Kalkilya verliert sein Umland, seine Zukunft und seine Einwohner
Die palästinensische Stadt Kalkilya im Norden des Westjordanlandes ist von der israelischen Sperranlage eingeschlossen. Die Läden und Werkstätten schliessen, die Bauern können einen grossen Teil ihres Landes nicht mehr erreichen, und die Einwohner ziehen fort.
Wäre der Taxifahrer nicht, wir hätten Kalkilya nicht gefunden. Auf den Wegweisern im Norden des Westjordanlandes stehen Namen von israelischen Siedlungen wie Zufim. Kalkilya ist nirgends ausgeschildert. Mit ihren 42 000 Einwohnern gehört die Stadt zu den grösseren Cisjordaniens, und ihr fruchtbares Umland macht sie zu einem regionalen Zentrum für Handel und Landwirtschaft. Doch heute umschliesst die Mauer Kalkilya, acht Meter hoch, ergänzt durch den Sperrzaun mit Stacheldrahtrollen und Patrouillen-Streifen für die israelischen Militärjeeps. Ein Jeep genügt, um den einzigen Ausgang nach Osten zu schliessen, die Stadt komplett abzuriegeln. Der Jeep steht heute wie eine Bulldogge am Strassenrand. Junge Soldaten kontrollieren die Papiere der Ein- und Ausreisenden.
Erinnerung an die Freiheit
Fünf Minuten dauert die Fahrt vom Stadteingang durch das Verkehrsgewühl, bis die Strasse abrupt endet. Die Mauer raubt den Horizont. Auf dem Beton steht «Leben bedeutet Widerstand», und neben Sharons Namen prangt ein schwarzes Hakenkreuz. Man hört das Rauschen von Autos, die über die neue Autobahn donnern, die hinter der Mauer Tel Aviv mit dem Norden verbindet. Ein stinkendes Abwasserrinnsal fliesst aus der Stadt, zwischen Stahlgittern durch die Mauer auf die israelische Seite in die Freiheit. Im Winter, als der Regen das Rinnsal zu einem Bach anschwellen liess, hat sich das Wasser gestaut. Die Gewächshäuser und Felder in Kalkilya wurden überschwemmt, Gemüse verrottete, Hühner ertranken. Davon hat man auf der israelischen Seite nichts gesehen, denn von der Strasse aus sieht man keine Mauer, sondern ein abfallendes, mit Pflanzen bewachsenes Bord. In Kalkilya sagt man: Das ist Psychologie, Kriegspsychologie.
Hätte Said Nasser gewusst, was seiner Stadt blüht, wahrscheinlich wäre er in Italien geblieben. Vielleicht wäre er auch in der Schweiz untergetaucht, als er um Asyl bat. Doch Anfang der neunziger Jahre war der Friede in aller Munde, die Osloer Verträge unterschrieben. Auch Said dachte, es würde alles besser werden, und die Schweiz, die mochte er sowieso nicht. Heute sagt er nur noch: «Sehr schlecht, sehr schlecht die Situation.» Said hat die Papeterie seines Vaters an der Hauptstrasse von Kalkilya übernommen. Hier sitzt er jeden Tag zwischen Kugelschreibern, Heften und Papierblöcken, das leise Summen einer Kopiermaschine im Hintergrund.
Essen, arbeiten, schlafen, so sieht Saids Tagesablauf aus. Manchmal fährt er nach Ramallah, um sich zu betrinken. Meistens bleibt er in Kalkilya, weil die Fahrt nach Ramallah mit den Strassensperren eine bis mehrere Stunden dauern kann. Das Meer liegt nur vierzig Kilometer von Kalkilya entfernt. Seit Beginn der Intifada im Jahr 2000 war Said nicht mehr dort. Wie die meisten Palästinenser darf auch er nicht aus dem Westjordanland ausreisen. Said sagt: «Die Intifada hat uns zerstört. Die Selbstmordattentäter vernichten uns. Sie geben den Israeli einen Vorwand, um uns zu töten, einzusperren, auszupressen wie eine Zitrone.»
Der verbotene Blick
Von Mahmud al-Kas Flachdach aus sieht man das Meer. Es liegt hinter der Mauer, hinter der Autobahn, den modernen Häusern der israelischen Städte Kfar Saba und Raanana. Eigentlich ist es Mahmud verboten, so weit zu sehen. In einer Nacht im Herbst 2005 holten ihn Soldaten der israelischen Armee ab und brachten Mahmud auf einen Militärstützpunkt. Sie sagten: «Du musst deine dritte Etage zerstören. Sie ist illegal. Sie ist ein Sicherheitsrisiko.» Er antwortete: «Ich habe die Bewilligung für den Bau erhalten, bevor ihr die Mauer gebaut habt. Ich war zuerst.» Mahmud nahm sich einen Anwalt und versucht nun so, seine Etage zu retten. Vielleicht, wenn die Israeli merkten, dass er keine Gefahr sei, würden sie ihn nicht zwingen, sein Stockwerk zu zerstören.
«Sie sehen alles. Selbst jetzt beobachten sie uns durch ihre Kameras an der Mauer», sagt Mahmud, reibt sich die Hände an den ölverschmierten Hosen und zeigt auf die Mauer, die hundert Meter vom Haus entfernt steht. Er hat versucht, die Etage an den Roten Halbmond zu vermieten. Die Organisation hat abgelehnt. Jetzt wohnen Hühner in den kahlen Betonräumen. Im untersten Stockwerk betreibt Mahmud eine Autowerkstatt. Ein einziges Auto steht aufgebockt am Eingang, darunter liegt ein Mechaniker und fingert an Drähten herum. Früher machte Mahmud gute Geschäfte, rund 300 Franken am Tag. Damals kamen die Israeli und brachten ihre Wagen in Reparatur. Heute ist es ihnen verboten, nach Kalkilya zu fahren. Mahmud ist froh, wenn er noch 20 Franken verdient.
Saleh Abu Rihan kennt die Geschichten von Kalkilya in- und auswendig. Der Chef des Roten Halbmondes des Distrikts zählt die Probleme der Region auf, als handle es sich um eine Liste für den Wocheneinkauf: 6000 Hektaren Land gingen durch den Bau der Mauer verloren, die Hälfte des Agrarlandes der Stadt, 14 Wasserquellen wurden zerstört, viele Häuser unbewohnbar gemacht und 3 Dörfer von der Stadt abgetrennt. Der tägliche Druck, die Gewalt, die Gewehre auf dem Schulweg, das sei das grösste Problem hier. Jedes Jahr stecke die Europäische Union im Distrikt Kalkilya eineinhalb Millionen Euro in psychosoziale Projekte, sagt Abu Rihan. Die Kinder lernen in Rollenspielen, ihre Angst zu überwinden, und erinnern sich unter farbigen Schirmen an das Gefühl der Geborgenheit. Die Mütter treffen sich mit Psychologinnen, um über häusliche Gewalt zu sprechen. Der Erfolg sei beschränkt, meint Abu Rihan, solange die Wurzel des Problems, die Besetzung, weiter bestehen bleibe und immer neue Traumata bewirke.
Das gelbe Eisentor
Auch in Daba, einem Dorf gleich neben Kalkilya, führt der Rote Halbmond mit EU-Geldern ein Projekt für Kinder. Daba zu erreichen, ist beinahe unmöglich. Das Dorf ist zusammen mit zwei anderen palästinensischen Dörfern eine Exklave im Westjordanland, davon abgetrennt durch den Sperrzaun, der sich wie eine Würgeschlange um die Dörfer legt. Nur Palästinenser, die eine Spezialbewilligung haben oder hier wohnen, dürfen sie betreten. Um sie zu erreichen, nimmt man von Kalkilya eine tief gelegte Strasse, die zum Teil durch Tunnels führt und von Stacheldraht gesäumt ist, durch von Israel annektiertes Land zum Dorf Ras Atiya. Diese Strasse ist eine Modell für die Zukunft; Tunnels werden auch anderswo im durch Mauern und Siedlungen zerstückelten Westjordanland den Palästinensern den Zugang zu ihren Dörfern ermöglichen.
Nach Ras Atiya endet die Strasse an einem gelben Eisentor in der Sperranlage. Auf roten Schildern steht: «Lebensgefahr!» Ein Schild belehrt: «Einwohner! Der Durchgang ist zwischen 6 Uhr und 18 Uhr gestattet.» Manchmal, je nach Laune der wachhabenden Soldaten, sei das Tor auch am Tag geschlossen, zum Beispiel, wenn die Soldaten den Schlüssel vergessen hätten, sagt Abu Rihan. Heute ist das Tor offen. Militärpolizisten sitzen träge in einem gepanzerten Jeep auf der anderen Seite. «Ausweis!», fordern sie, und dann: «Bewilligung?» Ein Kleinlaster bringt von Ras Atiya ein paar Schafe. Er wird nach Daba gelassen. Koordination nennen die Polizisten das lange Warten, das folgt, nachdem unsere Pässe im Militärjeep verschwunden sind.
Eine Viertelstunde später kehrt der Kleinlaster ohne Schafe aus Daba zurück. Der Fahrer will dahin, von wo er vor wenigen Minuten gekommen ist, nach Ras Atiya. Die Polizisten lassen ihn nicht durch. «Keine Bewilligung», sagen sie. Erst als der Fahrer mit dem Besitzer der Schafe aus Daba zurückkehrt und dieser inständig um Durchlass bittet, gestatten sie die Durchfahrt. Sie bezeichnen den Vorfall als ein Versehen.
Mehlsäcke statt Land
Nur sitzt in Daba vor dem Fernseher. Vor seinem unverputzten Haus liegen Säcke voller Mehl, auf denen in blauen Lettern «World Food Programme» steht. Für Nur ist das Mehl ein schlechter Trost: «Was soll ich damit? Einmal ist es aufgebraucht. Gebt uns unser Land, lasst uns in Frieden, dann pflanzen wir unseren Weizen selbst.» Nurs Land liegt auf der anderen Seite des gelben Tors, auf der Seite von Ras Atiya. Es nützt ihm wenig, weil das Tor immer wieder geschlossen ist und er es nicht regelmässig bewässern kann. Für die drei Dörfer gibt es einen Generator. Der Strom reicht abends für eine Hälfte des Films, dann ist er zu Ende. Eine Krankenschwester lebt im Dorf. Nur sagt, man bete, nicht krank zu werden, wenn das Tor geschlossen sei.
Wie die meisten Männer der drei Dörfer arbeitet Nur illegal in Israel. Die Dörfer sind zwar vom restlichen Westjordanland abgetrennt, es führt jedoch eine Strasse ohne Checkpoint nach Israel. Mit der nötigen Vorsicht erreicht Nur so seinen jüdischen Arbeitgeber, der die billigen palästinensischen Schwarzarbeiter schätzt. Als Elektriker verdient Nur tausend Franken im Monat, rund die Hälfte eines israelischen Arbeiters. Natürlich ist er nicht versichert, und das Risiko, verhaftet zu werden und wer weiss wie lange im Gefängnis zu sitzen, trägt er selbst.
Der Spielplatz von Tulkarem
Manchmal träume er davon, seine Kinder und seine Familie wegzubringen, weg aus diesem Gefängnis. Wahrscheinlich sei es genau das, was die Israeli mit ihrer Strategie erhofften, das langsame Ausbluten, die Abwanderung nach Kalkilya oder Tulkarem. In das 25 Kilometer entfernte Tulkarem zu reisen, ist der Traum von Nurs elfjährigem Sohn, denn «dort gibt es einen grossen Spielplatz». Nur bringt seine Kinder selten aus dem Dorf. Einmal, als Nur seine Mutter nach Kalkilya bringen wollte, haben die Soldaten am gelben Tor die alte Frau aufgefordert auszusteigen. Sie haben Schnüffelhunde auf den Beifahrersitz gejagt. Für Muslime sind Hunde schmutzig, nicht akzeptierbar, eine Beleidigung. Nur fuhr seine Mutter wieder nach Hause, um zu duschen. Seither hat er sie nie mehr aus Daba rausgebracht. Der Schmach wegen.