Mittwoch 30.3.05
Wer glaubt, dass mit der Wahl von Mahmud Abbas Ruhe in den besetzten Gebieten eingekehrt ist, der irrt. Ein Bericht eines Mittwoch Abends in Ramallah.
Ziriab ist DAS Lokal in Ramallah. Hier treffen sich allabendlich palästinensische Studenten, Gefängniswärter, ausländische NGO-Mitarbeiter, Künstler und Politiker. In Ziriab trinkt man das lokale Taybeh Bier und isst dazu Karotten oder ein Stroganov. An diesem Abend erzählt Samer, der zwar auf der Lohnliste der palästinensischen Polizei steht, jedoch nicht für diese arbeitet, seine Liebesgeschichte zum x-ten Mal. Er träumt seit Jahren von einem deutschen Mädchen, das er als 13-Jähriger in einem Ferienlager in Ostdeutschland kennen gelernt hatte und nun mit Hilfe eines verwaschenen Stoff-Pandabären wieder finden möchte. Am Tisch sitzt auch Tarek, Samers Freund und WG-Partner. Er ist einer von Arafats Adoptivsöhnen und arbeitet im Transportministerium, was ihm zwar nicht viel Arbeit jedoch einen kleinen Lieferwagen beschert. Er wurde eben von seiner Freundin verlassen – dabei ist mir nie ganz klar geworden, wie bezahlbar diese Freundin und deren Freundin war. An den hier oft gefeierten Privatparties haben sie sich so offenherzig gegeben, dass sie aus allen traditionellen Gesellschafts-Codes fielen. Neben der österreichischen UN-Arbeiterin Theresa sitzt der spanische NGO-Mitarbeiter Roberto am Feuer. Auch er weiss eine Anekdote zu erzählen. Eines trunkenen Abends wurde er von seinem palästinensischen Kollegen Mahmud dazu bewogen einen Schwur auf seine Mutter abzulegen, dass er Mahmud eine westliche Frau zum Heiraten finde. Zwei Monate verstrichen und Mahmud war bereits zornig über den mässigen Erfolg Robertos. Dann rief ihn Roberto an, nicht um ihm mitzuteilen, dass er eine Frau hätte, sondern, um sich nach Mahmuds Wohlbefinden zu erkundigen. Da jedoch Roberto weder Arabisch noch Mahmud Englisch spricht, endete das Ganze in einem Missverständnis: Mahmud glaubte, bald eine westliche Frau zu heiraten. Das bessere Leben in der Ferne winkte. Er und seine Freunde liessen sich vom Barber Bart- und Scheitelhaare schneiden und kleideten sich in den besten Anzug. Welches Malheuer, als Roberto Mahmud klar machen musste, dass die westliche Frau ein nicht gefundener Traum war.
Später an diesem Mittwoch Abend ging alles ganz schnell. Auf der Strasse vor dem Lokal wurden Schüsse abgefeuert. Das kümmert hier jedoch niemanden mehr, es gehört zum Alltag. Doch dann stürmten fünf oder sechs bewaffnete Männer ins Ziriab. Sie warfen den Weinständer um, schrien laut „raus, raus!“ und während wir hastig unsere Jacken packten und zur Eingangstür rannten, wurde das Lokal hinter uns kurz und klein geschlagen. In einem solchen Moment gehen einem viele Gedanken durch den Kopf. Ich fragte mich, ob sie jetzt gleich schiessen würden und wenn ja auf wen. Ich fragte mich, wer die Typen mit den wütenden Augen und Stimmen waren. Vor allem aber erschrak ich und wollte einfach nur raus. Im Lokal begannen die Männer zu schiessen.
Auch wenn für einen kurzen Moment Ausnahmezustand eintrat, versagt in der palästinensischen Gesellschaft etwas nie: die Clangesellschaft. Wer hier einer Familie angehört und Freunde hat, wird von diesen beschützt. So falle ich hier unter das Schutzrecht der Familie von Samer, welcher in wenigen Sekunden den Autoschlüssel von dem Auto in der Hand hatte, das am nächsten von uns weg war. Er fuhr mich nach Hause und sagte nur: „Ich kenne jeden einzelnen von denen. Das sind al-Aksa Typen. Kinder. Sie werden nervös.“
Was ist passiert? Der Zwischenfall im Ziriab hat einige Vorgeschichten. In einfachen Worten könnte man sagen: die al-Aksa Brigaden sind mit der Regierung nicht zufrieden, ja, sie sind stocksauer und haben Angst. Samer erzählt – und diese Informationen hat er von einem der al-Aksa Mitglieder: Abu Masen will die al-Aksa Brigaden nicht mehr in der Mukataa haben. Die Männer, die bis jetzt innerhalb der Mukataa Mauern gehaust haben, sollen weg. Viele von ihnen sind jedoch von Israel gesucht und fanden bis jetzt innerhalb der Mukataa Mauern noch einen gewissen Schutz. Um ihrem Unmut Ausdruck zu verleihen, haben einige von ihnen Abu Masen und den Chef eines Sicherheitsdienstes angegriffen. Sie glauben, dass Abu Masen die gesuchten al-Aksa Männer an die Israeli ausliefern und ihnen zudem die Waffen wegnehmen will. Wieso die Männer ihren Unmut gerade im Ziriab zum Ausdruck gebracht haben, ist unklar. Vielleicht geht es einfach darum, ein Zeichen der Stärke zu setzten.
Ein zweiter Vorfall, der das Fass noch zum Überlaufen gebrach hatte, war der neuste Martyrer, der eigentlich gar keiner ist. Ein von Israel gesuchtes al-Aksa Mitglied, das ich vor zirka vier Monaten zu einem Interview getroffen hatte, hat sich am Dienstag Nacht zu Tode gefahren. Es war ein einfacher Verkehrsunfall, bei dem ein stock-betrunkener Mann von der Strasse abgekommen und bei der Explosion seines Autos ums Leben gekommen war. Vor seiner Sauferei und Raserei hatte er einen Streit in der Mukataa mit anderen al-Aksa Männern. Seit Tagen schiessen diese Männer, wohl aus einer Kombination von Frust, Angst und Langeweile, innerhalb der Mukataa in die Luft. Dies hat dem Verunfallten nicht gepasst, ein Streit entfachte sich. Seit gestern werden nun Poster mit dem Verunfallten, ausgestattet mit Gewehr und in Heldenpose geworfen, überall in Ramallah aufgehängt. Alle Läden waren gestern geschlossen, so dass man nicht einmal Brot kaufen konnte. Es kursierten Gerüchte, dass der Mann von den Israeli gejagt wurde und dabei verunfallte. Dabei ist der vermeintliche Held ein betrunkener Verkehrstoter.
Wie und ob diese Geschichte mit den heutigen Ereignissen in Verbindung steht, ist unklar. Aber wer glaubte, mit Abu Masen kehrte der Frieden ein, der irrt. Vor allem intern brodelt es. Palästina gleicht einem Dampfkochtopf. Man kann nur warten, bis er explodiert.
Letzte Meldung um Mitternacht: Abu Masens Büro wurde in Trümmer geschossen.