Ein Bauerndorf wehrt sich gegen den Sicherheitszaun
Während gewalttätige Aktionen palästinensischer Gruppen Gegenstand einer umfassenden Berichterstattung sind, wird über den gewaltlosen Widerstand der Palästinenser gegen die israelische Besetzung wenig berichtet. Dieser zeigt sich in Demonstrationen, Protesten und zivilem Ungehorsam gegenüber der Besetzungsarmee.
«Keine Mauer, keine Panzer! Befreit Gaza und das Westjordanland!», schreit das 15-jährige Mädchen mit dem weissen Kopftuch, das in vorderster Front mit schnellen Schritten den Soldaten entgegengeht. Die israelischen Soldaten stehen nur noch wenige Meter vor den etwa hundert Demonstrierenden, einem bunt gemischten Haufen aus Palästinensern, israelischen und internationalen Friedensaktivisten. Im Hintergrund reissen zwei Maschinen mit langen Bohrrüsseln den Boden auf. Sie bereiten das Terrain für den «Sicherheitszaun», der das Dorf Budrus im Westjordanland von Israel trennen soll.
Demonstration gegen die Bulldozer
Die Soldaten halten ihre M 16-Gewehre direkt auf die unbewaffneten Demonstranten. Ein Soldat versucht eine Verlautbarung zu verlesen, die Budrus und Umgebung zur geschlossenen militärischen Zone deklariert, die von niemand anderem als den Bewohnern und den Soldaten betreten werden darf. Seine Stimme wird von Pfiffen übertönt. Dann feuert ein Soldat die erste Patrone mit Tränengas gegen die Demonstranten. Die Leute husten, ziehen ihre Tücher über die Nase, einige bahnen sich ihren Weg zu den Bohrmaschinen. Während sich die israelischen Aktivisten vor eine Walze legen, die langsam den Hügel hinaufrollt, rennen die Palästinenser zurück ins Dorf, gefolgt von israelischen Soldaten.
Eine Verhaftung hat für die Palästinenser weit schlimmere und unberechenbarere Folgen als für die israelischen Aktivisten. Ende Oktober wurde Ahmed Awad, ein Führer des gewaltlosen Widerstandes in Budrus, von israelischen Soldaten verhaftet. Seither sitzt er in Administrationshaft, in der er sechs Monate lang ohne Grund und ohne Prozess festgehalten werden kann. Die israelischen Demonstranten haben sich Plakate auf den Bauch geklebt, auf denen steht: «Ich heisse Ahmed Awad.» Der 20-jährige israelische Aktivist Shaul Magrabi Berger sagt: «Die Leute, die Israeli, sollen wissen, wie unser rassistischer Staat mit den Palästinensern umgeht. Deshalb sind wir hier.» Kobi Snitz, ein Mitglied der israelischen «Anarchisten gegen die Mauer», fügt an: «Die Bewohner von Budrus haben es fertiggebracht, trotz Tränengas, trotz Hartplasticgeschossen, Kugeln, Dutzenden von Verhafteten, 200 Verletzten und einem Toten über fünfzig gewaltlose Demonstrationen durchzuführen. Das ist bewundernswert.»
Die Erfolgsgeschichte von Budrus
Die Geschichte von Budrus ist ein Paradebeispiel für gewaltlosen Widerstand gegen die Besetzung und gegen den Bau des Sicherheitszauns. 1200 Leute leben in diesem Bauerndorf, von dessen Moschee man auf Israel und auf das neu gelegte Trassee des Sicherheitszauns schauen kann. Als die Baustelle für den Zaun am 11. November 2003 das Dorf erreichte, glaubten die Bewohner 300 Hektaren Land verloren. Die Soldaten hängten Notizzettel an die Olivenbäume und teilten so den Bewohnern von Budrus mit, dass sie zwei Wochen Zeit hätten, um beim Gericht in Israel Einspruch gegen den Verlauf des elektrischen Zauns mit Stacheldraht und Patrouillenstreifen zu erheben. Die Bauern fürchteten um ihr Land, um die 3000 Olivenbäume, die gefällt werden sollten. Sie fürchteten auch die Verschandelung der Landschaft und das Eingesperrtsein.
Als die Bulldozer morgens um sieben mit der Entwurzelung von Bäumen und der Aushebung des Erdreichs beginnen wollten, sass bereits mehr als die Hälfte der Einwohner von Budrus auf den Feldern. Kinder, Männer und Frauen assen Hummus und erzählten sich Geschichten. Jeden Tag setzten sich die Bewohner von Budrus auf ihr Land, um es damit vor den Baggerschaufeln und Walzen zu schützen. Manchmal schliefen sie gar vor den Bulldozern. Am 31. Dezember waren die Bulldozer früher da, dazu 26 Jeeps, 15 Autos der Grenzpolizei und 6 zivile Wagen. Abu Ahmed, der in Budrus wohnt und das Volkskomitee gegen den Mauerbau in der Gegend von Ramallah koordiniert, erzählt, dass es so viele Soldaten gewesen seien, dass er sie nicht mehr habe zählen können.
500 Bewohner von Budrus fassten sich an den Händen und brachen durch die Kette der Soldaten. Sie rannten zu den Bulldozern, und während die Soldaten zu schiessen begannen, kletterte ein 16-jähriges Mädchen auf eine der Maschinen. An diesem Tag waren zum ersten Mal auch israelische Aktivisten unter den Palästinensern. Laut Abu Ahmed wurden die Israeli verhaftet und 70 Palästinenser verletzt. Doch das Dorf liess nicht locker. Jeden Tag versuchten sie die Bulldozer zu stoppen, und am 23. Februar 2004, am Tag, als die ersten Anhörungen zur Sperranlage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag begannen, teilte der israelische Kommandant den Bewohnern von Budrus mit, dass der Grenzzaun näher an die Grüne Linie, die Grenze von 1967, verschoben werde.
Widerstand für alle
Nun sind die Bulldozer näher zur Grenze zurückgewichen, doch Budrus wird immer noch 15 Hektaren Land verlieren. Zurzeit liegen die Klagen der Einwohner des Dorfes beim Hohen Gericht in Israel. Dieses hat Ende Oktober einen Baustopp verordnet. Doch die Bagger baggern weiter. Soldaten und Dorfbewohner geraten beinahe täglich aneinander, die einen benützen Maschinengewehre, die andern Steinschleudern. Abu Ahmed gibt nicht auf. «Wir sind Menschen, und als solche wollen wir einen menschlichen Kampf führen. Einen gewaltlosen. Niemand kann uns das Recht auf Widerstand nehmen», sagt er.
Anders als Attentate, wie sie von militanten Gruppen wie Hamas oder Islamischer Jihad durchgeführt werden, sei der gewaltlose Widerstand ein Widerstand, an dem alle mitmachen könnten, erklärt Ahmed, und macht damit auch klar, dass die terroristischen Gruppen eine Minderheit darstellen. Dass er es wirklich ernst meint mit der Gewaltlosigkeit, zeigte er im vergangenen Januar, als er für zehn Tage im Gefängnis sass. Dort traf er Mitglieder von Hamas, um diese vom Konzept der Gewaltlosigkeit zu überzeugen. Mit einem teilweisen Erfolg, wie er selbst sagt. Und Judit Avidor, eine israelische Menschenrechts-Aktivistin, die sich an diesem Nachmittag den Demonstranten angeschlossen hat, meint: «Unsere Regierung sagt uns jeden Tag, dass alle Palästinenser Terroristen sind. Das ist einfach, damit braucht sie keine Erklärungen mehr für Invasionen und Morde an den Palästinensern.»
Die Soldaten haben 41 israelische Aktivisten festgenommen. Aus dem Dorf sind ab und zu Schüsse hörbar. Die Aktivisten stehen zwischen den Militärjeeps und den Wagen der Grenzpolizei. Es hat zu regnen begonnen. Niemand weiss, was passiert. Auch die 22 Soldaten, die zwischen den Aktivisten stehen, scheinen ratlos. Die Frage, ob er in der Militärausbildung gelernt habe, wie man mit unbewaffnetem Widerstand umgehen müsse, verneint ein 22-jähriger Soldat. Was sie mit den Aktivisten machen wollten, will er nicht verraten, und nach dem Grund für ihre Festnahme gefragt, sagt er: «Sie haben sich in einer geschlossenen Militärzone aufgehalten. Sie haben die Arbeiter bei ihrer Arbeit gestört.» Ob er die Arbeit an jener Sperranlage meine, die aufgrund eines israelischen Gerichtsentscheids im Moment gestoppt sein müsste. Er antwortet: «Kein Kommentar.»
Protest im Alltag
Abdeljawad Saleh, ein langjähriger Verfechter des gewaltlosen Widerstandes und ehemaliger palästinensischer Landwirtschaftsminister, hat zweimal an Protesten in Budrus teilgenommen. Heute liegen zwei Dossiers zu Korruptionsfällen in einer Elektrizitätsfirma in Gaza und der zentralen Busstation von Ramallah auf seinem Pult. Bevor der 73-jährige Parlamentsabgeordnete auf Fragen antwortet, will er etwas unterstreichen: Gewaltloser Widerstand werde täglich von allen Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen geübt. «Ist das Ausharren an Checkpoints, das Überleben mit spärlichen Wasserressourcen und das Weiterführen von Geschäften unter miserablen wirtschaftlichen Bedingungen etwa keine Form des Widerstands?», fragt Saleh. Die täglichen Schikanen erschwerten aber die Gewaltlosigkeit, weil sie Emotionen schürten und die Frustration und den Wunsch nach Vergeltung steigerten, erklärt Saleh; sie seien es, die den Boden für den Terrorismus bereiteten.
Im Unterschied zur ersten Intifada versuchen die Israeli laut Saleh gewaltfreie Formen des Widerstands bereits im Keim zu ersticken. Strassensperren, israelische Jeeps und Panzer, bewaffnete Siedler seien im Westjordanland allgegenwärtig. Sie bestimmten, wer auf welcher Strasse fahren darf, wer verhaftet wird und wann ein Gebiet militärisch geschlossen wird. «Wer Frieden will, geht den Weg der Gewaltlosigkeit. Aber die Israeli lassen uns nicht einmal diesen Weg. Wie soll ich denn glauben, dass sie wirklich Frieden wollen?», fragt Saleh. Kritisch steht Saleh aber auch Arafats Nachfolger an der PLO-Spitze, Mahmud Abbas, gegenüber, der sich gegen die Gewaltanwendung ausgesprochen hat: «Er glaubt, man könne alles mit Verhandlungen lösen. Als ob er nicht gesehen hätte, dass gerade Oslo zu den Kontrollposten, den Strassensperren, den diskriminierenden Siedlerstrassen auf unserem Land geführt hat.»
Das eingesperrte Haus
Dass Widerstand nicht nur mit Worten geübt werden kann, zeigt die Familie Amer. Um zu ihrem Haus in Masha im Westjordanland zu gelangen, muss man zuerst durch einen Kontrollposten und dann durch ein Stahltor, für das nur die israelischen Soldaten und Munira Amer einen Schlüssel besitzen. Öffnet Frau Amer das Tor, wird sofort ein Signal zu den Soldaten geleitet, die nach fünf Minuten zur Stelle sind, um sich über die Herkunft und den Grund des fremden Besuchs zu erkundigen.
Das zweistöckige Haus der Familie ist von drei Seiten von einem Zaun mit Stacheldraht und von einer Seite von einer acht Meter hohen Mauer eingeschlossen. Es liegt zwischen der Sperranlage und der Siedlung Elkana und war deshalb ein Dorn in den Augen der Mauerarchitekten. Um die Amers zu vertreiben, wurde ihnen zuerst ein Check angeboten, bei dem sie die Summe für Land und Haus selbst eintragen konnten. Doch die Amers wollten nicht weg. Sie waren 1967 aus dem Dorf Kafr Kasem vertrieben worden und verloren beim illegalen Bau Elkanas vor 20 Jahren ihr Land. Anstatt die Sperranlage zwischen dem Haus und der Siedlung durchzuziehen, wurde das Haus vor einem Jahr kurzum eingemauert. Dass es nicht plattgewalzt wurde, ist dem grossen Medieninteresse für den Fall der Familie Amer zu verdanken.
Kollaborateur oder Fussballtrainer?
Auf die Mauer haben Aktivisten vom International Solidarity Movement blaue Fische und Vögel, die dem Himmel entgegenfliegen, gemalt. Die Wandmalerei kontrastiert mit der Kinderzeichnung, die zwischen dem Lichtschalter und dem grünen Sofa im Innern des Hauses hängt: Ein Soldat schaut über eine Stacheldrahtrolle, hinter ihm ziehen sich braune Hügel über den Horizont. Der 16-jährige Sohn, eines der sechs Kinder, sagt, dass er sich oft einsam fühle und ihn die Angst täglich begleite. Er fürchtet sich davor, dass der Checkpoint geschlossen ist, wenn er von der Schule zurückkommt, oder dass die Soldaten von ihm verlangen, Kollaborateur zu werden. Er träumt davon, Fussballtrainer zu werden. Vom Dach des Hauses kann man über den Stacheldraht, die Strasse und einen Drahtzaun auf die grünen Vorgärten der Siedler sehen. Munira Amer sagt, dass die Siedlerkinder manchmal Steine und Müll über den Zaun werfen. Wieso sie in ihrem Gefängnis bleibt, erklärt sie mit wenigen Worten: «Ich habe Hoffnung. Einmal wird auch diese Besetzung ein Ende haben.»