Sehnsucht, Widerstand und Resignation 60 Jahre nach der Gründung Israels
Die Gründung des Staates Israel und ihre Vertreibung aus vielen Gebieten Palästinas vor 60 Jahren nennen die Palästinenser an-Nakba – die Katastrophe. Die Flüchtlinge und ihre Nachkommen leben zum grössten Teil auch heute noch in Lagern rund um Israel. Ihr Traum von der Rückkehr richtet sich auf ein Land, das es nicht mehr gibt.
Ahmed Iswid erinnert sich genau an den Tag im Frühjahr 1948, an dem er mit seiner Familie, einem Esel und einem Fahrrad aus seinem Dorf geflohen ist. Sein Dorf lag in der Nähe von Jaffa, Iswid war dreizehn Jahre alt. Noch war der erste israelisch-arabische Krieg nicht ausgebrochen, aber die Spannungen zwischen Palästinensern und Juden waren bereits deutlich spürbar. Das sei nicht immer so gewesen, erinnert sich Iswid, ein korpulenter Mann in einer langen Galabiya, der im Flüchtlingslager Balata im Westjordanland lebt. Anfangs habe seine Familie gute Beziehungen zu den jüdischen Nachbarn gepflegt. Man habe sich gegenseitig in den Orangenhainen oder mit den Tieren geholfen. Diese Beziehungen hätten sich jedoch verändert, als die Zahl der Zionisten anschwoll, die nach Palästina kamen. «Anders als die Juden, die seit Jahrhunderten mit uns lebten, kamen sie, um uns zu ersetzen. Sie wollten einen rein jüdischen Staat», sagt Iswid und verweist auf das Biltmore-Programm. Darin hatte die zionistische Weltorganisation bereits 1942 die Schaffung eines ganz Palästina umfassenden jüdischen Staates und freie Einwanderung gefordert.
Wende mit dem Uno-Teilungsplan
Die entscheidende Wende trat ein, als die Uno-Generalversammlung im November 1947 die Teilung Palästinas in einen jüdischen und einen palästinensischen Teil beschloss. Iswid erinnert sich daran, wie die Briten von der Militärbasis, die zwischen seinem Dorf und dem jüdischen Nachbardorf lag, abzogen. Dabei versprachen sie sowohl den palästinensischen als auch den jüdischen Nachbarn das Land der Militärbasis. «Als wir das Land übernehmen wollten, waren die Juden schon dort. Eine Schiesserei brach aus. Die zionistische Kampftruppe Haganah nahm die Basis ein. Später kam die israelische Armee in unser Dorf und verkündete über Lautsprecher, dass wir dieses innerhalb von 24 Stunden verlassen müssten, sonst würden sie uns töten», erzählt Iswid. Aus Angst und im Wissen, dass sie den zionistischen Streitkräften nicht gewachsen waren, flohen die Einwohner des Dorfes in die Stadt al-Ludd (Lod) östlich von Tel Aviv und später in die Berge. Das war noch vor Kriegsausbruch am 15. Mai 1948, als die Armeen der arabischen Nachbarstaaten einen Tag nach der Proklamierung des Staates Israels einmarschierten.
Die zionistische Führung hatte schon am 10. März 1948 Befehle an die militärischen Kommandanten erlassen, in denen die Methode zur Vertreibung der Palästinenser beschrieben wurde. Beim Ausbruch des Krieges war die Hälfte der Palästinenser, die als Flüchtlinge enden sollten, bereits aus ihren Häusern vertrieben oder geflohen, weil sie von Massakern in anderen Dörfern gehört hatten. Am Ende des Jahres waren 750 000 Palästinenser entwurzelt, 531 Dörfer zerstört und 11 städtische Bezirke von ihren arabischen Bewohnern entleert. Von den 150 000 Palästinensern, die in Israel blieben und später israelische Pässe erhielten, wurden 25 Prozent aus ihren Häusern gejagt.
Verpasste Chance?
Wenn sie sich die paar Fetzen Land ansehen, die ihnen vom historischen Palästina geblieben sind, wünschen heute manche Palästinenser, sie hätten den Teilungsplan von 1947 akzeptiert. Ein Zeitzeuge, der bereits damals die Kräfteverhältnisse richtig einschätzte und deshalb den Teilungsplan befürwortete, war der Arzt Mustafa Abdeshshafi, der Bruder des kürzlich verstorbenen palästinensischen Politikers Haider Abdeshshafi. «Ich wusste, dass die Verteilung unfair war. Die Juden würden mehr als die Hälfte des Landes erhalten, obwohl sie nur einen Viertel der Bevölkerung ausmachten. Aber die Frage war: Können wir sie davon abhalten? Natürlich nicht. Deshalb wäre es besser gewesen, wir hätten angenommen und unseren Staat aufgebaut», sagt der heute 87-Jährige, der seinen Lebensabend in Gaza verbringt.
Abdeshshafi, der 1948 verantwortlicher Arzt für die Betreuung der Flüchtlinge im Süden des Gazastreifens war, erinnert sich gut an die Flüchtlingsströme. Das Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) existierte damals noch nicht, die Flüchtlinge hausten in Zelten, und die Hilfe im Gazastreifen kam vor allem von den lokalen Gemeinden und den amerikanischen Quäkern. «Nachts kamen Autos in die Zeltlager, und einer rief, dass in dem und dem Dorf gekämpft werde. Es brauche Männer. Wer eine Waffe hatte, nahm sie und stieg auf den Wagen. Manche kamen nie mehr zurück», erinnert sich Abdeshshafi. Dank der Desorganisation der arabischen Armeen und seiner militärischen Überlegenheit gewann Israel den Krieg. Zu den 56 Prozent des historischen Palästina, das ihm die Uno zugesprochen hatte, fügte Israel 1948 nochmals 22 Prozent dazu, und im Krieg von 1967 besetzte es noch den Rest des Landes zwischen Meer und Jordan.
60 Jahre nach der Nakba hat sich wenig an den Kräfteverhältnissen geändert. Unterstützt von den westlichen Staaten, insbesondere Amerika, ist Israel den Palästinensern auch heute noch militärisch überlegen. Auch hat sich nichts an der arabischen Uneinigkeit und Desorganisation geändert. Den Preis dafür zahlen die Palästinenser, insbesondere die Flüchtlinge. In Israel gelten heute 250 000 bis 280 000 Palästinenser als intern Vertriebene. Im Gazastreifen lebt eine Million Flüchtlinge, rund zwei Drittel der Bevölkerung. Im Westjordanland sind 750 000 der zweieinhalb Millionen Palästinenser Flüchtlinge.
Flüchtlinge als Spielball
Etwa 3 Millionen Flüchtlinge leben in den umliegenden arabischen Staaten. Die arabischen Regime benutzen sie, wann immer es die politische Agenda erfordert. Sie sprechen von den arabischen Brüdern, aber integrieren will sie doch keiner. Die Flüchtlinge leben in Lagern, in denen im Laufe der Jahre die Zelte durch schäbige Betonbauten ersetzt wurden. Sie werden als Zweitklassbürger behandelt und als billige Arbeitskräfte gebraucht. Immer gibt man ihnen das Gefühl, dass dies nicht ihr Zuhause ist, dass sie unerwünscht sind. Was bleibt, ist der gedankliche Eskapismus in die Vergangenheit, in eine Heimat, die es heute nicht mehr gibt. Das Bild der Heimat wird gehegt und gepflegt und in Erzählungen an die nächste Generation weitergegeben.
Auch wenn viele palästinensische Häuser und Dörfer nicht mehr stehen oder durch israelische Dörfer und Städte ersetzt wurden, heisst es unter den Flüchtlingen: Wir werden zurückkehren. Dabei berufen sie sich auf die Uno-Resolution 194, die am 11. Dezember 1948 verabschiedet worden war und in der das Recht auf Rückkehr oder auf Kompensationszahlung verbrieft ist. Von diesem Recht will in Israel jedoch niemand etwas wissen, und die Flüchtlingsrechte gelten bei den Verhandlungen für eine Endlösung als eine heisse Kartoffel, die niemand anzufassen wagt.
«Wahrscheinlich würden nur ungefähr 10 bis 15 Prozent der Flüchtlinge zurückkehren, aber es ist eine Frage des prinzipiellen Rechts. Kein Palästinenser und kein arabischer Politiker wird dieses Recht jemals aufgeben können», sagt Samir Abu Aisha, Professor an der NajahUniversität in Nablus und ehemaliger palästinensischer Minister für Verkehr und Planung. Er fordert nicht nur von Israel, dass es sich mit der Flüchtlingsproblematik auseinandersetzt, sondern kritisiert auch die arabischen Führer, die wenig mehr als Lippenbekenntnisse zur Lösung des Flüchtlingsproblems beitragen.
Traum von der Rückkehr
Ahmed Iswid lebt seit sechzig Jahren im Flüchtlingslager Balata. Kurz nach der Flucht hatte er noch geglaubt, in wenigen Tagen zurückkehren zu können. Dies war jedoch eine Illusion. Die israelische Regierung erklärte grosse Teile der palästinensischen Dörfer und Stadtteile zu geschlossenen militärischen Zonen und machte sie damit für die Palästinenser unzugänglich. 60 Prozent des arabischen Landes wurden bis Mitte der sechziger Jahre konfisziert. In den Flüchtlingslagern ersetzte die UNRWA die Zelte langsam durch Betonhäuser. Iswid half als Bauarbeiter und später als Bauherr mit. Das hat ihm zu einem gewissen Reichtum verholfen. Von seinem Dorf sind nur noch Ruinen übrig geblieben, doch der alte Mann sagt, er werde in sein Dorf zurückkehren.
«Wie ist es möglich, dass Juden aus aller Welt nach Israel einwandern können, während ich mein Dorf nicht einmal mehr besuchen darf?», fragt Iswid. Er werde Widerstand leisten, indem er Kinder zeuge, sagt er. Von zwei Frauen hat er bereits acht Töchter und acht Söhne. Seine Kinder haben wiederum Kinder, und Enkel hat er schon so viele, dass er sie nicht mehr zählen kann. Ausharren ist Iswids Devise, denn vor der demografischen Bombe, die mit jedem Tag an Kraft zunehme, fürchteten sich die Israeli am meisten. Dabei scheint Iswid zu überhören, was viele junge Palästinenser in Balata sagen, nämlich dass sie das Ausharren, den Alltag unter Besetzung und dieses Leben ohne Zukunft längst satt haben. Wenn sie könnten, würden sie deshalb schon heute weggehen. Nicht in ihre Dörfer im heutigen Israel, sondern nach Amerika oder Kanada oder an einen anderen Ort, der den Namen Heimat verdient.