Die Palästinenser in Israel verlangen ihre zerstörten Dörfer zurück
Im ersten arabisch-israelischen Krieg sind zwischen 1947 und 1949 mehr als 750 000 Palästinenser aus ihren Häusern geflohen oder vertrieben worden. Über 400 arabische Ortschaften auf dem heutigen israelischen Staatsgebiet wurden zerstört. Die daraus vertriebenen Palästinenser, die heute noch in Israel leben, möchten dorthin zurückkehren.
Sliman Salim, ein 87-jähriger Palästinenser mit einem gewaltigen Schnauzbart, hat das Brettspiel zur Seite geschoben und die Hände über der Brust gekreuzt. Im Klub der alten Männer in einem dicht besiedelten Quartier von Nazareth, das allseits als das Quartier der Vertriebenen aus Safurieh bekannt ist, wird es für einen Moment still. Dann beginnt Salim unvermittelt mit seiner Erzählung über den Krieg, den die Israeli Unabhängigkeitskrieg nennen und die Palästinenser «Nakba», die Katastrophe: «In der Nacht auf den 16. Juli 1948 bombardierte ein israelisches Flugzeug ohne Vorwarnung unser Dorf. Wer konnte, der floh in die umliegenden Dörfer und Olivenhaine.» – «Ein Strom von Menschen war das», ruft einer der Männer, der damals ein Bub war.
Über 400 verlassene Dörfer
Vor dem israelischen Angriff wohnten 7000 Palästinenser in Safurieh. Die meisten seien Bauern gewesen, hätten gewusst, wie mit dem Pflug umgehen, aber nicht mit den Waffen, höhnt der 72-jährige Sliman Salim. Ihre Gewehre seien alt und rostig gewesen und hätten zum Widerstand nicht getaugt. Nach der Bombardierung floh er mit seiner Familie ins nahe Dorf Rene, wo seine Mutter von israelischen Soldaten erschossen wurde. «Niemand von uns durfte zurück. Wenn wir uns in der Nacht in unsere Gärten schlichen, um unsere Granatäpfel und unser Gemüse zu holen, schossen die Soldaten auf uns. Später zerstörten sie unser Dorf und pflanzten auf dem Hügel Bäume», erzählt Sliman Salim.
Safurieh gehört zu den über 400 arabischen Dörfern, die auf dem heutigen Staatsgebiet Israels seit 1948 von der Armee zerstört wurden. Im Krieg waren 750 000 Palästinenser geflüchtet, sei es, weil jüdische Kämpfer sie bedroht und vertrieben hatten, sei es, weil sie sich vor den herannahenden Israeli in Sicherheit bringen wollten. Heute wohnen sie und ihre Nachkommen grösstenteils in Flüchtlingslagern im Westjordanland, im Gazastreifen und in den umliegenden arabischen Staaten. 150 000 Palästinenser blieben im Staat, den die Juden errichtet hatten, und erhielten später israelische Pässe. Aber auch von ihnen durfte rund ein Viertel nicht in die Häuser zurückkehren, aus denen sie geflohen waren oder aus denen man sie verjagt hatte.
Das Oberste Gericht Israels entschied 1949, dass vertriebene Palästinenser wieder in ihre Häuser zurückkehren könnten. Die Regierung setzte sich jedoch über das Urteil hinweg, indem sie die verlassenen Ortschaften zur geschlossenen militärischen Zone und damit für die Palästinenser für unzugänglich erklärte. Sechzig Prozent des arabischen Landes wurde bis Mitte der sechziger Jahre konfisziert. Als Grundlage dafür diente das «Gesetz der abwesenden Eigentümer», nach dem Land, das nicht vom Eigentümer bewohnt oder bewirtschaftet wird, in den Besitz des Staates übergeht. Grosse Teile des Landes der zerstörten Dörfer wurden vom Jüdischen Nationalfonds mit Wald bepflanzt. So verloren auch die Leute aus Safurieh ihr Land, obwohl sich die meisten von ihnen nur wenige Kilometer weiter weg in Nazareth niedergelassen hatten.
Safurieh wird Tzipori
Wenig ausserhalb von Nazareth leuchtet ein gelbes Rapsfeld. Schafe blöken und Hunde bellen vor Einfamilienhäusern mit frühlingsbunten Gärten. In der Idylle wölbt sich ein Hügel in den Himmel, an dessen Abhängen Pinien wachsen und auf dessen Spitze ein Kloster thront. Daud Bader, der Sekretär der Vereinigung zur Verteidigung der Rechte der intern vertriebenen Palästinenser (Adrid), geht zielstrebig auf das Rapsfeld zu und bahnt sich einen Weg bis in die Mitte. Dort stösst er mit dem Fuss an Steinplatten. «Hier liegt der grösste Friedhof von Safurieh. Hier ruhen die Einwohner des Dorfes, die vor 1948 begraben wurden», sagt Bader und zeigt eine Fotografie aus dem Jahr 1931. Darauf ist der Hügel zu sehen, aber statt Pinien stehen dicht gedrängt die steinernen Häuser von Safurieh. «Das war mein Haus», sagt Abu Arab und zeigt auf ein Steinhaus am Dorfrand.
Wo Abu Arabs Haus war, steht heute ein weisses Einfamilienhaus mit rotem Ziegeldach und einem Garten, in dem sich Hunde balgen. Es gehört Roberta Bell-Kligler und ihrer Familie. Ihre Grosseltern seien vor der Judenverfolgung aus Europa nach Amerika geflohen, erzählt Roberta Bell-Kligler. Wie ihre Eltern ist sie in New York aufgewachsen, doch aufgrund ihrer tiefen Verbundenheit mit der jüdischen Geschichte und dem Heiligen Land sei sie 1979 nach Israel gekommen. Das Dorf, in dem sie mit 400 anderen jüdischen Einwohnern wohnt, heisst heute Tzipori. «Als wir das Land kauften, wussten wir nicht, dass hier einmal ein grosses arabisches Dorf stand. Aber im Garten fanden wir Säulen und Antiquitäten, die 2000 Jahre alt waren und aus der Zeit stammten, als Tzipori ein Zentrum jüdischen Lebens war. Diese jüdische Bedeutung kannten wir, deshalb waren wir hier», erzählt Bell-Kligler.
Als sie von den palästinensischen Einwohnern und Landbesitzern Safuriehs erfuhr, wusste die heute 53-Jährige nicht mehr, was sie tun sollte. Sie begann, Leute aus Safurieh zu treffen und ihre Geschichten aufzuschreiben. Irgendwann, hofft Bell-Kligler, werde Tzipori ein Dorf sein, in dem Juden, Christen und Muslime leben könnten – vorausgesetzt, sie fühlten sich dem Frieden und dem Staat Israel verbunden. Wenn Abu Arab wolle, dann könne er bereits heute ein Stück Land in Tzipori kaufen, er habe schliesslich eine israelische Identitätskarte und sei damit rechtlich ein Israeli, meint Bell-Kligler.
Kein Land für Palästinenser
Auch wenn er sein eigenes Land zurückkaufen wollte, der Staat würde es ihm nicht verkaufen, sagt hingegen Abu Arab. Heute leben 1,2 Millionen Palästinenser in Israel; in Israel werden sie meist arabische Israeli genannt. Doch sie haben nicht die gleichen Rechte wie die jüdischen Israeli, denn Israel definiert sich über seine Religion, es ist ein jüdischer Staat. So hat jeder Jude, wo immer er auch lebt auf der Welt, das Recht, die israelische Staatsbürgerschaft zu erhalten und Land in Israel zu kaufen. Palästinenser hingegen, die im Ausland wohnen, können nicht in ihr angestammtes Land zurückkehren, und selbst Palästinenser, die heute in Israel leben, können in der Praxis kein Land erwerben. Der Staat und der Jüdische Nationalfonds, die zusammen 90 Prozent des Landes besitzen, überlassen in der Regel den Palästinensern kein Land.
In Israel wird die palästinensische Bevölkerung als «demografische Gefahr» wahrgenommen. Da die arabische Bevölkerung rascher zunimmt als die jüdische, befürchten viele Israeli über kurz oder lang den Verlust des jüdischen Charakters und ihrer Kontrolle des Staates. Deshalb verfolge Israel eine Politik, die zum Ziel hat, arabischen Landbesitz zu verringern und den jüdischen zu vergrössern, sagt die Anwältin Suhad Bishara des Zentrums für arabische Minoritätenrechte (Adalah). So sind beispielsweise 71 Prozent der heutigen Bevölkerung Galiläas Palästinenser, sie besitzen jedoch nur 13 Prozent des Landes. Die Regierung erteile Baubewilligungen aufgrund von Kriterien wie «soziale Verträglichkeit», und statt des Zusammenlebens fördere sie damit die Segregation zwischen Palästinensern und Arabern.
Hanna Swaid, der im israelischen Parlament die arabische Partei Demokratische Front für Frieden und Gleichberechtigung vertritt, weist darauf hin, dass die demografische Situation nicht verändert würde, wenn die Vertriebenen, die in Israel geblieben sind, in ihre Dörfer zurückkehren könnten. Swaid stammt selber aus einem Dorf, das 1948 von der Armee abgebrannt wurde, und arbeitet heute in einer Organisation namens Arabisches Zentrum für alternative Planung. Er hat ein Projekt ins Leben gerufen, das anhand des Dorfes al-Ghabsiya die Diskussion um die Rückkehr der Vertriebenen in ihre Dörfer auf eine rationalere, weniger von Emotionen geprägte Ebene bringen soll.
Der Traum vom Wiederaufbau
Al-Ghabsiya war im Mai 1948 trotz einem Nichtangriffspakt von israelischen Soldaten angegriffen worden; 11 Einwohner wurden getötet und die restlichen 700 vertrieben. Nach den Kämpfen kehrten die Einwohner zurück, wurden zwei Jahre nach dem Krieg erneut vertrieben und später, trotz einem gegenteiligen Beschluss des Obersten Israelischen Gerichts, von der Armee an der Rückkehr gehindert. Swaid hat ein Modell für den Wiederaufbau des Dorfes erstellt, anhand dessen er zeigen will, dass auch heute genügend Raum für die früheren Bewohner al-Ghabsiyas und ihre Nachkommen zur Verfügung stehen würde. «Man hat mich bezichtigt, über Land zu sprechen, das längst dem Staat gehört», beschreibt Swaid die Reaktion, die sein Projekt in der israelischen Öffentlichkeit ausgelöst hatte.
Auch in al-Ghabsiya hat der Jüdische Nationalfonds Wald angepflanzt und das Gebiet zum Naturreservat erklärt. Eine Brise weht vom Meer herauf. Man sieht es zwischen Pinien und Dattelpalmen blau glitzern. Nur die halb zerfallene und mit Stacheldraht umzäunte Moschee erinnert an das Dorf, das vor 60 Jahren hier stand. Zwischen den Pinien sitzt der alte Salah Zaini. Er erinnert sich daran, wie sein Vater eine weisse Flagge an der Moschee befestigte, als die israelischen Soldaten einmarschierten. Sein Vater wurde durch einen Schuss getötet. Deshalb seien sie gegangen, sagt Zaini, und nicht freiwillig, wie das seine Enkelkinder in den israelischen Schulen gelernt hätten.