Im israelisch-palästinensischen Konflikt werfen Kinder Steine statt Bälle und sammeln Patronen statt Blumen. Vorbild ist, wer Macht besitzt.
Der fünfjährige Ahmed sitzt aufrecht auf einer dünnen Matratze und bestaunt Arnold Schwarzenegger. Dieser lässt bei jeder Gelegenheit seine Muskeln spielen, genauso oft macht er Gebrauch von seiner Maschinenpistole. «Mein Papa ist stärker», sagt Ahmed, nachdem er sich das Geschehen auf dem Bildschirm eine Weile angesehen hat. Natürlich ist Ahmeds Vater, ein schmächtiger Mann, nicht stärker als Arnie, welcher zudem noch mit allerlei Hollywood-Gadgets versorgt wird, um das böse Monster zu besiegen. «Wir haben hier im Westjordanland ein Problem, und das ist die zerstörte Vaterrolle», wird der Kinderpsychologe Asam Eshataya die Aussage Ahmeds etwas später kommentieren.
Durch die Militärinvasionen und die grosse Präsenz israelischer Soldaten erleben viele palästinensische Kinder, wie ihre Väter erniedrigt, geschlagen oder im schlimmsten Fall getötet werden. Durch die hohe Arbeitslosigkeit verlieren die Männer zudem ihren Status als Ernährer der Familie – ein Verlust, der in einer traditionellen Gesellschaft wie der palästinensischen noch schwieriger zu kompensieren ist. Nach Asams Erfahrung halten sich die kleinen Kinder, wie beispielsweise Ahmed, daher an das Traumbild eines starken Vaters. Später, in der Pubertät, werde das bereits bestehende Gefühl der Hoffnungslosigkeit durch die zerrütteten Familienstrukturen verstärkt, sagt der Psychologe. Die Intifada habe jugendliche Zukunftspläne zerstört und reduziere das Leben auf den nächsten Tag. Zudem seien viele Eltern längst ohne Hoffnung und sähen nicht mehr ein, wieso sie ihre Kinder in die Schule oder an eine Universität schicken sollten, wenn sie für das tägliche Überleben auf einen weiteren Ernährer angewiesen wären. «Das Wichtigste, was ich den Jugendlichen klar zu machen versuche, ist, dass auch diese Besatzung einmal ein Ende haben wird. Bis dahin müssen wir einen Weg finden, um uns nicht vom Leid erdrücken zu lassen», sagt Eshataya. Er erzählt den Jugendlichen von anderen Völkern, die unterdrückt waren und später wieder ein normales Leben führten. Allerdings ändern solche Schilderungen nichts an den Checkpoints, den Hauszerstörungen, den Erniedrigungen und der hohen Arbeitslosigkeit, mit denen sich die Bewohner in den besetzten Gebieten konfrontiert sehen.
In seinen 17 Klassen, die Eshataya in der Region von Nablus betreut, versucht er die Emotionen der Kinder mit Zeichnungen, Musik und Rollenspielen aufzudecken. Eine Explosion der Gefühle im wortwörtlichen Sinn soll damit verhindert werden. «Ein grosser Schwachpunkt unserer Kultur ist, dass vor allem Männer nicht über Gefühle sprechen. Irgendwann gibt es dann einen unerwarteten Knall», erläutert er. Der Psychologe erinnert sich in diesem Zusammenhang auch an die Aktion zweier seiner Schüler. Einen Monat nachdem der Freund eines Schülers von der Armee erschossen worden war, nahm dieser selbst ein Gewehr und näherte sich einem israelischen Stützpunkt. Bevor es zu einem Angriff kam, wurde er von den Soldaten erschossen. Einen Monat danach kam sein 15-jähriger Banknachbar auf dieselbe Art und Weise ums Leben. «Die Knaben waren ruhige und sehr gute Schüler. Ich hätte das nie gedacht», sagt Eshataya. Der Trauer, der die ganze Klasse danach verfallen sei, habe auch er sich nicht entziehen können, denn anders als andere Psychologen teile er dasselbe Leben, dieselbe Besatzung wie seine Schüler.
«Wenn ich die Kinder zeichnen lasse, dann malen 38 von 40 Schülern Bomben, Panzer und Begräbnisse. Anstatt zu spielen, sammeln die Kinder hinter den Soldaten die Patronen auf und bewerfen die Jeeps mit Steinen.» Auch wenn sich dieser Zustand irgendwann vielleicht ändere, werde es lange Jahre nach dem Ende der Besatzung gehen, um die Traumata zu verarbeiten. Wunden zu heilen, während immer wieder neue geschlagen werden, ist nach Eshatayas Meinung das Schwierigste bei seiner Arbeit. Es sei, als würde man ein Pflästerchen auf eine übergrosse Wunde kleben.