«Zieh, du musst ziehen, du Esel!», schreit der Chef der Truppe von meiner Wohnung herunter und spuckt seinen Betelnusssaftin einem langen, roten Speichelstrahl in die Ecke der Terrasse. Ich bedecke mit den Händen mein Gesicht. Da hängt mein Klavier über der Brüstung im zweiten Stock, in Karton verpackt, an einer Kette befestigt. Nach viereinhalb Jahren in diesem Quartier ziehe ich um. Ein neuer Lebensabschnitt in einem neuen Stadtteil wird nun beginnen. In einem neuen Haus mit weniger Charme, aber hoffentlich auch mit weniger Todesfällen.
Im Oktober 2009 war ich in diese Wohnung in der Defence Colony von Neu Delhi gezogen. Aus dem Bürofenster konnte ich im Frühling den Mangos beim Wachsen zusehen. Morgens hörte ich noch im Bett die Gemüseverkäufer, die ihre Karren durch die Strassen zogen und mit lautem Rufen Tomaten und Auberginen anpriesen. In der Nacht erwachte ich von der Trillerpfeife eines Nachtwächters. Im Sommer schloss ich die Fenster, wenn der Gestank und die Moskitos vom nahen Abwasserkanal bis in die Wohnung drangen. (Der Kanal wurde nach drei Jahren endlich gedeckt. Ein Park entstand darauf. Auch sonst wurde in diesem Quartier gebaut wie in kaum einem anderen. Dreimal musste ich mein Büro von einer Seite der Wohnung auf die andere verlegen, weil wieder ein Haus abgerissen und neu gebaut wurde. Die Defence Colony war nach der Teilung des Subkontinents entstanden. Armeeangehörige konnten hier billig Land kaufen und ihre Häuser bauen. Jetzt hatte sie sich zum hippen Wohnort mit Luxus-Karossen und überfütterten Labradorhunden gemausert. Die Boden- und Wohnungspreise waren in die Höhe geschossen, die Einfamilienhäuser wichen mehrstöckigen Bauten.)
Meine Landlady, Frau Singh, gehörte zu einer Militärsfamilie. Ihr Mann hatte in Pakistan gedient und war nach der Teilung des Subkontinents nach Indien gekommen. Die alte Frau wohnte mit ihrem Sohn Arjun im Erdgeschoss. Jeden Morgen sass sie auf einer Bank im Garten und liess sich von ihrer Angestellten Saroja das Kopfhaar einölen. Sie klagte über die Korruption im Land und im Quartier – Haben Sie gehört? Jetzt ist schon wieder ein Bauherr mit dem Geld abgehauen! Dieser Abwasserkanal wird wohl nie gedeckt…. Ihr Sohn Arjun hatte jahrelang bei Bhagwan, dem legendären Guru aus Pune, gelebt. Aber seit der Guru tot war und sein Ashram in ein Meditationsresort verwandelt worden war, verbrachte er die meiste Zeit in seinem Zimmer und schaute Filme. Er hatte nie im Leben gearbeitet und lebte einzig von den Mieteinahmen, die er von mir und den wechselnden Mietern im zweiten Stock bekam.
Zu jeder der drei Wohnungen gehört ein Dienstbotenzimmer. In meines zog Maya mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Maya ist meine gute Seele, sie kocht, bezahlt Rechnungen, putzt. Sie war als Vierzehnjährige auf der Suche nach Arbeit aus Nepal gekommen und ging nie mehr zurück. Jetzt sei sie etwa vierzig, sagt sie, aber genau weiss sie das nicht. Sie hatte geheiratet, einen Sohn geboren und dann passierte vor 14 Jahren das Unglück. Ihr Mann beklagte sich über Hitzegefühle im Rücken. Er ging zum Arzt, hatte müde Beine. Später wurde er operiert. Nach der Operation war er querschnittgelähmt. Seit ich ihn kenne, lag er auf einem Bett in seinem Zimmer und schaute Kricket oder Naturfilme. In einem Rollstuhl durchs Quartier geschoben werden wollte er nicht. Maya weinte, wenn er seine Medizin nicht schluckte und stattdessen billigen Fusel trank und rauchte. Manchmal sagte sie: «Das ist mein Karma. Ich muss für all das büssen, was ich im letzten Leben falsch gemacht habe.»
Saroja, die kleine Angestellte meiner Landlady, arbeitete seit 35 Jahren für die Familie. Sie lebte mit ihrem Mann, ihrem Sohn und ihrer achtjährigen Enkelin Anju in ihrem Dienstbotenzimmer. Früher hatte dort auch noch ihre Schwiegertochter Gayatri gewohnt, Anjus Mutter. Doch 2007 starb sie eines fürchterlichen Todes: sie übergoss sich mit Benzin und entzündete sich selbst. Ich erfuhr zufällig davon, als ich von einer Recherche aus dem Tihar-Gefängnis zurückkam und meine Landlady sagte: «Tihar ist ein schrecklicher Ort. Saroja und ihre Familie waren auch dort eingesperrt.» Einige Zeit später fragte ich Saroja zwischen den Wäscheleinen im Hinterhof, weshalb Gayatri sich umgebracht habe. Saroja schloss kurz die Augen und antwortete: «Am Tag, als Gayatri sich tötete, hatte sie mit meinem Mann gestritten. Der sagte: ‚Deine Tochter ist immer krank. Wir geben viel Geld für Arztrechnungen aus.‘ Es war ein simpler Streit, wie er in vielen Familien vorkommt. Doch dann hörte ich die Schreie und sah die Flammen im Zimmer.» Gayatris Familie verklagte Sarojas Familie. Sie verlangten zehntausend Franken Sühnegeld. Sarojas Familie hatte das Geld nicht. Vor Gericht behauptete Gayatris Familie, ihre Tochter sei in den Selbstmord getrieben worden, weil Sarojas Familie mehr Brautgeld verlangt habe. Saroja, ihr Mann, ihr Sohn und Anju wurden zehn Monate nach Tihar weggesperrt. Der Fall ist bis heute nicht abgeschlossen. Gayatris Tod war der erste von mehreren Todesfällen im Haus.
Im Frühling 2013 starb der Nachtwächter an Typhus. Er hatte sich geweigert, in ein Spital zu gehen und wollte lieber den Heiler in seinem weitentfernten Dorf aufsuchen. Seine Frau blieb nach dem Tod ihres Mannes mit den zwei Kindern in Delhi zurück. Sie holte noch einige Monate den Lohn ihres Mannes ab, dann verschwand auch sie.
Zur selben Zeit klagte Frau Singhs Sohn Arjun über Bauchschmerzen. Er konnte sich die besten Privatspitäler leisten. Dort waren die Behandlungen zwar teuer, aber wirkungslos. Der stattliche Sechziger mit der kräftigen Stimme wurde in wenigen Monaten zum Greis. Die Zähne fielen ihm aus, die Kleider schlotterten um seine Glieder und spannten sich über seinem anschwellenden Bauch. Im Dezember 2013 starb er in einem Spital in Delhi. Kein Arzt hatte herausgefunden, was ihm fehlte. Ein Topf mit seiner Asche stand monatelang im Garten. Die Asche hätte viel schneller in einen der heiligen Flüsse geschüttet werden müssen, dann wäre alles anders gekommen, klagte Saroja später.
Nach Arjuns Tod verschlechterte sich der Zustand seiner Mutter. Frau Singh wollte das Bett nicht mehr verlassen, und als sie es doch einmal tat, stürzte sie und brach sich den Oberschenkel. Ihre Tochter, die nun oft zu Besuch kam, und die Krankenschwestern aus Kerala rollten die alte Frau auf ihrem Bett an die Sonne. Doch Frau Singh wiederholte nur immerzu: «Der Sonnenschein ist aus meinem Leben gegangen, warum soll ich noch hier bleiben?» Vier Monate nach Arjuns Tod wurde auch seine Mutter verbrannt, ihre Asche im Ganges versenkt. Das Haus wurde still und traurig, nur die kleine Anju rief noch immer mit heller Stimme nach ihrer Freundin im Nebenhaus.
Im Juli wurde dann auch Mayas Mann Som, der kaum mehr atmen konnte, ins Spital eingeliefert. Nicht in ein Privatspital wie Arjun, sondern in ein öffentliches Krankenhaus, wo kein Arzt vorbeischaut, ehe man stundenlang gewartet hat oder ein nettes Sümmchen bezahlt. Som starb an einer Infektion oder an unterlassener Hilfeleistung, je nachdem, wie man es deuten will.
Der letzte Tote lag mit Blumen dekoriert und Watte in den Nasenlöchern wenige Wochen später aufgebahrt in der Einfahrt des Hauses. Es war Sarojas Mann. Ein Hirntumor war in seinem Kopf gewachsen. Niemand hatte was davon geahnt.
Was früher nur gemunkelt wurde, sprach Saroja jetzt aus: «Dieses Haus ist verhext. Holt einen Priester!» Wenn ich nun spät nachts nach Hause kam, sah ich Saroja im Garten am Boden liegend schlafen. Die Geister von Frau Singh und Arjun gingen nachts durchs Haus und störten sie, klagte Saroja. Bald schliefen alle Angstellten im Garten.
All das ging mir durch den Kopf, während mein Klavier langsam in die Einfahrt herabgesenkt wurde. Ich weiss, dass ich Saroja und die kleine Anju vermissen werde, auch den Mangobaum und sogar die Affen auf dem Dach, aber Toten und ihre Geister, die können bleiben, wo sie sind.
Veröffentlicht in „Neue Wege“, August 2014