Am frühen Morgen des 26. Dezembers 2004 rüttelte ein Erdbeben Prinz Rashid Yusuf und seine Familie aus dem Schlaf. Es bebte auf den Nikobaren. Schreie erfüllten Rashids Haus. Die Familie rannte ins Freie und starrte auf das Meer – es zog sich langsam zurück. „Ich dachte: Das ist das Ende der Welt. Doch ich hatte keine Angst. Wenn Gott dieses Ende für uns ausgewählt hatte, so war er gnädig: wir würden alle zusammen gehen“, erinnert sich Prinz Rashid. Seine Mutter aber rief: „Das Meer kommt zurück! Rennt auf den nächsten Hügel!“ Kurz darauf kam die erste Welle, dann die zweite und dritte. Sie zerstörten alles. Rashids Familie überlebte, aber ihr Dorf wurde komplett zerstört, genauso wie alle anderen Stranddörfer auf den Nikobaren.
Mehr als 230 000 Menschen starben durch den Tsunami, beinahe zwei Millionen Küstenbewohner wurden obdachlos. Die Nikobaren, eine kleine Inselgruppe im indischen Ozean, wurden hart von den 15 Meter hohen Wellen getroffen. Beinahe 3500 Menschen kamen um, Hunderte auf der Insel Nancowrie, auf der Rashids Familie seit Generationen einen indigenen Stamm anführt. Bewohner von Inseln, die Kilometer weit entfernt lagen, wurden von den Wellen auf Nancowrie gespült. Palmen brachen wie Streichhölzer; Kokosplantagen, die Haupteinnahmequelle der Inselbewohner, wurden verwüstet. Der Tsunami brachte Tod und Verderben, aber schlimmer sei der Tsunami der Hilfsgüter gewesen, sagt Rasheed.
Ich treffe Rashid in Port Blair, der Hauptstadt der Andamanen und Nikobaren Inseln. Die verschlafene Stadt liegt mehrere Bootsstunden nördlich von Rashids Heimatinsel Nancowrie entfernt. Bis heute verbietet die indische Regierung Ausländern den Zutritt auf die Nikobaren. Dort leben ausschliesslich Indigene. Die Marine und Armee nutzen die Inseln als äussersten Stützpunkt ihrer Verteidigung.
Prinz Rashid fährt mich in seinem Honda an seinen kleinen Privatstrand. Er hat das Stück Land erst kürzlich gekauft. Nicht für sich, sondern, um die Kultur seines Stammes künstlich am Leben zu erhalten, sagt der Ureinwohner, stellt sein Auto ab und marschiert zur Bucht. Glatt und türkisblau liegt das Meer an diesem Morgen da. Der Strand ist gesäumt von Kokospalmen und Laubbäume. Eine Tafel warnt vor Krokodilen. Rashid wirkt mit seinen knallroten Turnschuhen, der gespiegelten Sonnenbrille und dem MacBook Air in der Hand wie ein hipper Unternehmer aus einer indischen Grossstadt. Es wirkt paradox, wenn er davon spricht, seine indigene Kultur zu erhalten – aber genau das tut er, unaufhörlich. Diese Kultur, so sagt er, sei mit dem Tsunami weggefegt worden. Schuld gibt er der Regierung und den Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Wie ein zweiter Tsunami seien diese über die Inseln hereingebrochen. Die Inselbewohner, die zuerst in Regierungslager untergebracht worden waren, wollten so schnell wie möglich auf ihre Inseln zurückkehren. „Wir sagten: Gebt uns Werkzeug, dann können wir arbeiten und unsere Dörfer selbst wieder aufbauen. Aber weder die Regierung noch die NGOs hörten auf uns. Sie brachten uns Decken, die wir im tropischen Klima nicht brauchen konnten. Dann zwangen sie uns Hütten auf, die wir nicht wollten.“
Die runden Stelzenhütten aus Holz, in denen mehrere Familien gemeinsam gewohnt hatten, wurden von der Regierung nicht wieder aufgebaut. Stattdessen stellte sie weit vom Strand entfernt Fertighäuser aus Wellblech für Kleinfamilien hin. Im tropischen Klima verwandelten sich die Hütten in Backöfen.
Nach den Infrastrukturprojekten begann die Regierung die Ureinwohner grosszügig mit Geld zu entschädigen. Familien, die Angehörige verloren hatten und deren Kokosplantagen zerstört worden waren, erhielten Tausende von Franken. Unsummen auf einer Insel, in der bislang kaum jemand Geld verdient hatte. Jene, die Werkzeuge gefordert hatten, um ihr Leben selbst wieder aufzubauen, verstummten, sagt Rashid: „Das Geld und der Alkohol, den meine Leute damit kaufen konnten, begeisterte alle. Unser Stamm lebte schon immer stark in der Gegenwart, sparen lernten wir nie, so wollten alle das Geld so schnell wie möglich ausgeben. Wir kauften Fernseher, Motorräder, überteuerte Autos, die wir auf unseren Inseln nicht fahren konnten. Das meiste Zeugs liegt jetzt irgendwo rum, weil es niemand flicken kann und die Ersatzteile fehlen. Das Geld war wie der Teufel. Es hat unsere Zufriedenheit ruiniert.“
Natürlich widersprechen die Vertreter der Regierung, der NGOs und die Kirchenvertreter, die auf den Nikobaren nach dem Tsunami besonders aktiv waren: Die Hilfe sei bestens koordiniert und die Indigenen äusserst erfreut gewesen, sagen sie. Die Hilfe sei gut gemeint gewesen, aber das sei nicht gut genug, erwidert der Anthropologe Manish Chandi. Er forscht seit Ende der 90er Jahre auf den Nikobaren. „Weder die Regierung noch die NGOs wussten wirklich, was sie taten. Sie verstanden die Indigenen schlicht nicht und brachten Teddybären und Anzüge auf die tropische Insel. Alles wurde gratis abgegeben, das war der Beginn des Desasters. Das Schlimmste aber waren die Entschädigungsgelder. Das Geld hat die Gesellschaftsstrukturen komplett verändert. Die relativ unabhängigen Inselbewohner, die sich bislang hauptsächlich selbst versorgt hatten, wurden in grosse Abhängigkeit getrieben. Noch heute, zehn Jahre nach dem Tsunami haben einige ihre Kokosplantagen nicht wieder aufgebaut – weil sie immer noch von den Entschädigungsgeldern leben. Das Geld hat sie schlicht faul gemacht.“
Alkoholismus nahm zu. Verfettung und Krankheiten, die es bislang nicht auf der Insel gegeben hatte, breiteten sich aus. Auch Rashids Familie, die auf Nancowrie, die meisten Kokosnussplantagen besessen hatte, wurde reichlich entschädigt. Rashid lebt heute in Port Blair, hat ein grosses Haus, fährt ein schnelles Auto und hört laute Techno-Musik dabei. Doch der Schritt in die sogenannte Moderne zerreisse ihn, sagt er. Er leide an Depressionen, an Stress, etwas, das sein Stamm bislang nicht gekannt habe. Seit einiger Zeit steht er auch mit den indischen Armeevertretern im Konflikt: Sie wollen Teile der Insel Nancowrie in eine Basis verwandeln und versuchten Rashids Familie mit einem lukrativen Bauvertrag zu locken. Bislang ohne Erfolg. Und doch sieht er schwarz: „Wir sterben langsam aus, unsere Kultur stirbt.“ Deshalb habe er den Privatstrand gekauft. „Hier will ich ein Dorf bauen, in dem Touristen unsere Traditionen erleben können. Es soll ein richtiges nikobarisches Dorf werden. Denn heute sagen viele unserer Jugendlichen: Ich bin gestresst, weil ich Geld verdienen muss. Ich habe keine Zeit für unsere Kultur. Hier können sie beides vereinen und werden noch dazu bewundert. Es wird ein richtiges Open-Air Museum. Nur so werden wir und unsere Kultur überleben.“
Noch ist das bloss ein Projekt auf einem Stück Papier. Dass sich einige Nikobaren wieder ihrer Kultur besinnen und sogar die traditionellen Stelzenhäuser aufbauen, hat einen anderen Grund: die Fertighäuser der Regierung zerfallen langsam, das Geld ist aufgebraucht. Wer überleben will, muss arbeiten.
Publiziert in Neue Wege, Dezember 2014