Marhaba! Nachdem der alte Mann begraben ist und die internationalen Medien abgezogen sind, ist in Ramallah wieder Ruhe eingekehrt. Geschichten gibt es immer noch. Gruss Karin Auf ihrer Identitäskarten von Gaza steht „Lina Yassir Arafat“. An den Checkpoints bringt Lina der prominente Familiennamen jedoch wenig: einmal wurde sie neun Stunden am Kalandia Checkpoint zwischen Ramallah und Jerusalem aufgehalten. Lina gehört wie Zina, Rana und Tarek zu den 75 Adoptivkinder des verstorbenen Yassir Arafat. Fünf der Adoptivkinder tragen den Namen Arafats, sie wurden ohne jede Spur zu einer Familie gefunden. Als die israelische Armee am 16. September 1982 das Flüchtlingslager Sabra und Shatilla im Libanon angegriffen hatte, wurden Lina und Zina zu Vollwaisen; weder ihr Familienname noch ihre Eltern überlebten. Yassir Arafat nahm sich den Waisen an, brachte sie nach Tunis, wo sie im „Haus der Gnade“ lebten. „Abu Ammar besuchte uns drei, viermal die Woche. Er lehrte uns Dabka tanzen, erzählte Geschichten und manchmal konnten wir sogar seine Keffiya auf den Kopf setzten“, erinnert sich Zina. Sie kramt in einem Couvert mit Fotos, das Arafat umgeben von Kindern an einem Tisch zeigt, auf dem Hühnerbeine, Tomaten und Getränke stehen, sogar Zatar und Mango hätte er für seine Schützlinge aus Agypten einfliegen lassen. Nach den Oslo-Verhandlungen sind die Adoptivkindern nach Gaza gezogen und im Jahr 2000 nach Ramallah. Viele haben bereits geheiratet, wohnen heute in Gaza oder im Ausland, in Ramallah leben heute nur noch sechs. Die verbliebenen Adoptivtöchter in Ramallah wohnen gemeinsam in einer Wohnung in einer noblen Gegend von Ramallah. Drei Arafat Porträts hängen an den Wänden und eines steht gerahmt auf dem Tisch neben einer Schüssel mit Baklawh, einem Gebäck mit Pistazien. Die Wohnung ist sauber und vom Lehnstuhl, der in der Veranda steht, liegen die Hügel im Licht der untergehenden Sonne. Aus kleinen Lautsprechern strömt die melodiöse Reziation von Koranversen. Lina, Zina und Rana führen ein normales Studentenleben; sie lernen, besuchen Freunde und reisen in den Grenzen des Westjordanlands. Ihre Miete, ihr Studium, ihr komplettes Leben wurde bis zu seinem Tod von Arafat finanziert. Ob auch die neue Regierung spendabel bleibt, ist für Rana unklar: „Abu Ammar hat uns versprochen, dass uns niemand unser Recht nimmt – aber wer weiss schon, was passieren wird?“ Denn auch wenn alle wissen, das dies Arafats Kinder sind; auf einem Papier steht das nirgends. Was die neue Regierung bringen soll, ist denn auch den Mädchen unklar. Wahrscheinlich werde Abu Masin (Mahmud Abbas) der neue Präsident, aber zu diesem Mann hätten sie nur wenig Kontakt. Auch Suha Arafat kommt in den Beschreibungen des ungewöhnlichen Familienleben nur als „die Frau von Abu Ammar“ vor. Ihre Einmischung in die Politik, ihre Erbansprüche lässt Tarek keine guten Worte über die Frau, die das Leben in Paris jenem in Ramallah vorzieht, verlieren. Lina träumt davon einmal Diplomatin zu werden. Wie viele junge Palästinenser möchte sie ins Ausland, weg von den Checkpoints, weg von dem begrenzten und überall eingegrenzten Leben. Tarek arbeitet seit Abschluss seines Politologiestudiums im Innenministerium. Er ist vor wenigen Minuten von der Mukataa gekommen, wo er für seinen Adoptivvater gebetet hatte. „Eigentlich sollten die Menschen zu uns kommen und uns kondolieren. Wir haben schliesslich unseren Vater verloren“, beklagt sich Zina. Aber bis jetzt ist noch niemand gekommen. So sind die jungen Frauen selbst zur Mukataa gegangen, haben den neuen Führern im grossen Saal die Hand geschüttelt, einige Schluck schwarzen, ungezuckerten Kaffee getrunken und eine Dattel gegessen und sind dann wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt. Wirklich verstehen, was passiert sei, könnten sie das alles noch nicht, sagt Rana. Schlechte Worte findet niemand für den Verstorbenen. Das hat wohl weniger damit zu tun, dass man über einen Toten nicht lästern soll, sondern damit, dass Arafat seinen Schützlingen jeden Wunsch von Augen abgelesen hatte. Jedes Jahr reisten die 75 Adoptivkinder in die Ferne: nach Finnland, Algerien, Frankreich oder Holland. Sie reisten jeweils in zehner Gruppen und übernachteten bei Gastfamilien. „Yassir hat nie nein gesagt, nie“, sagt Tarek, der nur etwas kritisiert: „Unser Abu hat viel zu viel gearbeitet. Deshalb haben wir ihn in Ramallah viel weniger gesehen als noch in Tunis.“ Auch in Tunis wollte Arafat das unerreichbare Palästina mit allen Mitteln aufrecht erhalten. Dazu hatte er den Kindern Videokassetten von den Flüchtlingslagern in Jenin und Nablus vorgespielt und mit ihnen Volkslieder gesungen. Und als Tarek sich in Gaza nach Tunis gesehnt hatte, wurde der Abu wütend und sagte: „Das hier ist deine Heimat, das ist sie.“ Niemand weiss, was die Zukunft bringt. Tarek, Lina, Zina und Rana haben sich alle in die Wählerlisten eingetragen, aber jetzt, da ihr Favorit tot sei, wollten sie nicht mehr wählen. „Was für einen Sinn hat denn das? Die sind doch alle gleich“, sagt Zina und räumt die Kaffeetassen weg. PS: Jetzt ist alles vorbei. Die internationalen Medien, die in den vergangenen Tagen wie ein Heuschreckenschwarm über die Stadt hergefallen sind, sind abgezogen, zurück bleibt die Trauerstimmung, die Läden bleiben geschlossen. Dabei beginnt die wirklich interessante Zeit wahrscheinlich erst jetzt. So war ich gestern im Grand Parc Hotel, dem Palace von Ramallah. Hier hat sich in den vergangenen Tagen die ganze politische Elite versammelt. Als wir gestern Nacht um zwölf zu einem Mitternachtstee vorbei schauten, sass Aref, einer der engsten Mitarbeiter von Mohammed Rajid, dem Finazberater Arafats mit Said, dem PR-Chef des Palestine Satelite TV, beim Tee. Wir setzten uns dazu. Wahrscheinlich wird dies in den nächsten Wochen der beste Ort sein, um mehr als blosses medientaugliches Politgeseif zu erfahren. In den frühen Morgenstunden wollte mich Samir dann nach hause fahren. Auf halbe Strecke war dann Ende, das Auto hatte kein Bezin mehr. Das sind die Folgen der letzten Tage, in denen die Polizei all die mit bösen Worten bestrafte, die ihre Läden und Tankstellen trotz der verhängten Trauer offen liessen.