Der Gazastreifen zwischen Waffenruhe und einer neuen Besetzung durch Israel
Fast täglich feuern palästinensische Kämpfer Raketen aus dem Gazastreifen gegen Israel. Die israelische Armee bekämpft sie mit Vorstössen über die Grenze und gezielten Tötungen – bis jetzt ohne Erfolg. Nun hat die Hamas, die den Gazastreifen beherrscht, eine Waffenruhe angeboten. Kann die Spirale der Gewalt so gestoppt werden?
Ende April haben sich die Palästinenser in Kairo auf einen Stopp der Raketenangriffe auf Israel geeinigt, falls Israel die Blockierung des Gazastreifens und seine Razzien und gezielten Tötungsaktionen beende. Ägypten hat das Angebot an die israelische Regierung übermittelt, darauf aber keine klare Antwort erhalten. Israel scheint auf das Angebot nur eingehen zu wollen, wenn es auch die Befreiung eines israelischen Soldaten einschliesst, der im Sommer 2006 von palästinensischen Kämpfern gefangen genommen wurde. Verteidigungsminister Ehud Barak droht zudem immer wieder mit einer grossangelegten Militärinvasion, falls der Raketenbeschuss und die Terrorangriffe nicht aufhörten.
Raketen im Eigenbau
«Wir sind auf bestem Weg zu einem Waffenstillstand», versichert Taher Nunu, ein Sprecher der Hamas, die seit dem vergangenen Sommer den Gazastreifen kontrolliert. Der Schlüssel zum Erfolg sei, dass Israel die Grenzen öffne und den Boykott beende, der den Gazastreifen in eine nie gesehene Misere getrieben hat. Mit offenen Grenzen, sagt Nunu, würde sich die Ruhe von alleine einstellen, und alle anderen Probleme wären gelöst. Falls dies jedoch nicht geschehe, würden auch die Raketen weiter aus dem Gazastreifen Richtung Israel gefeuert. Auch Abu Ali, ein Mitglied des Islamischen Jihad, der nach eigenen Angaben zweihundert Männer im Norden des Gazastreifens kommandiert, hat nichts gegen einen Waffenstillstand einzuwenden. Er sagt, dass diese Entscheidung von allen Gruppen unterstützt werde, wenn Israel die gezielten Tötungen und Militärinvasionen stoppe und die Grenzen für mehr als nur Medikamente und Nahrungsmittel öffne.
Abu Ali sitzt mit seinem Freund Marwan in einem Haus in einem Aussenquartier von Gaza. Über dem Haus surrt eine Drohne, im Vorzimmer stopft eine alte Frau Zucchini mit Hackfleisch. Marwan und Abu Ali sind gerade dabei, eine Kassam-Rakete auf eine Abschussrampe zu stellen und die Fahne des Islamischen Jihad für die Foto zurechtzuzupfen. Im Haus versteckt die Organisation Raketen und Abschussrampen, die in Werkstätten in Handarbeit gefertigt werden. Die Rampe ist ein mannshohes Konstrukt aus ein paar verschweissten Eisenstangen. Die eineinhalb Meter grosse Rakete besteht aus einem Kopf, der mit TNT und Nägeln gefüllt wird, und einem Metallrohr, das als Flugkörper dient. Das TNT kommt durch die Schmugglerstollen aus Ägypten, alle anderen Bauteile sind auf dem lokalen Markt erhältlich. Die Raketen fliegen bis zu zwölf Kilometer weit. Manche stürzen bereits vor der Grenze über den palästinensischen Flüchtlingslagern oder Städten ab.
Gleichgewicht der Angst
Im Jahr 2001, ein Jahr nach Ausbruch der zweiten Intifada, begannen die militärischen palästinensischen Gruppen im Gazastreifen mit dem Raketenbeschuss Israels. Nach Angabe der israelischen Armee wurden seither 3930 Kassam-Raketen, 6042 Mörsergranaten und 7 Katjuscha-Raketen abgefeuert. Sie haben 15 Personen getötet und Tausende traumatisiert. Im Kampf gegen die Kassams hat Israel auf militärische Mittel gesetzt. Gezielte Tötungen und militärische Einfälle haben Hunderte von palästinensischen Opfern gefordert und ganze Landstriche zerstört. Aber die Strategie funktioniert nicht, der Raketenbeschuss geht weiter und wurde in den vergangenen Monaten eher noch intensiver.
«Im Feld sind Späher, die melden den Kommandanten, wann die Luft rein ist und keine Drohnen oder Helikopter hörbar sind. Dann gehen wir zu zweit oder zu dritt los, stellen die Rampe auf, schiessen die Rakete ab, und dann musst du rennen. Das ist das Wichtigste, deshalb sind wir alle jung und kräftig», sagt Marwan, der vor drei Tagen seine letzte Kassam-Rakete abgeschossen hat. Das sei die Antwort auf die Ermordung eines Freundes von ihm gewesen. Zehn seiner Freunde seien bis jetzt schon von der israelischen Armee getötet worden. Auch ihn werde es irgendwann treffen, aber er wolle lieber als Held im Widerstand sterben als diesen schleichenden Tod, der Gazas Bewohner mit der zunehmenden Misere drohe.
Marwan kommt aus dem Flüchtlingslager von Jabaliya. Er sagt, wer dort geboren werde, habe keine Zukunft. Alle seine neun Geschwister sind in verschiedenen Widerstandsgruppen aktiv. Marwan begann sich mit 17 Jahren beim Islamischen Jihad zu engagieren, weil auch seine Freunde dort mitmachten. Später trat er in die militärische Organisation der Gruppe ein und begann Raketen zu schiessen. «Die Raketen sind zwar klein und unbedeutend im Vergleich zu den israelischen Waffen, aber sie tragen eine Botschaft: Wir leisten Widerstand, solange ihr uns nicht in Frieden lasst. Wir wollen ein Gleichgewicht der Angst herstellen», sagt Marwan.
Ausser Vergeltung keine Perspektive
Yossi Kupervasser, ein ehemaliger Geheimdienstchef der israelischen Armee, sagt, Gaza werde kontrolliert von Islamisten und die könne man nur mit Gewalt bekämpfen. Dabei unterscheidet er nicht zwischen jenen, die sich die Eroberung der Welt auf die Fahne geschrieben haben, und jenen, welche bloss gegen die Besetzung ihres Landes kämpfen. Kupervasser gibt zwar zu, dass die militärische Bekämpfung der Kassam-Raketen bisher wenig Erfolg gezeigt hat. Es sei beinahe unmöglich, die Raketen mit normalen Waffen zu stoppen, weil sie zu klein seien, erklärt er. Trotzdem kommt für ihn eine Waffenruhe nicht in Frage, denn sie böte den Kämpfern nur die Möglichkeit zur Erholung und Aufrüstung. Wenn es nach ihm ginge, sagt Kupervasser, würde er den Gazastreifen wieder besetzen, bis alle Werkstätten zum Raketenbau und jede Waffe zerstört wären.
Weder die palästinensischen Organisationen im Gazastreifen noch die israelische Regierung und Armee scheinen einen Plan zu haben, der über den nächsten Vergeltungsschlag hinausführt. Auch Kupervasser sagt, höchstwahrscheinlich bleibe alles wie bis anhin; Vergeltungsschläge und begrenzte Vorstösse von Truppen. Nach den Erfahrungen und Verlusten, welche die Armee im Krieg gegen den Hizbullah in Libanon gemacht hat, ist der Versuch einer Wiederbesetzung des Gazastreifens in Israel umstritten. Doch auch die punktuellen Schläge der Armee im Gazastreifen finden bei vielen Israeli, die im Operationsradius der Kassam-Raketen wohnen und die Vergeltungsschläge der Palästinenser fürchten müssen, wenig Unterstützung.
Sderot – im Stich gelassen
Ruthie Eitan unterrichtet am Sapir College in der Nähe von Sderot, das zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt liegt, deutsche Geschichte. Sie kennt die Angst vor den Raketen, mit denen die Studenten und die Anwohner in der Region leben müssen, aus eigener Erfahrung. Erst vor wenigen Wochen ist ein Student des Colleges von einer Rakete getötet worden. «Da kamen auf einmal alle Politiker und liessen sich fotografieren und filmen, dabei haben sie beinahe nichts für uns getan in den vergangenen sieben Jahren», beschwert sich Eitan, die sich von ihrer Regierung im Stich gelassen und instrumentalisiert fühlt. Der Negev, wo die Raketen landen, sei Peripherie, und dafür interessiere sich die Regierung nicht. Deshalb werde immer wieder in Sderot demonstriert – nicht gegen die Hamas, sondern gegen die eigene Regierung, die nicht bereit sei, längerfristig zu planen. Die grossen Militärinvasionen dienen nach Eitans Meinung nur dazu, das Gewissen der Politiker zu beruhigen. «Sechzig Jahre militärische Lösungen sind genug. Wir Mütter wollen unsere Kinder nicht mehr verlieren. Deshalb rate ich unseren Politikern, das Angebot der Waffenruhe anzunehmen und auf Dialog zu setzen.»