Waffen, Drogen, Geld: Geheime Tunnels sichern den Nachschub für den Gazastreifen – ein Augenschein
Im Süden des Gazastreifens an der Grenze zu Ägypten werden Waffen, Drogen und Personen durch illegale Tunnels geschmuggelt. Die jungen Tunnelbauer träumen von einem besseren Leben.
An der Grenze in Rafah, wo der Gazastreifen endet, haben palästinensische Soldaten ein Zelt und ein Volleyballnetz aufgestellt und sich zum Vormittagskaffee auf einer Schaumstoffmatte breit gemacht. Hinter ihnen erstreckt sich die Grenzmauer zu Ägypten, vor ihnen liegt, was von vergangenen israelischen Militäraktionen übrig geblieben ist: eine Reihe von zerschossenen und plattgewalzten Häusern, aus denen sich Armierungseisen wie die Knochen eines Skeletts winden.
Kaum hundert Meter entfernt liegt eine Backsteinhütte, eingezäunt mit Wellblech und mit verwelkten Orangenbäumen im Vorgarten getarnt. Hier beginnt einer der vielen Schmugglertunnel, die Tausenden von Einwohnern in Rafah ein Einkommen sichern. Khalil, ein schlaksiger 24-Jähriger mit Flaum auf der Oberlippe, ist Chef einer zwölfköpfigen Tunnelbaugruppe. Er hat den Tunneleingang im Innern der Hütte freigeschaufelt und die Bretter von der Öffnung im Boden entfernt. Ein Schacht, gross genug für eine Person, führt in den Untergrund.
Reiche Auftraggeber
In acht Metern Tiefe beginnt, von einer einzigen Glühbirne erleuchtet, der Tunnel, der dreihundert Meter weit unter der Grenze hindurch nach Ägypten führt. Man kann sich darin nur kriechend bewegen. Einen Monat lang buddelte Khalil mit seinem jüngeren Bruder Ibrahim und zehn weiteren Jugendlichen in Tag- und Nachtschichten. Laut Khalil beginnt ein Auftrag in der Regel auf der ägyptischen Seite bei den Beduinen, die den Schmuggel beherrschen. «Mit ihnen knüpfen die Auftraggeber den ersten Kontakt. Wir suchen danach eine geeignete Stelle, wo wir zu graben beginnen.»
Khalil sagt, er sei vor vier Jahren in den Tunnelbau eingestiegen. Khalils dreizehn Geschwister und sein Vater sind arbeitslos, die zwei Brüder sorgen für das Auskommen der Familie. Laut Khalil handelt es sich bei den Auftraggebern meist um palästinensische Geschäftsmänner, welche die für den Bau eines Tunnels nötige Summe von 15 000 bis 30 000 Dollar bezahlen können. Khalil bekommt pro Tag einen Lohn von umgerechnet 17 Franken, seine Kollegen erhalten dreimal weniger. Lukrativ ist die Schufterei nur, weil die Tunnelbauer nach der Fertigstellung des Tunnels Trägerdienste für die Schmuggler ausführen und anteilmässig am Schmuggel mitverdienen.
So erhalten sie für jedes geschmuggelte Kalaschnikow-Schnellfeuergewehr 200 Dollar, für jede Patrone umgerechnet sechzig Rappen. 2000 Kalaschnikows hätten den Weg durch die zehn Tunnels gefunden, die er bis jetzt gebaut habe, schätzt Khalil. Der junge Schmuggler beklagt sich jedoch, dass die Zeiten rau seien. Man verdiene halb so viel wie früher. Mit dem Abzug der Israeli sei die Nachfrage nach Waffen gefallen, zudem mache das Überangebot im Gazastreifen die Preise kaputt.
Geschmuggelt werden nicht nur Waffen, sondern auch Drogen und Personen, die meist mit Palästinensern aus Gaza verwandt oder verheiratet sind, aber über keine Einreisebewilligung verfügen. «Ich brachte einmal eine Frau aus dem Maghreb nach Rafah», sagt Khalil. «Sie hatte sich in einem Internet-Chat in einen Mann aus Khan Yunis verliebt. Er wollte sie heiraten, aber sie bekam keine Einreiseerlaubnis. So zahlte er mir 6000 Dollar, und ich führte die Frau durch den Tunnel.»
Die Angst kriecht mit
Wie viele Tunnels Rafah und Ägypten verbinden, weiss niemand genau. Die Arbeit ist dreckig und gefährlich. Manchmal brechen die Tunnels zusammen oder werden überschwemmt, so dass die meisten Schächte nach drei Monaten unbenutzbar sind. Ausgerüstet sind die Jugendlichen mit Bohrern, Hacken, Schaufeln, Kompassen und Rohren von Staubsaugern, die in den Tunnels zu einem primitiven Lüftungssystem zusammengesteckt werden.
Zur Angst, lebendig begraben zu werden, kommt die Angst hinzu, entdeckt zu werden. Vor zwei Wochen sprühten ägyptische Grenzsoldaten ein Gas in einen Schacht, in dem zwei Jugendliche hockten. Sie kamen ums Leben. «Drei meiner Cousins kamen in einem Tunnel um, als dieser einstürzte. Ein Cousin wurde getötet, als die Israeli eine Granate in die Tunnelöffnung warfen», sagt Khalil. Sein Bruder Ibrahim meint trocken: «Das ist das Risiko. Was sollen wir tun?» Seit die Israeli abgezogen seien, drohe Gefahr vor allem von der ägyptischen Seite. Die palästinensischen Ordnungshüter machten dagegen keine Probleme, und wenn sie doch einmal eine Razzia durchführten, dann werde er rechtzeitig gewarnt, sagt Khalil. Sein Auftraggeber habe gute Verbindungen zur Autonomiebehörde und zu den Sicherheitsdiensten.
Irgendwann werde er die Schaufel in die Ecke stellen. Er werde heiraten, Kinder haben und einen kleinen Supermarkt eröffnen, hofft Khalil. Bis es so weit sei, fahre er ab und zu nach Kairo, wo das Leben blühe und die Mädchen glücklich seien. Die Ägypter lassen ihn nicht mehr offiziell ausreisen. Da ist es gut, Herr eines Tunnels zu sein.