Die wirtschaftliche Abschnürung des Gazastreifens durch Israel führt zur Verarmung der Bevölkerung. Diese sammelt Abfall und verkauft ihn für wenig Geld zur Wiederverwertung. Mangels Zement verwendet man die aufbereiteten Trümmer von Fabriken zum Bau einer Strasse und einer Kläranlage.
Seit dem frühen Morgen ist Hanafi Mahmud Jarbua mit seinem grossen Leinensack unterwegs. Jetzt hat er vor dem bezugsbereiten, aber leeren Mövenpick-Hotel am Strand von Gaza eine Pause eingelegt. Der 28-jährige Hanafi gehört zum Heer der Sammler, die man in diesen Tagen überall im Gazastreifen sieht und die alles auflesen, was wiederverwertbar ist. Hanafi sammelt Plasticabfälle, die er zu umgerechnet 30 Rappen das Kilo in der Schmelzfabrik neben dem Strand-Flüchtlingslager verkauft. Der Sack ist halbvoll, sein Tageslohn wird nicht mehr als 4 Franken betragen. Früher war er Fischer, und sein Bruder arbeitete in einer kleinen Fabrik, die für eine israelische Firma Kleider produzierte. Doch die Fischgründe vor Gaza sind leer gefischt, da die Fischer nur wenige hundert Meter aufs Meer hinausfahren dürfen, und die Kleiderfabrik hat aufgrund des Exportverbots längst geschlossen.
Brot und Bohnenmus
Seit die Hamas im Juni 2007 den Gazastreifen gewaltsam übernommen hat und Israel den Streifen und seine Bewohner im darauffolgenden September zur «feindlichen Entität» erklärte, darf nichts mehr exportiert werden. Die geschlossenen Grenzen führten zum Ruin der lokalen Wirtschaft. Laut dem Uno-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) sind heute nur noch 23 von 3900 Fabriken im Gazastreifen in Betrieb. Dies führte laut OCHA zu einer Arbeitslosigkeit von 49 Prozent, im Vergleich zu 32 Prozent im Jahr zuvor, und dazu, dass weitere hunderttausend Bewohner des Streifens in die Armut getrieben wurden. Heute leben laut dem palästinensischen Büro für Statistik 80 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens unter der Armutsgrenze, mit einem Monatseinkommen von weniger als 712 Dollar für eine sechsköpfige Familie.
Hanafi und seine Familie gehören zu ihnen. Bis auf Hanafi, den Plasticsammler, und seinen Bruder, der tagtäglich mit Pferd und Karren loszieht, um Aluminium zu suchen, hat in der Familie niemand mehr Arbeit. Zum Frühstück tischt die Mutter Brot, Zaatar-Gewürz und Tee auf, zum Mittag- und Abendessen isst die Familie Bohnen- oder Kichererbsenmus. Die 17 Personen leben in vier kahlen Zimmern im Strand-Flüchtlingslager. Strom gibt es nur ab und zu, Wasser fliesst unregelmässig. Alle drei Monate verteilt das Uno-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) Reis, Öl, Zucker, Milchpulver und andere Lebensmittel. Davon lebe man und von Gottes Gnade, sagt Hanafi.
Während die Hamas weiterhin genügend Geld über den Grenzübergang Rafah und durch die Tunnels schleust, um ihre Schützlinge zu versorgen, trifft der israelische Boykott den Rest der Bevölkerung und die internationalen Organisationen. Nachdem die Banken mangels Bargeld ihre Türen hatten schliessen müssen, konnte die UNRWA im Dezember ihren 10 000 Angestellten nicht einmal mehr den Lohn bezahlen. Der israelische Verteidigungsminister Barak hatte nämlich den Geldtransfer von Ramallah nach Gaza Anfang November gänzlich gestoppt. Auch 94 000 Nutzniessern eines Uno-Programms zugunsten der Ärmsten der Armen, die 35 Dollar Direkthilfe in bar erhalten, wurde der Zustupf gestrichen. Mitte Dezember musste die UNRWA, die als grösste Hilfsorganisation im Gazastreifen waltet, auch ihre Lebensmittelhilfe an 750 000 Einwohner einstellen, weil die Vorratshäuser aufgrund der Grenzschliessung leer waren.
Heute kann die Uno noch ein Siebtel der benötigten Güter einführen. Das israelische Argument, dass die Güter wegen des Raketenbeschusses auf Israel nicht in den Streifen gelassen werden, lässt John Ging, der Chef des Uno-Hilfswerks nicht gelten: «Auch in den fünf Monaten ohne Raketen konnten wir nicht genügend Nahrungsmittel einführen. Diese Blockade für humanitäre Güter, Treibstoff, Nahrungsmittel und Medikamente ist neu. Es handelt sich um eine politische Entscheidung, denn sicherheitstechnisch wäre es möglich, die Güter einzuführen.»
Ging weist darauf hin, dass der einzige Weg, um Stabilität und Sicherheit und im Endeffekt auch Frieden zu erlangen, darin liege, die Bewegungsfreiheit von Personen und Gütern zu sichern. Diese wurde zwar im Abkommen über Bewegungsfreiheit und Zugang im November 2005 verbrieft, die Einwohner des Gazastreifens konnten jedoch wegen des Wahlsiegs der Hamas im Januar 2006 nie von diesem Abkommen profitieren. Ging kritisiert, dass Israel und die internationale Gemeinschaft keinen Unterschied zwischen Terroristen und der Mehrheit der Bevölkerung im Gazastreifen machen, die friedliche Zivilisten seien. «Die allgemeine Formel lautet: Ihr habt Terroristen gewählt, also habt ihr auch kein Recht auf Menschenrechte.» Der Uno-Beamte unterstreicht, dass illegale Aktionen wie der Abschuss von Kassam-Raketen die kollektive Bestrafung der Gesamtbevölkerung des Gazastreifens keineswegs rechtfertigten.
Baustoff aus Ruinen
Zement darf seit Juni 2007 ebenfalls nicht mehr oder nur noch in Kleinstmengen importiert werden. So steht zwar das nötige Geld für die Bauprojekte der Hilfsorganisationen für dringend benötigte Schulen, Häuser, Strassen oder andere Einrichtungen bereit, die Projekte können jedoch nicht begonnen werden. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) versucht sich nun mit kreativen Mitteln zu helfen. Vor Beit Hanun, einer Stadt im Norden des Gazastreifens, sind 400 Tonnen klein gemahlener Steine aufgehäuft. Es sind die Überreste der Fabriken der Industriezone in der Nähe des Grenzübergangs Erez. Die Fabriken, die vielen Einwohnern von Beit Hanun als Arbeitsplatz gedient hatten, wurden im Jahr 2002 von der israelischen Armee zerstört und blieben als Bauschutt zurück.
Einen Teil davon haben 90 Arbeiter im Auftrag des IKRK während eineinhalb Monaten zertrümmert und auf ihren Eselskarren nach Beit Hanun transportiert, wo er zu Kieseln zermahlen wurde. Jetzt soll eine eineinhalb Kilometer lange Strasse daraus entstehen, die zu den Gärten um Beit Hanun führt. Dafür, dass dort der nötige Dünger nicht fehlt, hat die Hilfsorganisation mit einem Kompost-Projekt gesorgt. Gegen Entgelt liefern die Leute Stallmist, der dann zu Dünger aufbereitet und an die Kleinstbauern verkauft wird. Immer mehr Einwohner bauten ihr Gemüse selbst an, weil sie nicht mehr über das nötige Geld zum Kauf von Nahrungsmitteln verfügten, sagt Dragana Rakovic vom IKRK. Zudem habe die israelische Armee grosse Teile des fruchtbarsten Landes, das entlang der Grenzmauer liegt, unbrauchbar gemacht, indem die Felder planiert wurden und die verbotene Zone entlang der Grenze auf einen Kilometer ausgeweitet wurde, obwohl nur eine Breite von 150 Metern vereinbart worden war.
Not macht erfinderisch
Eines der kreativsten Projekte des IKRK, eine Kläranlage, befindet sich in Rafah. Die Grenzmauer zu Ägypten wurde vor einem Jahr von den Einwohnern des Gazastreifens gestürmt und abgebaut, die etwa sieben Meter hohen Betonelemente lagen monatelang ungenutzt an der Grenze. Da heute ein Grossteil des Abwassers von Rafah ungeklärt ins Meer fliesst, plant das IKRK seit langem eine Kläranlage. Da kein Zement für den Bau der Anlage eingeführt werden durfte, nutzten die Ingenieure mit dem Einverständnis von Ministerpräsident Haniya 2300 alte Betonblöcke der Grenzbefestigung. Mit diesen wurden im Sommer zwei Bassins für eine Kläranlage ausgelegt. «In zwei Lagunen werden wir das Abwasser von Rafah sammeln können. Aus dem Schlamm der Anlage können wir Dünger machen, mit dem geklärten Wasser die Felder bewässern», so erklärt der Ingenieur Ashraf Abu Ahsha das Projekt. Noch liegen die Blöcke lose nebeneinander, aber nächsten August soll die Kläranlage fertig sein. Dreissig Tonnen Zement werde es dafür wohl brauchen, den Rest könne man mit dem Bauschutt aus den ehemaligen israelischen Siedlungen auffüllen, sagt Abu Ahsha.