Im Gazastreifen gewinnen die militärischen Führer die Oberhand
Seit der Machtübernahme der Hamas ist der Gazastreifen im Belagerungszustand. Avancen der politischen Führung an Ramallah für ein Arrangement mit den Rivalen von der Fatah werden von diesen zurückgewiesen. Derweil stärken die militärischen Führer ihre Macht und bereiten eine mögliche Konfrontation mit Israel vor.
Seit der Übernahme des Gazastreifens durch die Hamas Mitte Juni ist es still geworden um die politische Führung der palästinensischen Islamistenbewegung. Weder Israel, die USA noch die Europäer sprechen mit dem von Präsident Abbas abgesetzten Regierungschef Ismail Haniya und seiner Entourage. Stattdessen stärken sie der neuen palästinensischen Regierung unter Salam Fayyad in Ramallah den Rücken, die ihrerseits am liebsten nichts mehr mit Gaza zu tun hätte. Allein gelassen und seit zwei Monaten von der Aussenwelt abgeschnitten, sehen sich die neuen Herrscher mit einer Flut von Problemen konfrontiert, deren Lösung die eigenen Kräfte übersteigt. Das grösste Problem besteht in der Schliessung der Grenzen durch Israel, die zu einem totalen Kollaps der palästinensischen Wirtschaft und noch mehr Arbeitslosigkeit geführt hat.
Wer nicht arbeitet, erhält den Lohn
Im August streikten die Arbeiter der Kehrichtabfuhr, weil die Mitarbeiter der Stadtverwaltungen von Gaza und Khan Yunis seit sieben Monaten ihre Löhne nicht mehr erhalten haben und weder die Regierung in Ramallah noch die Hamas das Geld dafür aufwerfen wollen. Der Geldmangel geht auch darauf zurück, dass die Einwohner des Gazastreifens die Steuern nicht mehr bezahlen können oder, nach einem entsprechenden Aufruf der Regierung in Ramallah, nicht mehr bezahlen wollen. Die meisten Angestellten der Autonomiebehörde im Gazastreifen wurden von Präsident Abbas aufgefordert, nicht mehr zur Arbeit zu erscheinen. Bezahlt – mit den Geldern der EU und der USA – wird nur noch, wer nichts tut. Funktionäre, die arbeiten, werden von der Lohnliste gestrichen.
Mahmud Zahhar, als Verfechter eines kompromisslosen Kurses in der Hamas-Führung bekannt, sitzt immer noch in seinem Büro im Aussenministerium, auch wenn er längst nicht mehr Aussenminister ist. Das Ministerium, dessen Mauern von notdürftig zugepflasterten Raketeneinschlägen gezeichnet sind, scheint leer, nur Zahhar gibt sich äusserst beschäftigt. Als Mitglied des palästinensischen Parlaments und Mitglied des Kabinetts wolle er die Probleme der Palästinenser lösen, sagt er. Die Verantwortung für die Probleme und deren Lösung schiebt Zahhar jedoch Ramallah zu: Es liege am Präsidenten, dafür zu sorgen, dass die Grenzen wieder geöffnet würden. Mit der Bemerkung, die wichtigsten Bedürfnisse würden durch internationale Hilfsorganisationen abgedeckt, verneint er auch, dass die Lage besonders dringlich sei. Mehr als die Suche des Gesprächs mit der Arabischen Liga und mit wohlgesinnten arabischen Staatsführern scheinen weder Zahhar noch die anderen Hamas-Führer im Sinn zu haben.
Was die Hamas mit dem Gazastreifen vorhat, bleibt unklar. Befürchtungen, dass das Leben in ein konservatives islamisches Korsett gezwungen werde, weist Zahhar zurück. Der Islam gehöre seit je zur palästinensischen Kultur, und das werde sich auch nicht ändern. Die erste Priorität auf der Agenda der neuen Machthaber ist aber offenbar die innere Sicherheit. Im Unterschied zu vergangenen Monaten, in denen die Regierung ihre Sicherheitskräfte nicht entlöhnen konnte, erhalte heute jeder der 7000 Mann, die im Auftrag der Hamas Polizeidienste erfüllten, einen Lohn, sagt Zahhar. Wie die Hamas angesichts des anhaltenden Finanzboykotts das Geld für die Polizistenlöhne und die anderen Verwaltungskosten zusammenbringen will, will Zahhar nicht sagen. Diese Auskunft diene nur dem israelischen Geheimdienst, meint er unfreundlich.
Seit ihrer Regierungsübernahme nach den Wahlen hat die Organisation aber einige Übung in alternativer Geldbeschaffung gezeigt. So transportierte Ministerpräsident Ismail Haniya selbst Koffer voller Bargeld von Ägypten in den Gazastreifen. Auch durch die Stollen der Schmuggler unter der Grenze zu Ägypten fliesst Bargeld. Um trotz der Sperrung ihrer Konten zu Bargeld zu kommen, wickelt die Hamas auch Geschäfte, beispielsweise den Verkauf von Land, für Dritte im Ausland ab und kassiert danach das Geld in Gaza.
Mit monatlichen Kosten von rund 30 Millionen Dollar für Löhne und Unterhaltskosten ist die Hamas jedoch auch gezwungen, Steuern einzutreiben. Einige aus Ägypten zurückgekehrte Palästinenser berichteten, dass sie von den Exekutivkräften aufgefordert worden seien, Steuern für die mitgebrachten Zigaretten zu zahlen. Dass die Eintreibung von Steuern ihrer Popularität schaden kann, weiss auch die Hamas. Sie sieht sich jedoch in einer Zwickmühle, denn ohne Geld kann sie auch keine Dienstleistungen oder Angestellten bezahlen. Eine Frage ist wohl auch, ob die Hamas bereit ist, Geld aus der Parteikasse für die Administration des Gazastreifens aufzuwerfen.
Gesprächspartner gesucht
Nicht nur Zahhar, sondern auch Ahmed Yusef, der politische Berater von Haniya, dem Chef der Hamas-Regierung, betont, dass es nur einen Weg aus der Krise gebe: das Gespräch mit den Fatah-Führern und die Bildung einer neuen Einheitsregierung. Yusef, der über 15 Jahre in den USA gelebt hat, strahlt Zweckoptimismus aus. Er bezeichnet die Entzweiung von Hamas und Fatah als eine Art Ehekrach, der bald abklingen werde. Die Hamas wäre jedoch nur dann bereit, den Gazastreifen abzugeben, wenn die korrupten Sicherheitsdienste komplett neu strukturiert würden und wirkliche Sicherheit garantieren könnten, sagt Yusef. Zudem müssten die Exekutivkräfte, der Sicherheitsdienst der Hamas, in die Polizei integriert werden.
Auf politischer Ebene fordert Yusef eine Reform der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO), einschliesslich der Aufnahme der Hamas und des Islamischen Jihad. Im Gegenzug biete die Hamas eine fünf- bis zehnjährige Waffenruhe mit Israel an. Ramallah macht jedoch keine Anstalten, auf solche Vorschläge einzugehen, umso weniger, als die ausländische Finanzhilfe, welche der Behörde von Präsident Abbas das Überleben sichert, an die Bedingung geknüpft ist, nicht mit der Hamas zu sprechen. Abbas glaubt, dass er den Gazastreifen nur lange genug isolieren müsse, bis sich die Bevölkerung gegen die Hamas richtet und eine Rückkehr der Fatah erbittet.
Doch die Rechnung des Präsidenten könnte nicht aufgehen. Weite Teile der Bevölkerung im Gazastreifen vermuten hinter der Haltung von Abbas den Willen, die Leute für ihre Unterstützung der Hamas zu bestrafen, und machen ihn für die Misere verantwortlich. Selbst der Stallmeister des präsidentiellen Gestüts im Norden des Gazastreifens, der seinen Lohn noch immer von Ramallah erhält, versteht die Politik des Präsidenten nicht. Er hat von seinem Chef den Befehl erhalten, niemanden mehr reiten zu lassen und die Pferde nur noch mit dem nötigen Futter zu versorgen. Besorgt um seinen Lohn, den er nicht erhält, wenn er den Anweisungen nicht folgt, jedoch mit der Wut eines Pferdeliebhabers im Bauch, fügt sich Abdel Karim nun zähneknirschend den Anweisungen.
Aufstieg der Militärs
Weil sie keine Gesprächspartner von aussen mehr haben, verlieren die gemässigten politischen Führer der Hamas wie Haniya ihren bisherigen Einfluss an die militärischen Anführer. Den Gazastreifen beherrschen heute in erster Linie die Kassam-Brigaden, der militärische Arm der Bewegung, sowie die Exekutivkräfte des Innenministeriums. Ihre Erfahrung als Kämpfer im Untergrund hat sie gelehrt, vor allem auf ihre Waffe zu vertrauen. Die Kontrolle des Gazastreifens ist für sie eine Frage des eigenen Überlebens, und sie sind unter keinen Umständen bereit, diese Kontrolle aufzugeben.
Damit zeichnet sich immer deutlicher ein Machtkampf zwischen der politischen Führung, die ein Arrangement mit der Fatah sucht, und den Kämpfern ab, welche ihren neuen Status als Beherrscher nicht aufgeben wollen. In diesem Gerangel verfügt Ahmed Jabari, der Kommandant der Kassam-Brigaden, über die stärksten Machtmittel und beansprucht eine entsprechende Entscheidungsgewalt für sich und seine Männer. Dass er dabei andere Prioritäten setzt als ein Arrangement mit Israel oder den Dialog mit der Fatah, ist klar. So sagt Abu Abid, ein Kassam-Anführer aus dem Flüchtlingslager von Jabalya, dass er sich nie politischen Führern wie Haniya unterordnen werde. Die Kassam-Brigaden konzentrierten sich zurzeit auf militärische Ausbildung und die Herstellung von Waffen, um im Falle eines israelischen Angriffs gerüstet zu sein.
Das Selbstbewusstsein der Kämpfer zeigt sich auch in ihrem Vorgehen, wenn sie Aufgaben der inneren Sicherheit wahrnehmen. Gegen Gesetzesbrecher, Dissidenten oder Mitglieder der Fatah-Sicherheitsdienste gehen sie mit grosser Härte vor, wie Festnahmen und Gewalteinsätze ohne jede rechtliche Grundlage zeigen. Auch den Medien versucht man, einen Maulkorb anzulegen, wie Berichte von Journalisten zeigen, deren Material beschlagnahmt wurde, wenn es die Hamas oder die Exekutivkräfte in einem kritischen Licht erscheinen liess.
Der Gehorsam der Kämpfer
Dies unterscheidet die heutigen Machthaber jedoch nicht von den früheren, die mit ähnlicher Brutalität und Willkür gegen ihre Feinde vorgegangen sind. Auch bei der Rekrutierung von Mitarbeitern treten altbekannte Muster auf, und dies, obwohl die Hamas die Bekämpfung von Korruption und Klientelismus propagiert. Während die Fatah-Administration früher ihre Mitarbeiter aufgrund von Familien- und Parteizugehörigkeit auswählte, sucht sich die Hamas heute ihre Leute aufgrund ihrer Glaubenstreue aus. Die Begründung dafür lautet, dass man nur Leuten aus den eigenen Reihen trauen könne.
Einen Unterschied gebe es jedoch zwischen den alten und den neuen Machthabern, sagt Omar Shaban, ein Politologe in Gaza: «Die Fatah-Männer wären nie für ihre korrupten Führer gestorben, die Hamas-Anhänger jedoch leben für eine Ideologie, und der militärische Flügel baut auf bedingungslosen Gehorsam.» Wie sich diese Ideologie im Alltag manifestieren wird, bleibt noch ungewiss. Werde die Hamas in Zukunft jedoch noch mehr in die Enge getrieben, sagt Shaban, würden die Führer des Gazastreifens wohl mit Gewalt antworten. Diese könne sich sowohl gegen Ziele in Israel wie gegen Ziele im Westjordanland richten, prophezeit Shaban.