Unbewältigte Vergangenheit palästinensischer Familien
Selbstmordattentate von Palästinensern haben über manche israelische Familie Trauer und Verzweiflung gebracht. Doch wie gehen die Familien palästinensischer Attentäter mit der Tat und dem Tod ihres Kindes um? Nach der Überraschung über die Tat suchen Eltern oft in der Verdrängung Zuflucht.
Nablus, im März
«Was macht ihr da?», fragte Ismail Atalla den israelischen Soldaten, als dieser mit einem Sprengstoffexperten mitten in der Nacht in das Haus seiner Familie im Flüchtlingslager Balata bei Nablus eindrang. Die Israeli untersuchten die Räume und berechneten die Menge Sprengstoff, die es zur Zerstörung des Hauses brauchen würde. «Ihr habt doch meinen Sohn bereits getötet», insistierte Atalla, und der Offizier antwortete: «Du bist der Vater.» – «Das war die Entscheidung meines Sohnes, nicht die unsere. Was gibt euch das Recht, uns zu bestrafen, wenn wir nichts getan haben? So wird dieser Konflikt nie enden», antwortete Atalla. Bevor der Offizier das Haus sprengen liess, sagte er: «Das ist der Befehl.» Das Haus der Atallas wurde am 17. November 2002 gesprengt, zweieinhalb Monate nach dem Versuch des 18-jährigen Yusef Atalla, sich in der jüdischen Siedlung Bracha in die Luft zu sprengen. Er wurde von israelischen Soldaten abgefangen und tötete zwei von ihnen, bevor er selbst erschossen wurde.
Zurück im Flüchtlingslager
Ismail Atalla kramt eine Foto hervor, auf der ein Haus zu sehen ist, das in sich zusammengestürzt ist. «Ich habe ein Leben lang für dieses Haus gearbeitet. Das Haus und die Hühnerfarm im unteren Stockwerk haben mich das ganze Vermögen gekostet», beklagt sich der Mann. Vom Roten Kreuz erhielt die Familie am nächsten Morgen ein Zelt. Über diese Geste muss Atalla heute noch lachen. Die Atallas zogen für einige Wochen in das Haus von Ismails Eltern. Danach bezahlte die palästinensische Autonomiebehörde ein Jahr lang die Miete eines Hauses im Flüchtlingslager Balata sowie weitere 1800 Dollar im zweiten Jahr und 3300 Dollar für die verlorenen Hühner. Immer und immer wieder erzählt der Vater von seinem Haus mit der Eingangshalle und dem Garten.
Nachdem seine Familie 1948 aus dem neu gegründeten Staat Israel vertrieben worden war und einige Jahre in Zelten in Flüchtlingslagern gehaust hatte, war das Haus Ismails grosser Stolz. Ruhig sei es gewesen und er habe seiner Familie ein gutes Leben bieten können, sagt der Vater. Heute lebt er mit seiner Frau, seinen fünf verbliebenen Söhnen und den zwei Töchtern in vier Räumen – zurück im Flüchtlingslager. Die Autowerkstätte zwischen dem Flüchtlingslager Askar und Nablus, in der er gearbeitet hatte, gibt es nicht mehr, und die Familie lebt vom Einkommen der drei Söhne. Sie verkaufen Babywindeln und Kleider, die aus China importiert werden, auf den Strassen in Nablus.
Nichts hätten sie gewusst von Yusefs Vorhaben, versichert Amira Atalla, die Mutter. Yusef habe eine gute Arbeit in einer Aluminium- Fabrik gehabt. Natürlich habe er gebetet, aber ein religiöser Fanatiker sei er ganz bestimmt nicht gewesen. Die Mutter hält eine Foto ihres Sohnes in der Hand, die dieser einen Tag vor dem Attentat von sich machen liess. Sie zeigt einen ernsten jungen Mann, der einen Sprengstoffgürtel umgeschnallt hat, ein Gewehr in den Händen hält und vor der Flagge der Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) steht. Seit Yusefs Tod hat die Familie nichts von der PFLP gehört, geschweige denn Geld erhalten, wie sie sagt. Yusef sei ein sehr ruhiger und friedliebender Mensch gewesen.
Keine Beweinung des Toten
Einen Monat vor seinem Attentat hatte sich Yusefs Cousin in Tel Aviv in die Luft gesprengt. «In diesem Monat hat sich Yusef verändert. Er hat nur noch wenig gesprochen, er wurde dünn. Ich glaube, es lag ein grosser Druck auf ihm», erzählt der Vater. Einen Tag bevor Yusef zu seinem Attentat aufbrach, war die israelische Armee mit Panzern ins Flüchtlingslager eingedrungen. Er sei nie wütend auf seinen Sohn gewesen, aber manchmal verstehe er nicht, dass die Palästinenser so viel Blut für ihre Heimat opferten und ihnen niemand helfe, sich nichts ändere, bemerkt der Vater. Sieben junge Männer aus Balata hätten in dieser Intifada ein Selbstmordattentat begangen, sagt er. Die Mutter klagt: «Das Schlimmste ist, dass die Israeli immer noch den toten Körper unseres Sohnes behalten. Wir haben ihn nie mehr gesehen. Das ist schlimmer als die Vertreibung von unserem Land im Jahr 1948.»
Die Sozialarbeiterin Faten ash-Shopi versteht den Kummer von Amira Atalla. Sie arbeitet seit Jahren mit Familien, deren Häuser von der israelischen Armee zerstört wurden, deren Kinder getötet wurden oder sich bei einem Attentat in die Luft sprengten. «Die Mütter gehen oft auf die Friedhöfe, finden dort aber ihre Kinder nicht. Sie wollen den Tod nicht wahrhaben. Wir versuchen, sie zum Sprechen zu bringen, die Emotionen hervorzuholen», sagt Shopi. Sie könne auch nicht genau sagen, warum einer plötzlich den Entschluss fasse, sich und andere in die Luft zu sprengen. Vor allem die Leute in den Flüchtlingslagern litten unter der Armut, dem Fehlen jeder Perspektive und den immer wiederkehrenden Angriffen der Armee, den Verhaftungen, den Misshandlungen. Da die Leute keine Möglichkeit hätten, mit der anderen Seite zu kommunizieren, müsse sich die Aggression wohl irgendwann und irgendwie entladen.
Kein anderer Ausweg?
Auch Khalid al-Khatib ist Vater eines Selbstmordattentäters. Sein 18-jähriger Sohn Ahmed hatte sich am 24. Februar 2003 in einem Dorf in Israel in die Luft gesprengt und so 4 Personen getötet und 14 verletzt. Den Ort, den er für das Attentat ausgesucht hatte, war das Dorf, aus dem seine Eltern 1948 vertrieben worden waren. Heute lebt die Familie in Balata. Wahrscheinlich habe sich sein Sohn rächen wollen, sagt Khatib. Ahmed gehörte den Aksa-Brigaden an, und sein bester Freund war kurz vor dem Attentat zu einer Haftstrafe von zwölfmal «lebenslänglich» verurteilt worden. Seit Ahmed auf der Welt sei, habe er zusehen müssen, wie die Armee Leute verhaftete, erschoss, verprügelte. Zudem habe er keine Arbeit gehabt. «Niemand will sterben. Hätten wir Arbeit, hätten wir ein anständiges Leben, würde sich auch niemand in die Luft sprengen», sagt Khatib. Er glaubt nicht, dass die Selbstmordattentäter Unsterblichkeit, die Gesellschaft schöner Frauen im Paradies oder Heldenruhm erwerben wollen. Das sei ein Mythos. Er fragt: «Wieso sollte mein Sohn von schönen Frauen träumen, wenn er selber eine wunderschöne Frau geheiratet hat? Das wäre doch purer Egoismus.»
Selbstmordattentäter-Prüfung
«Natürlich glauben die Selbstmordattentäter, dass sie ins Paradies kommen», sagen jene Männer der Aksa-Brigaden in Nablus, die die Selbstmordattentäter auf ihr tödliches Unterfangen vorbereiten. Die drei Männer, die nicht älter als dreissig Jahre sind, sitzen in einem rauchigen Zimmer in der Altstadt von Nablus und behaupten, sie hätten mehr als genug Freiwillige, die zu einem Anschlag bereit wären. Die Attentate seien von langer Hand geplant, und die Selbstmord- Kandidaten müssten zweihundert Prozent sicher sein, dass sie nicht im letzten Moment noch ihre Meinung ändern würden. Wenn sich ein Freiwilliger melde, werde er anfänglich mehrmals wieder nach Hause geschickt, um sich sein Vorhaben gut zu überlegen. Niemand werde zu einem Attentat gedrängt, und wer familiäre oder persönliche Probleme habe, werde abgewiesen.
Die Chefs der Aksa-Brigaden geben aber auch zu, dass manchmal Leute zu einem Selbstmordanschlag geschickt würden, welche die Ehre ihrer Familie beschmutzt hätten, indem sie mit den Israeli kollaborierten. Mit dem Anschlag wollten sie den Ruf ihrer Familie retten. Die Familien der Selbstmordattentäter wüssten aber nie vom Vorhaben ihrer Kinder. Der Grund für die Attentate sei einfach, sagen die Männer: «Mit einem Anschlag treffen wir die israelische Gesellschaft in ihrem Herzen, wir fügen ihr den grössten Schmerz zu. Das bringt sie sicher irgendwann dazu, dass sie sich mit uns an einen Tisch setzen werden, um zu diskutieren.»
2. April 2005, veröffentlicht in Neue Zürcher Zeitung