma für die gesamte Gemeinschaft. Dass sie ihre eigenen fünf Kinder aus der Schule genommen haben, um sie nach Neveh Dekalim zu bringen, scheint ihnen dabei legitim, schliesslich sei das eine freiwillige Entscheidung gewesen. Später sagt Grünglück: „Uns hat man aus Europa vertrieben, deshalb sind wird hier.“ Die Vertreibung Tausender Palästinenser aus dem heutigen Israel und die Armut dieser, sieht der Anwalt in keinem Zusammenhang mit Israel. „Für die Palästinenser gibt es genügend Platz auf dieser Welt. Aber nicht in Israel.“
Der Verräter
Im Zentrum von Neveh Dekalim befindet sich auch ein kleiner Shop für elektronische Geräte. Die Scheiben sind mit Farbe verschmiert und der Laden ist geschlossen. Der Ladenbesitzer, der in einem Van heranfährt erklärt die Schmiererei: „Ich habe öffentlich gesagt, dass ich abziehen werden, sobald ich die Entschädigung erhalten habe.“ Nach dieser Entscheidung musste er den Laden schliessen und wurde von den Neveh Dekalim Bewohnern drangsaliert. Hätte er seine Entschädigung, wäre er längst weg. Am Nachmittag kommt der Verteidigungsminister Mofaz nach Neveh Dekalim. Die Leute fordern lauthals seinen Rücktritt. Dazwischen auch die lokale Cervelat Prominenz, der Michael aus dem Allgäu, der „für die Sicherheit der Gemeinde“ zuständig ist. Er ist vor einigen Jahren zum Judentum übergetreten und rennt seit diesem Zeitpunkt mit seinem Kleinkaliber in Neveh Dekalim umher. Wenn der Abzug kommt, dann will jedoch auch er gehen und mit ihm, so sagt er, werden alle anderen auch abziehen.
Abfindungsgarantie
Am Eingang der nächsten Siedlung Kfar Darom steht ein Wegweiser, der nach Be’er Sheva weist, neben einem Panzer. „Zu eurer Rechten seht ihr eine Kassam Rakete“, sagt Dina und zeigt auf die rostigen Überreste einer Rakete die auf dem Vordach von Noga Cohens Haus liegen. Cohan erzählt wie drei ihrer Kinder Teile ihrer Beine bei einem palästinensischen Angriff auf den Schulbus im November 2000 verloren haben. Sie illustriert die Erzählung mit Fotoausschnitten aus den Zeitungen und sagt: „Bevor mein Haus an Terroristen weitergegeben wird, zerstöre ich es mit eigenen Händen. Eine Terroristen Fabrik wird es nicht.“ Cohan ist wütend auf die Regierung. Sharon habe sie hier angesiedelt. Jetzt vertreibe er sie wieder. Da solle noch einer verstehen, wie dieser Mann ticke. Das sei eine Kapitulation vor den Terroristen und bringen tue es doch nichts. Auch Iris Hamo kann die Regierung nicht verstehen. Sie ist vor 17 Jahren in die kleine Siedlung Pe’at Sadeh gezogen. Heute liegt die Siedlung verwahrlost da. Einige Häuser stehen seit Jahren leer, da ein Ansiedlungsprojekt von Sharon nicht funktioniert hatte und die arbeitslosen Neuzuzüger sich nicht in die Gemeinschaft integrieren konnten. Die Bewohner von Pe’at Sadeh haben sich gemeinsam bei der Regierung stark gemacht. Wenn sie weg müssen, dann wollen sie zumindest die Garantie haben, dass sie zusammen bleiben können. Eine Familie mit einem Haus von 200 Quadratmetern soll nach Angabe von Hamo zirka 175 000 Dollar erhalten. „Wir sind keine Clowns. Wenn wir gehen, dann wollen wir wenigstens dafür entschädigt werden“, sagt Hamo und klingt für einmal sehr vernünftig.