März und April 2020 war die Zeit, als ich den Frühling wiederentdeckte. Es war ein unerwartetes Geschenk. Ich verdanke es nicht nur Corona, sondern auch dem Pendeln, dem Weltenpendeln.
Anfang März kam ich aus Bangkok nach Rosenheim. Kahl und braun präsentierte sich die Flutmulde am Inn. Eigentlich hatte ich nur einen kurzen Besuch geplant, doch dann kam Corona. Thailand machte die Grenzen dicht und ich blieb in Bayern stecken. Nach dem ersten Frust, dass mir die Rückkehr in meine Wahlheimat verwehrt war, begannen die Frühlingsentdeckungen. Wann hatte ich zuletzt einen so angenehm kühlen Luftzug auf meinen Wangen gespürt? Kindheitserinnerungen wurden wach – an frischen Wind und dürre Brombeersträucher, wenn wir jeweils zu Ostern im Wald nach Schokohasen und Eiern gesucht und nicht alle gefunden hatten. Da war dieses Gefühl der Melancholie.
Pendeln bedeutet, sich zwischen unterschiedlichen Welten zu bewegen und diese in ihrer jeweiligen Eigenheit besser zu erkennen. Distanz – örtliche und zeitliche – schärft diese Wahrnehmung.
Anfang März roch die Luft noch nach Schnee, doch bald mischten sich farbige Duftnoten ein: Bärlauch, Pollen, Lavendel, das erste geschnittene Gras und feuchte Erde nach einer Regennacht. Mehr Erinnerungen tauchten auf: Die Schneckenrennen auf dem Spielplatz vor mehr als dreissig Jahren. Wie sie da angekrochen kamen, all die Weinberg- und Nacktschnecken und wie wir versuchten, sie in Rennbahnen zu pferchen, aus denen sie doch ständig ausbrachen. Manchmal stopfte ich die Schnecken in die Hosentasche, weil ich sie meiner Mutter zeigen wollte – und vergass sie dann… Und jetzt die Farben! Wie dieses kahle Braun langsam einem zarten und immer satter werdenden Grün wich. Baumkronen wie Schneebälle, nur dass darin Bienen summten, und am Boden wurden bunte Teppiche ausgerollt. April ist der Monat, da violette, gelbe und rosa Primeln ihre Köpfe recken. Das ist so seit ich denken kann. Sie wuchsen auch an jenem steilen Abhang, den jeden Winter ein paar Autos hinunterkullerten, weil die Autofahrer die Kurve nicht kriegten auf der Hauptstrasse, an der ich aufwuchs. Doch weder die Farbe der Autos, noch die Gesichter der verletzten Autofahrer sind mir geblieben, sondern die bunten Blumensträusse, die ich dort an jedem 10. April pflückte, dem Geburtstag meiner Mutter. Ob wir uns bewusst an das Schöne erinnern, und die Zeit, unserem Wohlbefinden zuliebe, das Düstere wegfiltert?
Im April 2020 nun, als die Primeln und Tulpen zu blühen begannen und der Löwenzahn die Wiese in ein gelbes Meer verwandelte, grasten die Schafe neben dem Inn in Rosenheim. Es war unfassbar schön. Hätte ich nicht jahrelang in Megastädten gewohnt, in Neu Delhi und Bangkok, ich hätte diese Schönheit wohl kaum bemerkt.
Frühling hatte ich seit elf Jahren keinen mehr gesehen, da ich in asiatischen Grossstädten lebte und nur im Sommer nach Europa kam. In Neu Delhi gab es keine Frühlinge. Die Stadt ist rau, die Übergänge sind hart. Es gibt den Sommer, in dem man bei 40 bis 50 Grad Celsius um kühle Luft in klimatisierten Räumen ringt. Dann kommen die kühleren Monate, in denen man wieder nach Luft ringt, weil die Luftverschmutzung unerträglich ist. Dann wird es so klirrend kalt, dass man sich nicht mehr vorstellen kann, wie sich der Asphalt im Sommer in eine klebrige Masse verwandelt. Aber der Frühling, der kommt nie. In Bangkok ist es ähnlich, nur dass die Übergänge dort genauso wie die Menschen sanfter sind als in Delhi. Doch habe ich ihn vermisst, diesen europäischen Frühling? Eigentlich nicht.
Manche Menschen verlassen ihr gewohntes Umfeld nie, weil sie glauben, nur hier könnten sie überleben. Sie halten ihre Welt und alles, was sich darin befindet, für nicht ersetzbar: die Sprache, die Blumen, die Joghurtauswahl in der Migros, die Jass-Kollegen und der freundliche Zahnarzt. Wenn man zwischen Welten pendelt, merkt man sehr schnell: Alle Welten sind reich, voller Wunder und grenzenlos, wenn man sich nur in ihnen umschaut, sich auf sie einlässt, in sie eintaucht. Die asiatischen Grossstädte haben zwar keine Frühlinge, dafür aber donnergrollende Blitzschauspiele im Monsun und von schwerem Orchideenduft geschwängerte Gärten.
Weltenpendeln bedeutet nicht einfach Schönes durch anderweitig Schönes zu ersetzen. Und es heisst auch nicht, dass sich nur in offensichtlich geordneten Welten Schönes entdecken lässt. Pendeln bedeutet, eine neue Perspektive zu gewinnen, auf die ganz persönliche innere Welt und auf die, aus der man kommt.
Nehmen wir Gaza: Ein winziger Küstenstreifen, mit 1.8 Millionen Menschen komplett übervölkert, mit Stacheldraht und Mauern in ein Freiluftgefängnis verwandelt und regelmässig seitens Israel unter Beschuss. Von aussen betrachtet: die Hölle auf Erden. Als ich Mitte zwanzig war, tauschte ich mein Zuhause in der Schweiz freiwillig gegen eine kleine Einzimmerwohnung am Strand von Gaza.
Wenn ich jeweils in der Nacht auf meiner Terrasse stand, mit Blick über das Mittelmeer, suchte ich den Himmel nach den Kampfhelikoptern ab. Ich konnte sie hören, aber nicht sehen. Ich lernte die Angst als treue Begleiterin kennen – doch sie alleine bringt noch niemanden um. Man kann sie überwinden, in Schach halten, austricksen, wenn man nur die Schönheit nicht aus den Augen verliert. Die sternklaren Nächte. Die schnellen Galopp-Ritte über den Sandstrand. Die Olivenseife auf nasser Haut im Dampfbad der Altstadt von Gaza. Die Vorfreude kurz vor Sonnenuntergang im Ramadan, bald mit warmem Hummus und einem dampfenden Stück Pita-Brot das Fasten brechen zu können.
Pendeln bedeutet, Schönheit überall zu finden, die eigenen Grenzen zu verschieben, Grenzen hinter sich zu lassen, um aus einer Welt, einer Heimat, viele zu machen. Und wenn Grenzen geschlossen werden, so wie im Frühling 2020, entdeckt man manchmal alte Welten wieder neu. Und man entdeckt, dass man auch im Innehalten zwischen den Welten hin und her pendeln kann. Ganz ohne Aufwand, in der inneren Welt der Erinnerung.
April 2020, Rosenheim