Über tausend Schmuggeltunnels unter der ägyptisch-palästinensischen Grenze
Unter der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten gibt es mehr als tausend Stollen, durch die Waren geschmuggelt werden. Ihr Betrieb ist der einzige Weg, den israelischen Boykott zu durchbrechen, aber auch ein blühendes Geschäft. Mit dem Schmuggel wird Gaza wirtschaftlich an Ägypten gebunden und vom Westjordanland abgekoppelt.
Die grösste Baustelle des Gazastreifens liegt in Rafah, entlang der zehn Kilometer langen Grenze zu Ägypten. Baggerschaufeln schaben Löcher in den Boden, Pferde ziehen Plastictonnen voll Sand an quietschenden Seilwinden aus metertiefen Stollen, und überall stehen weisse Zelte, in denen Männer mit Schaufeln ein und aus gehen. In den Zelten befinden sich die Eingänge zu den Schmuggelstollen, die unter der Grenze hindurch nach Ägypten führen. Früher existierten ein paar Dutzend von den Tunnels, sie dienten vor allem dem Schmuggel von Waffen für die palästinensischen Widerstandsgruppen. Heute gibt es mehr als tausend, kaum einer in Rafah, der nicht in dieser Sparte arbeitet. Heute ist der Gazastreifen mit Waffen überschwemmt, dafür hat die Schliessung der Grenzübergänge durch Israel und Ägypten dazu geführt, dass ein akuter Mangel an Nahrungsmitteln, Baumaterial, Brennstoffen und Elektroartikeln herrscht.
Ader für das wirtschaftliche Überleben
Die Stollen befinden sich in einer Tiefe von 7 bis 30 Metern und sind bis zu einem Kilometer lang. Vier grosse Familien von Rafah teilen sich den Markt auf, zudem betreibt die Hamas ihre eigenen Stollen, durch die weiterhin Waffen und Munition in den Streifen gelangen. Die ägyptischen Grenzpolizisten sehen von ihren Beobachtungsposten dem geschäftigen Treiben zu. Auch ein paar palästinensische Polizisten stehen herum. «Nur die Tunnels fotografieren, nicht uns!», weisen sie die Journalisten lakonisch an. Hier versucht niemand, den Schmuggel zu verstecken, er ist die letzte Lebensader der lokalen Wirtschaft. Nach Schätzungen von Mamun Abushahla, Geschäftsmann und Mitglied der Direktion der Bank of Palestine, kommen heute 70 bis 90 Prozent der Güter, die im Gazastreifen verkauft werden, durch die Tunnels. Dafür flössen monatlich rund 200 Millionen Dollar nach Ägypten.
Um die israelische Blockade zu umgehen, hat die Hamas-Regierung offiziell die Erlaubnis zum Bau der Stollen erteilt. Vor drei Monaten liess Issa an-Nashar, der Bürgermeister von Rafah, über die Zeitung verlauten, dass jeder Tunnelbetreiber eine Administrationsgebühr von umgerechnet 3000 Franken bezahlen muss. «Wir sind zwar im Prinzip gegen diese Tunnels, aber es bleibt uns keine andere Wahl», kommentiert der Bürgermeister den Schritt zur Legalisierung. Wer die Administrationsgebühr bezahlt, erhält von den Behörden Strom, um seinen Tunnel auszuleuchten. Zudem kann er Bagger und Kleinlaster benützen.
Vor einem Zelt liegt etwas Stroh und Schafkot. «50 Schafe haben wir heute aus dem Tunnel gehievt», sagt Salam Abu Mahmud, Mitinhaber des Tunnels, dessen Eingang sich im Zelt befindet. Schafe waren in diesen Tagen des Opferfests eine gefragte Ware. Die Mittelsmänner aus Ägypten haben sie durch den 300 Meter langen Stollen nach Rafah getrieben. Auf der palästinensischen Seite haben Abu Mahmud und seine Helfer die Tiere mit einer Seilwinde 7 Meter hochgezogen. Ein lukratives Geschäft. Die Tunnelbesitzer haben an jedem Tier 90 Dollar verdient.
Wirtschaftszentrum Rafah
In einem anderen Zelt ist einer damit beschäftigt, Taschen voller Wolldecken und Säcke mit Chips aufeinanderzuschichten. Zwei andere Männer sind im 17 Meter tiefen Schacht verschwunden, um auf der ägyptischen Seite ein neues «Auge», eine weitere Tunnelöffnung, zu graben. Etwas weiter von der Grenze entfernt in einem Innenhof füllt Abu Hassan, ein schmächtiger Mann mit öligen Händen, den hier alle nur den Treibstofffürsten nennen, Kanister mit Benzin ab. Durch seinen Stollen führt eine Pipeline nach Ägypten, und in seinem Vorhof stehen zwei Tanks, von denen jeder 25 000 Liter fasst.
Alle paar Wochen fährt auf der ägyptischen Seite ein Tanklastwagen vor und füllt über die Röhre Abu Hassans Tanks. Abu Hassan und seine vier Kollegen verkaufen das Benzin auf dem Schwarzmarkt, was für sie einen Gewinn von umgerechnet 15 000 Franken pro Tank bedeutet. Was tut Abu Hassan mit so viel Geld? Er träume davon, nach Schweden zu reisen, in die Ferien, lautet seine Antwort. Ein Ding der Unmöglichkeit, denn der Grenzübergang ist seit Monaten geschlossen und wird es auf absehbare Zeit bleiben. Aber Abu Hassan hat noch mehr Pläne: Er habe eine grosse Familie, die brauche ein anständiges Haus und ein Auto, am besten wäre ein Subaru-Familienwagen. Doch auch das Haus dürfte ein Traum bleiben, denn Israel verhindert die Einfuhr von Zement, und durch die Tunnels kommt er nur in kleinen Mengen, weil der Profit zu gering ist.
Die Händler und die Businessmen der Stadt Gaza schauen voller Neid auf die neureichen Schmuggler in Rafah. Der israelische Boykott hat ihre Geschäfte zerstört, denn exportiert werden darf seit der Wahl der Hamas nichts mehr, und die Zahl der Artikel, die importiert werden dürfen, hat Israel auf 34 beschränkt. Das neue Wirtschaftszentrum des Streifens liegt jetzt in der Grenzstadt zu Ägypten, die jahrelang marginalisiert war und unter immer wiederkehrenden Einfällen der israelischen Armee litt. Doch heute kommen die Bewohner des ganzen Gazastreifens auf den Markt von Rafah, um einen Kühlschrank, ein Mikrowellengerät, einen Computer, Beruhigungsmittel oder eine Gasflasche zu kaufen. Und die Profiteure des Tunnelverkehrs fahren in aufgemotzten Jeeps und glänzenden Motorrädern made in China auf dem Markt vor.
Ersetzen kann der Schmuggel den blockierten Warenfluss über die Grenzübergänge zu Israel allerdings nicht. Zu klein sind die Mengen, zu fragil der Markt. Ganz zu schweigen vom fehlenden rechtlichen Rahmen und von den unmenschlichen Bedingungen, unter denen die jungen Männer in den Tunnels arbeiten. Die Arbeiter, die täglich bis zu zwölf Stunden auf Knien Sand schaufeln oder Ware transportieren, verdienen oft nicht mehr als ein paar Schekel im Tag. Sicherheit gibt es für sie nicht; die Luft in den niedrigen Stollen ist heiss und feucht, die Einsturzgefahr ist gross. Ab und zu werfen die Ägypter Gasgranaten in die Tunnels, um den Anschein zu erwecken, sie bekämpften den Schmuggel. In diesem Jahr haben 47 Arbeiter ihr Leben verloren. Die Tunnelbesitzer haben die Begräbnisse der Arbeiter bezahlt und deren Familien mit ein paar tausend Schekel abgespeist.
Anbindung an Ägypten
Omar Shaban, Lehrbeauftragter für Ökonomie an der Azhar-Universität in Gaza, sieht in diesem rechtlosen Treiben eine Gefahr für die palästinensische Gesellschaft. «Jene Tunnelbesitzer, die heute in wenigen Wochen Millionengewinne machen, werden in zwei, drei Jahren unsere Politik mitbestimmen. Ihre Maxime ist einzig die Geldvermehrung und kein nationales Projekt wie die Gründung eines palästinensischen Staats», gibt er zu bedenken. Shabans Schreckensvision einer geldgierigen Elite ist allerdings bereits Realität: Die Führung der Fatah, die sich über Jahre als Verfechterin der nationalen Ziele bloss am internationalen Geldfluss bereichert hat und als Regierungspartei in Ramallah noch heute von den internationalen Geldgebern getragen wird, unterscheidet sich wenig von den Tunnelbesitzern von Rafah. Und die Hamas, die heute den Gazastreifen regiert und ihr Geld durch die Tunnels oder auch ganz offiziell über den Grenzübergang bringt, gilt zwar nicht als korrupt, bedient aber ebenfalls vorwiegend ihre Anhänger.
Shaban glaubt, dass die Duldung der Schmuggeltunnels Teil von Israels Strategie ist, das Problem Gaza abzuschütteln und die Bewohner des verarmten Streifens langsam an Ägypten anzubinden. Der Abzug der Siedler im Herbst 2005, die Isolierung des Streifens und die Unterbindung von Wirtschaftsbeziehungen zum Westjordanland und zu Israel seit der Wahl der Hamas führten bereits in diese Richtung. Die innerpalästinensische Spaltung zwischen der Fatah und der Hamas legt dem nationalen Projekt eines palästinensischen Staates ein weiteres Hindernis in den Weg.
Vorgeschmack auf die Zukunft
Indem Ägypten den Grenzübergang geschlossen hält, beugt es sich dem amerikanischen Druck. Indem sie die Untertunnelung der Grenze jedoch toleriert, minimiert die Regierung in Kairo das Risiko, dass der Dampfkochtopf Gaza erneut explodiert und die Palästinenser wie vor einem Jahr die Grenze zu Ägypten stürmen, um sich mit den nötigen Lebensmitteln einzudecken. Wie lange dieses doppelbödige Spiel gespielt werden soll, weiss noch niemand. Shaban glaubt, dass die Palästinenser irgendwann einen Staat haben werden. Nicht wie geplant in den Grenzen von 1967 mit Jerusalem als Hauptstadt, sondern nur im Gazastreifen, wirtschaftlich nach Ägypten ausgerichtet und politisch unter der Kontrolle der Hamas. Die heutige Situation sei nur ein Vorgeschmack auf die Zukunft.