Vor Corona lockten Sandstrände und Abgeschiedenheit ausländische Touristen auf die thailändische Insel Koh Phayam. Seit Corona bleiben die Touristen mehrheitlich weg. Den Inselbewohnern ist das egal, genauso wie die Pandemie.
Von Karin Wenger
«No Babies» steht in grossen, roten Lettern auf einer Holztafel am Eingang der «Hippy Bar». «Ich will hier keine Touristengruppen und keine Babies. Das ist eine Bar, und in einer Bar haben Kleinkinder nichts zu suchen. Hier sollen die Leute ungestört trinken können», erklärt Jimmy, der Gründer und Besitzer der «Hippy Bar». Der Thailänder erfüllt alle Klischees eines Strandbarbesitzers: spitzbübisches Gesicht, von einer schwarzen, wilden Lockenpracht umrahmt, einen fast aufgerauchten Joint zwischen den Fingern und einzig mit einem bunten Batiktuch um die Hüfte bekleidet. Einst schuftete er als Arbeiter in einer Autofabrik – ein Leben ohne Seele, ohne Gefühle, ohne Inspiration sei das gewesen. Dann ging er nach Bangkok, wo er in der Khaosan Road, dem Backpacker-Mekka, den Sinn seines Lebens fand: «Fun, Happiness, ein Leben ohne Überstunden.» In einer Bar lernte er einen neuen Freund kennen, der ihn überredete, auf seine Insel mitzukommen. Der Weg von Bangkok nach Koh Phayam führte neun Busstunden südwärts nach Ranong und vier Stunden auf einem Fischkutter ins offene Meer hinaus. Winzig klein und tropisch grün liegt Koh Phayam dort vor der westlichen Südküste Thailands im andamanischen Meer. Als Jimmy hier vor 17 Jahren von Bord ging, gab es kaum Inselbewohner, dafür Nashornvögel, die mit ihren gewaltigen gelben Schnäbeln Früchte zerlegten, Adler, die über den Sandstränden kreisten, Fischer, die ihre Netze flickten und Cashewnuss- und Kautschukplantagen, die die Inselbewohner auf Anraten der Regierung angelegt hatten. Jimmy aber war weder wegen der Cashewnüsse, noch wegen der tropischen Vögel gekommen: «Ich wollte frei sein, ein einfaches Leben leben, ein Beachboy werden.» So gründete er eine Bar am «Buffalo Beach», einem Strand, der sich wie ein schützender Arm um das türkisblaue Wasser legt. Auf der Insel erzählt man, im ersten Jahr habe Jimmy nur acht Coca-Colas verkauft. Er sagt bloss: «Meine Schwester war so nett, mir anfangs Geld zu leihen.» Bald änderte sich das, die Bar wurde zum Treffpunkt und Touristenmagneten. Heute verlässt kein Besucher die Insel, ohne die «Hippy Bar» besucht und bestaunt zu haben.
Der Irrtum
Die erste Besiedelung von Koh Phayam basiert auf einem Irrtum. Laut einem Dokument des Kulturdepartements der Provinz Ranong ging das so: 1915 besuchte eine Delegation der Provinzregierung zum ersten Mal die Insel, von der geglaubt wurde, sie sei unbesiedelt. Doch als die Männer ankamen, merkten sie, dass die Insel bereits bewohnt war. Engländer hatten sich auf dieser Insel niedergelassen, da sie glaubten, Koh Phayam gehöre zu Burma und damit zum damaligen British Empire. Nachdem der Irrtum geklärt war, zogen die Briten ab und Thailänder, zuerst vor allem Muslime aus dem Süden, begannen nach und nach auf die Insel zu ziehen, den Dschungel zu roden und Reisfelder und Gemüsegärten anzulegen, die sie mit starken Zäunen vor den Wildschweinen schützten. Das Land wurde ihnen nicht geschenkt oder verkauft, sondern lediglich von der Regierung zu landwirtschaftszwecken verpachtet. So kamen zuerst die Bauern und erst viel später Aussteiger wie Jimmy.
Das Traumschiff
Jimmy’s «Hippy Bar» ist ein eigenes Universum: ein Piratenschiff, eine verwunschene Drogenhöhle, ein Ort, wo sein darf, was sonst verboten ist, ein Traumschiff, auf dem die Besucher an der Reling lehnen, aufs Meer blicken und den Horizont nach ihren Träumen absuchen. Jimmys Bar ist ein Kunstwerk, gewachsen über 17 Jahre, drei Stockwerke hoch, mit Ausgucken und Terrassen, einem Selfie-tauglichen Bug, zusammengezimmert aus Schwemmholz, herbeigetrieben aus Indien, Sri Lanka, Thailand und Myanmar, verziert mit angespülten Schätzen: Bojen, Glasscherben, kunstvoll verwobenen Muscheln und Perlmuttplättchen, die ihm Wind leise singen. Drei Mal hat Jimmy sein Werk wieder abgerissen, weil es ihn störte, dass die Touristen lieber Selfies von sich und seinem Schiff machten, statt ein Bier an der Bar zu bestellen. Die Bar liegt tief im Schiffsbauch versteckt, und vor ihr steht eine Harley-Davidson, mit pinkfarbenen und gelben Blumen bemalt. Ich stelle mir Jimmy vor, wie er langsam, die schwarzen Krauslocken vom Wind hochgewirbelt, auf seinem Motorrad über die Inselstrassen tuckert. Der Jimi Hendrix der Insel.
Dass ich Jimmy auf der Insel wieder begegne, steht ausser Frage. Koh Phayam ist zehn Kilometer lang und fünf Kilometer breit und hat die Form eines Kängurus. Die Strassen kann man an einer Hand abzählen. Sie sind so breit, dass sich zwei Mopeds kreuzen können, denn Autos gibt es hier nicht, nur Roller und ein paar Traktoren, um Zementsäcke und Cashewnüsse zu transportieren. Im April, bevor der Monsunregen die Luft sauber spült, weht der Wind den fauligen Geruch der gelben, überreifen Früchte, an denen die Cashewnüsse wie Wurmfortsätze kleben, über die Insel. In den Plantagen pflücken burmesische Arbeiterinnen und Arbeiter mit gekrümmten Rücken die Nüsse von den Früchten und verdienen dabei umgerechnet 30 Rappen für das Kilo Cashewnüsse. Doch davon erzählt Jimmy nichts, denn er verdient sein Geld nicht mit Nüssen, sondern mit hartem Zeug: Whiskey, Gin Tonic, Chang Bier und was sonst noch high macht.
An diesem Nachmittag sitzen jedoch keine Touristen auf den Holzbänken und bunten Kissen seines Schiffs. Nur ein paar Mönche sind von der Nachbarinsel Koh Chang zu Besuch gekommen. Statt im Insel-Kloster ihre Mitbrüder zu besuchen, gleiten sie durch die versteckten Winkel von Jimmys Reich, eine grosse Kamera gezückt, als ob sie damit den Zauber dieses verbotenen Reiches einfangen und mitnehmen könnten. Dann legen sie sich in die Hängematten und beginnen zu dösen, eingehüllt in ihre orangen Roben und die drückende Tropenhitze. Jimmy scheint das nicht zu stören, auch nicht, dass die Mönche Sodawasser statt Bier trinken, dass überhaupt kaum jemand mehr zum Trinken kommt: «Ich hatte zwölf Angestellte. Sie brauchten Geld, deshalb verliessen sie die Insel, als die Pandemie ausbrach, um auf dem Festland Arbeit zu suchen. Ich sagte: ‘Macht’s gut und kommt zurück, wenn alles wieder in Ordnung ist!’ Mich kümmert diese Pandemie wenig. Es ist, als hätte jemand die Zeit zurückgedreht und ich beginne wieder von vorne.»
Der Lockdown
Nicht nur in Jimmys Bar, sondern auf ganz Koh Phayam, ja, in ganz Thailand ist es ruhig geworden, seit die Regierung im März 2020 die Landesgrenzen schliessen liess, um das Virus auszusperren. Wochenlang verharrte das Land im Lockdown, in den es im Mai 2021 mit Ankunft der dritten Corona-Welle wieder zurückkehrte: Die Bars mussten schliessen, Restaurants, Massagesalons, Hotels ebenfalls. Die Zahl der ausländischen Touristen brach von fast 40 Millionen im Jahr 2019 auf nicht einmal sieben Millionen im vergangenen Jahr ein – denn, wer einreisen will, muss zuerst in Hotelquarantäne. Das ist teuer, und deshalb kommt kaum jemand, auch nicht nach Koh Phayam. Schliesslich ist das keine Insel für Reiche und Unternehmenslustige. Hier gibt’s weder Fünf-Sterne-Hotels, noch Full-Moon-Partys oder Kinderbetreuungsprogramm. Hierher kommt, wer seine Ruhe haben und dafür wenig zahlen will.
Die Japanerin
Chiyoko setzte vor mehr als dreissig Jahren zum ersten Mal einen Fuss auf die Insel, als noch kein Lonely-Planet-Eintrag das Paradies versprach. Damals gab es keine geteerten Strassen, nur ein Generator und erst ungefähr hundertfünfzig Inselbewohner und ein Elefant. Der Elefant wurde – je nachdem wen man fragt -, als Lastenträger und Arbeitstier auf die Insel gebracht, um bei der Rodung des Dschungels zu helfen oder war eines Tages zufällig aus dem Meer gestiegen, nachdem er vom Festland herübergeschwommen war. Die Bauern aus Ranong und Koh Samui hatten auf Anraten der Regierung längst Cashewnuss- und Kautschuk-Plantagen angelegt und sie sollten die Insel beschützen. Wer genügend Geld gehabt habe, hätte sich ein Gewehr gekauft, um Piraten abzuwehren, sagen die einen, «Dummes Gerede, auf diese Insel hat noch nie ein Pirat Fuss gesetzt!», die anderen. Ob Piraten oder nicht genau in diese Insel verliebte sich Chiyoko, die damals als Schulleiterin und Geschäftsfrau in Osaka lebte. Hier in der Abgeschiedenheit und Stille wollte sie ihr Ferienhaus bauen. «Nach zwei Jahren adoptierte ich einen streunenden Hund. Danach konnte ich nicht mehr weg. Wer würde sich dann um den Hund kümmern?», erklärt sie, weshalb sie bald ihr Leben in Japan aufgab, um auf der Insel ein neues zu beginnen. Auch wenn diese Erklärung absurd klingt, man glaubt Chiyoko, denn sie macht keine halben Sachen. Heute besitzt sie das Restaurant «The Kitchen Table», eine Kautschuk- und Cashewnuss-Plantage mit 6000 Bäumen, ein kleines Gästehaus, vier Hunde, sechs Katzen und 21 Hühner.
Was hat sie wirklich auf diese Insel gelockt und wieso ist sie geblieben? «Die Herausforderung! Ich liebe sie», sagt Chiyoko, die erst seit einem halben Jahr durchgehend Strom und fliessendes Wasser hat. «Wer so lebt», fährt sie fort, «muss anderen helfen und muss sich helfen lassen. Wer kann das heute noch?» Und die Pandemie? Wie erlebt sie diese schwierige Zeit? Chiyoko lacht: «Ich sehe die Pandemie nicht als etwas Negatives. Hier auf der Insel haben wir keinen einzigen Corona-Fall, es ist einfach etwas ruhiger. Wir Inselbewohner versuchen uns noch besser zu helfen, und ich habe endlich Zeit, Projekte anzupacken, die ich schon lange anpacken wollte.» Zum Beispiel ihre Plantage in eine Kokosnussplantage zu verwandeln. Das würde ihr in Zukunft mehr Geld einbringen als Gummi und Nüsse, und wenn die Gegenwart so schwierig sei, dann müsse sie eben für die Zukunft planen.
Surfen und Kiffen
«Ein Leben wie vor dreissig Jahren, so ist das jetzt hier auf der Insel», sagt Adisak Kawpong am nächsten Morgen. Kawpong wird wie viele Thailänder lieber bei seinem Spitznamen gerufen: Kob, Frosch. Ein Name, der hier niemanden erstaunt. Während der Tag auf der Insel von den Rufen der Vögel erfüllt ist, gehört die Nacht den Grillen und Fröschen. Ihr Zirpen und Quaken hängt zwischen den Gummibäumen, und wer nicht aufpasst, fährt die kleinen, glitschigen Froschkörper, die plötzlich im Licht des Mopeds auf der Strasse auftauchen, platt. Kob jedoch fährt selten nachts über die Insel. Die Nacht gehört den Fröschen, arbeiten tut man in der Früh. Zusammen mit seiner Frau Phimolrut Kamwpong führt Kob seit 18 Jahren die Hornbill-Hütten, zwanzig einfache Unterkünfte aus Holz, Bambus und Beton, benannt nach dem Nashornvogel, der noch immer auf der Insel wohnt. Die Hütten liegen in der Aow Yai, der grossen Bucht, dem längsten Strand der Insel an deren Westseite. Einsiedlerkrebse verarbeiten hier auf der Suche nach Mikroorganismen tagtäglich wie fleissige Fabrikarbeiter den Sand. Die Millionen von Sandkügelchen, die sie ausspucken, liegen wie eine weiche Fussmatte auf dem Strand – bis sie von der Flut weggeschwemmt werden.
Hier am Strand oder auf seinem Surfboard im Wasser findet man Kob. Jeden Tag unterrichtet er die Inselkinder und Jugendlichen in der Kunst, die richtige Welle zum richtigen Zeitpunkt zu erwischen. Die Eltern bezahlen ihn mit Boxen voller Süssigkeiten und Getränke, und Kob sagt, was Chiyoko schon betonte: «Wir müssen jetzt noch mehr zusammenhalten als sonst. Die Jungen dürfen nicht auf falsche Gedanken kommen, deshalb unterrichte ich sie gratis, damit sie beschäftigt sind.» Falsche Gedanken – das bedeutet Drogen, Yaba-Pillen, ein billiger Methamphetamin-Verschnitt, der in Thailand weit verbreitet ist. Yaba habe den Weg auch auf die Insel gefunden, doch hier sei es schnell und gründlich bekämpft worden. Noch heute leben nur wenige Hundert Einwohnern auf der Insel, da braucht es keine Polizei, Nachbarschaftskontrolle reicht. Nur die Hanfstauden, die meterhoch und wie kleine Wälder in so manchem Garten wachsen, werden geduldet, die Kiffer auch. Die Spielsucht sei viel gefährlicher und habe schon so manchen um sein Land und seine Inselzeit gebracht, sagt Kob. In seinem Garten wächst kein Hanf. Nebst den Kokosnuss- und Cashewnuss-Bäumen, deren Früchte jetzt auf Planen zum Trocknen ausgelegt sind, pflegt er in diesem Jahr die Bohnenstauden, Auberginen, Limonen, Papaya und Bananen besonders fürsorglich. Nur um die Passionsfruchtbäume kümmert er sich nicht mehr. Passionsfrüchte seien was für Touristen, die seien wild auf den süss-sauren gelben Saft, der sich so leicht zu Shakes verarbeiten und verkaufen lasse. Doch ohne Touristen kein Passionsfrucht-Shake.
Von Fröschen und Fischen
Zur Zeit ist nur einer von Kobs zwanzig Bungalows belegt, macht 21 Franken pro Nacht. Das Geld ist auch bei Kob knapp, aber auch das erinnert ihn nur an alte Zeiten. «Vor vielen Jahren kam ich als Bauer und Krabbenfischer auf die Insel und habe eine Plantage angelegt. Dann merkte ich, dass die Touristen den Strand lieben und dafür Geld zahlen, so bauten wir Bungalows. Jetzt hat mich die Pandemie wieder zum Fischer und Gärtner gemacht, und Gärtner sind nirgendwo auf der Welt reich. Jetzt essen wir wieder, was wir anpflanzen», sagt Kob, und es klingt nicht traurig oder bitter. Er spricht wie einer, der akzeptiert, dass auf die fetten Jahre magere folgen und der sich dementsprechend anpasst. Anpassen heisst im Inseljargon: Leben mit dem, was man hat, mit den Früchten, dem Gemüse, den Fischen und Krabben. Alles vermeiden, was Geld kostet, denn das ist knapp, und alles, was auf die Insel kommt, ist teuer, da es mit dem Schiff transportiert werden muss, und alles, was von der Insel weggeht, wird teuer und deshalb weniger begehrenswert auf dem Festland, weil es mit dem Schiff herbeitransportiert werden muss. Deshalb und weil die Preise in den letzten Jahren gefallen sind, haben die Inselbewohner mit ihrem Kautschuk und den Cashewnüssen immer das Nachsehen, wenn sie ihre Produkte auf dem Festland verkaufen wollen. Tourismus war deshalb die einfachste Einkommensquelle auf Koh Phayam. In den vergangenen Jahren entstanden kleine Hotels mit Namen wie «Lazy Hut», «Bamboo Bungalows» oder «Rasta Garden Bungalows», aber auch gehobenere Resorts wie das «Nitiporn Resort» oder das «Cede Boutique Beach Resort». Und doch haben alle etwas gemeinsam: Sie sind illegal. Denn laut der Regierung ist Koh Phayam immer noch ausschliesslich Landwirtschaftszone. Tourismus wurde zwar befürwortet und gefördert, eine offizielle Erlaubnis hat jedoch keines der Hotels auf der Insel. Das bedeutet auch, dass kein Hotelier auch nur einen Thai Baht Unterstützung der Regierung bekommen hat, seit die Pandemie begann und die Tourismus-industrie ins Bodenlose stürzen liess.
Sabai Sabai
Thai-Style nennt der Brite James Hudgell dieses Auseinanderklaffen von Vorschriften und Realität und das fröhliche Nebeneinander von Gegensätzen: «Regeln sind in Thailand das eine, was wirklich geschieht ist das andere, und meist erlassen unterschiedliche Departemente widersprüchliche Vorschriften, so dass man genau genommen immer eine Regel bricht. Deshalb musst du alles langsam angehen, langsam wachsen und so klein bleiben, dass sie dich auch ohne korrekte Papiere in Ruhe lassen, weil du zu wenig wichtig bist. So habe ich das gemacht.» Oder auf gut Thailändisch: Sabai, Sabai – alles mit der Ruhe, ganz gemütlich. «Sabai Sabai Beach Bungalows» heisst denn auch das kleine feine Boutique Hotel, das der Brite gemeinsam mit seiner thailändisch-ägyptischen Frau auf der Ostseite der Insel in der Nähe des Piers betreibt. Für ihn ist die Insel eine Art Pause, die nie zu Ende ging. Als 27-Jähriger brach er auf, um die Welt zu entdecken, jetzt ist er 41 und immer noch auf der Insel. Denn als er auf seiner Weltreise auf Koh Phayam ankam, merkte er, dass die Sandstrände, die für ihn das Paradies bedeuteten, für die Inselbewohner wertlos waren. Hier konnte man keine Plantagen anlegen. «Für 1000 Euro im Monat konnte ich 100 Meter Strand mit einem Häuschen, einer Grundwasserquelle und einem Generator mieten», erinnert sich James. Anfangs sei er jeweils in der Regenzeit im Sommer zurück nach England gereist, um in der Baufirma seines Vaters oder als Fitness-Instruktor Geld zu verdienen, doch bald generierte sein kleines Hotel selbst genügend Geld. «Ein Jahr führte zum nächsten, meine Bungalows waren immer belegt, und jedes Jahr fügte ich einen neuen hinzu. So ging das, bis die Pandemie begann…», sagt James, der jetzt 19 Bungalows besitzt. Doch als das Virus alles zum Stillstand brachte, seien viele Inselbewohner in Panik aufs Festland geflohen. James und seine Frau aber blieben: «Wir sahen viele traurige Schicksale, Leute, die alles verloren. Wir aber hatten genügend Reserven um auszuharren, und wir geniessen die geschenkte Zeit mit unserer kleinen Tochter. Es ist ein bisschen wie in der Regenzeit: Wenig Gäste und dafür Zeit, Reparaturen durchzuführen.» Wer die Pandemie überstehen wolle, müsse sich anpassen und dürfe nicht wählerisch sein, auch nicht was die Gäste betreffe. Früher hatte James fast nur westliche Klientel, nun bleiben die westlichen Touristen weg, dafür kommen mehr thailändische auf die Insel. Deren Bedürfnisse seien anders, anspruchsvoller: «Die thailändischen Touristen haben meist nur wenig Zeit. Sie kommen zwei, drei Tage, wollen vom Pier abgeholt werden und ein Zimmer mit Klimaanlage. Der Preis ist kein Problem, aber alles muss genau durchgeplant und organisiert sein. Ich freue mich auf die Zeit nach der Pandemie, wenn die Gäste wieder zwei, drei Wochen bleiben und sich wirklich entspannen.»
Jedem seine Insel
Es braucht zwei, drei Tage, um von der Stadtzeit, diesem hektischen, durchgetakteten Leben, in den ruhigen Inselrhythmus zu kommen, vom Selfie-Modus in den Sein-Modus umzustellen. Wirklich auf der Insel ankommen, bedeutet sich zu häuten, den Stadtpanzer getrost in eine Ecke zu stellen und dort zu vergessen. Ich merke, dass es egal ist, wenn ich eine Stunde auf ein Sandwich mit Ei und Schinken warte. Denn wo will ich auch hin? Was mehr gibt es zu tun, als auf dem Rücken im Meer zu liegen und den Kreisflug des Adlers über der Bucht zu beobachten? Klar, da sind die kleinen Entdeckungstouren: die Fahrt ans Nordende der Insel in die Bucht zur Monkey Bar. Doch die Monkey Bar ist verlassen und die kleinen Holzbungalows daneben auch. Nur die Hunde sind noch hier und freuen sich über Besuch. Das Personal aber scheint überstürzt abgereist zu sein. In der leeren Küche stehen die ungewaschenen Pfannen, doch aus der Leitung fliesst kein Tropfen Wasser mehr. Niemand hat das einfache Schlafzimmer im oberen Stock aufgeräumt – warum auch? Die Inselwirtschaft wird von burmesischen Gastarbeitern am Laufen gehalten, die nur wenig verdienen, und wenn niemand mehr kommt, wenn niemand mehr einen Lohn zahlt, verdienen sie gar nichts. Wer kann da Loyalität erwarten? Und selbst die, die noch etwas verdienen, fragen sich, ob es nicht an der Zeit sei, nach Hause zu gehen, nach Myanmar.
«Woher kommst du?», frage ich den Mann, der mir an einem Abend einen Gin Tonic an einer Strandbar serviert. «Myanmar… kennst du? Weisst du, was da zurzeit passiert?» – «Natürlich! Der Putsch, die Generäle, die so brutal gegen deine, ihre Leute vorgehen. Es tut mir so leid. Bist du schon lange hier?» – «Seit sieben Jahren. Ich verkaufe Drinks, serviere Pad Thai, doch jetzt bin ich nur noch auf Facebook, sehe die Toten, die Verletzten in meiner Heimat. Sie bringen sie um wie Tiere. Wir nennen die Soldaten Terroristen, Monster. Jene die gegen sie kämpfen, sind jetzt unsere Soldaten.» Er giesst den Gin auf das Eis und dann das Tonic dazu, steckt eine Zitrone an den Glasrand, dann wendet er sich wieder seinem Handy zu. «Wirst du hier bleiben?», frage ich. Er schaut auf: «Ich will nach Hause zurück, nach Myanmar. Ich will mit einer der ethnischen Rebellengruppen gegen die Regierungssoldaten kämpfen. Ich muss etwas tun!» Ob er noch hier sein wird, wenn ich in ein paar Monaten oder ein paar Jahren wiederkomme? Wie kann er Gin Tonic servieren, wenn er weiss, dass seine Familie jederzeit erschossen oder verhaftet werden kann? Was bedeutet diese Insel für ihn? Denn wie Jimmys Bar für die einen ein Traumschiff ist, für die anderen eine Drogenhöhle, scheint Koh Phayam für alle, die hier von Bord gehen, etwas anderes zu sein: Eine Auszeit, ein Fluchtort, ein Paradies, ein Gefängnis. Daran hat die Pandemie nichts geändert. Und doch ist hier alles eine Spur verschoben, als ob sich auf der Insel jeder eine eigene Welt, eine eigene Auszeit von der sogenannt normalen Welt geschaffen habe.
«Werden die ausländischen Touristen nach dem Ende der Pandemie auf die Insel zurückkommen?», frage ich Kob. Er wisse es nicht, sagt er. Es könne doch sein, dass mancher zwar die Pandemie überlebe, aber vielleicht danach keinen Job und nicht mehr genug Geld habe, um weit weg auf eine tropische Insel zu reisen. «Das ist nicht schlimm», sagt er und fügt nachdenklich hinzu: «Wir Menschen sind nur kurze Zeit auf dieser Welt. Sollten wir nicht lernen, glücklich zu sein trotz allem, auch trotz der Pandemie, ja mit ihr, statt uns ständig zu sorgen und zu ängstigen? Die Pandemie hat mich ärmer gemacht, aber ich lebe auf dieser Insel, sie, der Strand und das Meer, sind mein grosses Glück.»
Eine gekürzte Version von diesem Text wurde als NZZ Folio Reportage veröffentlicht: