Frauen zwischen Besetzung und häuslicher Gewalt
Die israelische Besetzung schränkt die Bewegungsfreiheit der Palästinenser drastisch ein. Frauen, Männer und Kinder werden von medizinischer Hilfe, Schulen oder Arbeitsplätzen abgeschnitten. Die angestaute Frustration und Wut entlädt sich oft innerhalb der Familie. Frauen werden immer mehr Opfer von häuslicher Gewalt.
«Am Checkpoint standen einige Soldaten. Sie ignorierten mich. Ich kroch hinter einen Betonblock, um nicht gesehen zu werden, und gebar mein Kind, im Sand, wie ein Tier. Ich hielt das Baby in den Armen, das Mädchen bewegte sich ein wenig, aber nach wenigen Minuten starb es.» Rula Ashtiya, der an einer israelischen Strassensperre auf dem Weg zum Spital in Nablus der Durchgang verweigert wurde, ist kein Einzelfall. Nach Angabe des palästinensischen Gesundheitsministeriums mussten zwischen September 2000 und Oktober 2004 über sechzig Frauen ihre Kinder an Strassensperren zur Welt bringen. Im kürzlich veröffentlichten Bericht von Amnesty International (AI) mit dem Titel «Israel / Besetzte Gebiete: Frauen tragen die Last des Konfliktes, der Besetzung und des Patriarchats» ist nachzulesen, dass die Furcht, nicht rechtzeitig ins Spital zu kommen, zu den grössten Ängsten der Palästinenserinnen gehört.
Sperren auf dem Weg zur Schule
Die Zerstörung von Häusern und landwirtschaftlichem Land, die Ausgangssperren und die Strassenblockaden treffen die Frauen in besonderem Masse. Die Frauenministerin Zahira Kamal weist darauf hin, dass diese Massnahmen den in der traditionellen patriarchalen Gesellschaft ohnehin beschränkten Spielraum der Frauen weiter einengen. Da Frauen nicht jeden Tag von entfernten Schulen oder Universitäten nach Hause zurückkehren könnten, würden die Ausbildungsmöglichkeiten beschnitten; auch die Gesundheitsversorgung, die Arbeitsmöglichkeiten und die sozialen Kontakte würden dadurch schwierig. So könnten Ehepartner oft nur noch in einem engen Umfeld und oft nur innerhalb der eigenen Familie ausgesucht werden. Um aus den Dörfern zu gelangen, müssten lange Fussmärsche in Kauf genommen werden, die vor allem für kranke oder schwangere Frauen schwierig seien.
Kamal verweist insbesondere auf die negativen Effekte der im Bau befindlichen Sperranlage, mit der Israel das Westjordanland aufteilt. Die Mauer und der elektrische Zaun führen vor allem durch ländliches Gebiet, wo Bauern von ihren Feldern getrennt werden. Für Männer gelten noch strengere Restriktion in der Bewegungsfreiheit, so dass meist nur Frauen oder Kinder die Bewilligung erhalten, die Sperren zu passieren, um auf den Feldern zu arbeiten. Dies bedeutet schwere Zusatzarbeit für die Frauen, die bereits die Verantwortung für Kinder und Haushalt tragen.
Frauen am Ende der Gewaltkette
Laut dem Bericht von Amnesty International wird durch die schlechte Wirtschaftslage und die hohe Arbeitslosigkeit in den palästinensischen Gebieten die traditionelle Ernährerrolle der Männer zerstört. Die Erniedrigungen, Verhaftungen und Tötungen steigerten die Frustration und die Aggressionen der Männer zusätzlich. «Die friedliche palästinensische Gesellschaft wird zu einer gewaltbereiten», wie Kamal sagt. Die Gewalt von aussen wird von der Gesellschaft aufgenommen und zunehmend gegen ihre schwächeren Mitglieder gerichtet. So hat die Gewalt gegen Frauen innerhalb der Familien nach den Ermittlungen von Amnesty International in den Jahren der Intifada drastisch zugenommen.
Im Women’s Center for Legal Aid and Counseling in Ramallah finden Frauen, die von Gewalt und Diskriminierung betroffen sind, rechtliche und psychologische Hilfe. Maha Abu Dayyeh, die Direktorin des Zentrums, weist darauf hin, dass die Frauen, die ins Zentrum kommen, nur ein Bruchteil all jener Frauen sind, die zu Gewaltopfern werden. Häusliche Gewalt gelte als schmutzige Wäsche, die man nicht in der Öffentlichkeit wasche. In Zeiten des Konflikts und der Bedrohung sei es für Frauen noch schwieriger, sich über Gewalt im Innern der Gesellschaft zu beklagen.
Mangelnder Rechtsschutz
Die sogenannten Ehrenmorde bilden dabei ein besonderes Tabuthema. Ehrenmorde werden verübt, wenn Frauen gegen die traditionellen Sexualnormen verstossen, wenn zum Beispiel eine unverheiratete Frau ein Verhältnis mit einem Mann hat. Selbst wenn sie von eigenen Familienmitgliedern vergewaltigt wird, ist es die Frau, die büssen muss. So wurde beispielsweise die 17-jährige Rufayda Kaud von zweien ihrer Brüder vergewaltigt. Als sie schwanger wurde, wurde sie von ihrer Mutter getötet. Die Mutter sagte, sie habe Rufayda getötet, um die Ehre der Familie zu retten, und wurde nicht bestraft. Wie die Frauenministerin der palästinensischen Behörde sagt, wurden allein im März eine Frau in Tulkarem und eine in der Umgebung von Bethlehem Opfer von Ehrenmorden. Die Polizei und das Innenministerium seien informiert und es würden nun Untersuchungen durchgeführt, sagt Kamal.
Nach Abu Dayyeh vom Beratungszentrum in Ramallah ist das Strafrecht gerade in Bezug auf Ehrenmorde unzureichend, die Täter kämen mit kleinen oder gar keinen Strafen davon. Die Bestrafung von Ehrenmorden und anderen Gewalttaten gegen Frauen wird nicht nur durch das Stillschweigen der Familie und der Bevölkerung erschwert, sondern auch durch das lückenhafte Rechtssystem, das aus alten jordanischen, ägyptischen, osmanischen und britischen Rechtstexten besteht. Das bestehende Recht diskriminiere die Frauen aber auch bezüglich ihrer persönlichen Rechte, sagt Abu Dayyeh. So existiere beispielsweise weder eine rechtliche Grundlage zum Schutz des Einkommens der Frauen nach der Scheidung noch eine, um den weiblichen Erbanteil zu sichern. Dies führe dazu, dass sich viele Frauen aus wirtschaftlichen Gründen und aus Angst, ihre Kinder zu verlieren, nicht scheiden liessen.
Laut der Frauenministerin Kamal sind zwar schon gesetzliche Änderungen zum Schutz der Frauenrechte vorgenommen worden, doch müssten diese noch vom Parlament abgesegnet werden. So liege zurzeit ein neues Gesetz beim Legislativrat, das für geschiedene Frauen Gelder aus einem Fonds bereitstellt. Zudem habe ihr Ministerium die Forderung nach einem speziellen Gesetz über Ehrenmorde und nach einer Frauenrechtserklärung im Kabinett zur Sprache gebracht. Kabinett und Parlament seien aber von den Männern dominiert und würden gerade bei den Frauenrechten im Allgemeinen wenig Aktivismus an den Tag legen.
Das Gewicht von Tradition und Religion
Einige Männer plädierten für die Beibehaltung des Mindestheiratsalters für Frauen bei 16 Jahren, sagt Kamal, wollten den Frauen aber die Volljährigkeit erst mit 18 Jahren geben. Vorher ist eine Frau somit nicht bevollmächtigt, rechtliche Schritte zu unternehmen, zum Beispiel eine Scheidung zu verlangen. Diesen Widerspruch führt Kamal unter anderem darauf zurück, dass die Religion bei der Gesetzgebung weiterhin eine wichtige Rolle spielt. Dass Frauen bei Wahlen diskriminiert würden und deshalb wenig Chancen hätten, in den Legislativrat gewählt zu werden, sei für eine Gesetzgebung zur Stärkung der Frauenrechte zudem ein weiteres Hindernis, sagt die Frauenministerin.
Kamal und Abu Dayyeh können deshalb den Forderungen nur zustimmen, die Amnesty International zum Schluss ihres Berichts stellt: Für eine effektive Bekämpfung der Gewalt und der Diskriminierung gegen die palästinensischen Frauen müsse Israel einerseits die Restriktionen in der Bewegungsfreiheit und die Erniedrigungen der Palästinenser stoppen; anderseits müsse die palästinensische Autonomiebehörde eine rechtliche Basis legen, um die Rechte der Frauen zu wahren, und diese auch umsetzen.