Wellen am Strand. Sicht auf’s Meer. Erinnerungen ausgelöscht, weggewaschen, weggetragen mit dem Wind. Doch dann drehe ich mich um, sehe das Fotoalbum, die Mulden im Sand, noch immer mit Kleidern gefüllt. Zerfetzte Kleider. Auch ein kleines Holzkreuz ist da. Hier haben sie sich zusammengeduckt, Körper an Körper. Es waren Hunderttausende, die in den letzten Kriegswochen im Frühling 2009 auf diesem kleinen Streifen Land im Nordosten Sri Lankas auf den Tod warteten. Denn ehrlich: Niemand glaubte mehr, hier rauszukommen, lebend rauszukommen. Oder wie es Minakshi sagt: „Sie haben auf uns geschossen, vom Himmel, von der Erde, vom Meer.“ Minakshi hat überlebt. 40 000 andere haben es laut Vereinten Nationen nicht. Minakshi ist heute 30 Jahre alt. Ihr Mädchen schmiegt sich noch immer eng an sie, obwohl sie sieben ist, alt genug, um von der Mutter abzurücken. Minakshi sagt: „Wir waren alleine auf der Flucht, mein Baby und ich. Ich habe meinen Sari mit Sand gefüllt und ihn um mein Mädchen gelegt. Wenigstens sie sollte überleben.“
Minakshi ist klein und ernst und trägt einen langen Zopf über den hageren Schulterblättern. Sie entriegelt ihr Zimmer, das in der Nähe des Strandes liegt, und rückt den einzigen Plasticstuhl in die Mitte des kahlen Raumes. Sie setzt sich auf den Boden. Die Tochter zieht ihren schwarzgetupften Rock über die Knie, hält die Hand der Mutter. An der Wand hängen drei Fotos von drei Toten: von ihrem Mann, seinem Vater und seiner Tante. Alle starben 2009 im Krieg. Ihr damals 25-jähriger Mann wurde von einer Granate getötet, als er auf dem Weg zum Begräbnis seines Vaters war. Die Tante war Selbstmordattentäterin der Tamil Tigers. Wie sie genau starb, weiss Minakshi nicht. Für die Grausamkeit der Tigers bleibt sie blind. Nein, es stimme nicht, dass die Tigers Kinder rekrutiert hätten. Aber war sie selbst nicht 13 jährig, als sie den Seatigers, der Marine der Tamil Tigers, beigetreten war? „Ja, aber ich bin freiwillig beigetreten, um für ein Leben in Würde und Freiheit zu kämpfen und für einen eigenen Staat.“ Minakshi verliebte sich in einen Kämpfer, heiratete 2006 und gebar ihre Tochter. Das war das Ende ihrer militärischen Karriere und das Ende der Beziehung zu ihrer Familie. „Meine Eltern haben den Kontakt zu mir abgebrochen, weil ich mich ihrer arrangierten Hochzeit verweigert und den Mann geheiratet hatte, den ich liebte.“ Nach seinem Tod war sie alleine. Alleine auf der Flucht in diesem Meer von Hunderttausenden. Im Dschungel, am Strand immer eingesperrt zwischen den Tamil Tigers, die drohten zu erschiessen, wer fliehen wollte – und auf der anderen Seite die srilankische Armee.
Erst am Morgen des 19. Mai 2009 schweigen endlich die Waffen auf dem letzten Schlachtfeld im Nordosten Sri Lankas. Heute steht dort ein Hotel, betrieben von der Armee. Die Gäste, vorwiegend Touristen aus dem Süden, haben von der Veranda aus Teak-Holz besten Blick auf das letzte Schlachtfeld. Damals, am 19. Mai, beugt sich ein Soldat über einen der unzähligen toten Körper, die hier am Boden liegen, und dreht ihn um. Es ist ein korpulenter, leblose Mann mit einem buschigen Schnurrbart und fleischigem Gesicht: Vellupilai Prabhakaran, der Anführer der Befreiungstiger von Tamil Eelam, der LTTE. Prabhakaran hatte jahrzehntelang ruchlos über die tamilischen Gebiete im Norden und Osten des Landes geherrscht. In seinem Kampf für einen unabhängigen Tamilen-Staat hatte er gegen 300 Selbstmordattentäter losgeschickt, um politische oder militärische Führer, aber auch hunderte von Zivilisten zu ermorden. Jetzt ist er tot, die Stirn von einer Kugel durchbohrt, ein Teil der Schädeldecke abgesplittert. Der Krieg zwischen der sri lankischen Armee und den Tamil Tigers ist zu Ende.
Minakshi wird wie alle anderen in ein Regierungslager gesperrt. Später erhält sie ein Haus in einem Wohnprojekt für Witwen. Doch der Gewalt kann sie auch nach Kriegsende nicht entfliehen. „In der Nacht kamen die Soldaten oder Vertreter des Geheimdienstes. Sie sagten, sie müssten mich befragen, aber dann versuchten sie mich zu vergewaltigen. Ich beschwerte mich bei der Polizei. Die versprach mir zu helfen, aber dann kamen auch die Polizisten, um mich zu belästigen.“ Minakshi flieht aus dem Haus, das sie von der Regierung bekommen hat. Sie versucht bei Verwandten ihres verstorbenen Mannes unterzukommen, aber diese weisen sie ab. Zuerst müsse Minakshi das Brautgeld von 1400 Franken bezahlen, egal ob ihr Mann tot sei oder nicht. Doch diese Summe ist unerschwinglich. Heute knüpft Minakshi Fischernetze am Strand und verdient damit 1.40 Franken pro Tag. Das Geld reicht für die Miete ihres Zimmers und die Schulbücher ihrer Tochter. Das Mädchen müsse eine Ausbildung bekommen und später einen Mann. Das sei ihr einziger Wunsch. Doch manchmal fehle ihr die Kraft, weiterzumachen, sagt die junge Tamilin, legt die Hände in den Schoss, schaut weg. „Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich den Krieg, die Toten. Jede Nacht habe ich Albträume. Vier-, fünfmal habe ich versucht, mich umzubringen. Falls ich gehe, lasse ich meine Tochter nicht zurück.“
Wie jemandem in einer so hoffnungslosen Situation Hoffnung geben? Wo beginnen, wenn jeder Beginn, jede Aufarbeitung, jeder Versuch zur Versöhnung von der srilankischen Regierung bislang im Keim erstickt wurde? Die Armee wurde nach dem Krieg nicht aus dem Norden abgezogen, sondern ihr Personal aufgestockt, ihr Arbeitsbereich auch. Heute betreiben Soldaten Hotels, bieten Wahlbeobachtungstouren an, pflanzen Gemüse an, bauen Häuser. Und überall Armeebasen, überall Augen und Ohren die jenen folgen, die aussprechen könnten, was nicht sein darf, was nicht ausgesprochen werden darf. Sie werden eingeschüchtert, bedrängt. In ihren Gärten landen die abgehackten Köpfe von Stieren. Deshalb spricht Minakshi nur in der Dunkelheit ihres Zimmers.
Jemand hat ihr neue Hoffnung gegeben und ihr geholfen bei der Schweizer Botschaft in Colombo ein Visum zu beantragen. Was daraus wird, ist ungewiss. Doch sie hält an der Hoffnung auf ein besseres Leben fest. Deshalb ging sie im Januar auch an die Urne und stimmte für Maithripala Sirisena. Der neue Präsident der Insel ist kein Friedensengel. Er hat jahrelang an Mahinda Rajapaksas Seite gedient, bevor er sich von ihm abwandte, weil er genug hatte von Korruption und Vetternwirtschaft. Aber er spricht von Friede, von Versöhnung, von gleichen Rechten für alle und davon dass die Armee gestohlenes Land an die Tamilen zurückgeben müsse. Minakshi ist skeptisch. Sie wäre schon zufrieden, wenn die Soldaten aufhörten, an ihre Tür zu klopfen.
Veröffentlicht in „Neue Wege“ März 2015