Wenig Hoffnung für palästinensische Kollaborateure
Könnte Israel nicht auf ein grosses Netz von palästinensischen Kollaborateuren zählen, wären seine Erfolge bei der Jagd auf palästinensische Militante wohl bedeutend geringer. Der Lohn der Kollaborateure ist auch ein Leben in Angst.
«Hätte ich gewusst, was es bedeutet, mit den Israeli zusammenzuarbeiten, hätte ich lieber mit dem Teufel paktiert – oder mir die Hände abgehackt.» Der Mann, der so deutliche Worte findet, ist Palästinenser, 48 Jahre alt, wir nennen ihn Mahmud. Er sitzt in einem Nobelhotel in Jerusalem und schaut immer wieder nervös auf seine goldene Uhr am Handgelenk. 30 Jahre lang hat er mit dem Shabak, dem israelischen Geheimdienst, als Spitzel zusammengearbeitet. Er war ein Kollaborateur, und in den Augen der Palästinenser ein Verräter.
Lebensunterhalt als Spitzel
Als die Israeli Mahmud rekrutierten, erklärten sie ihm, dass er der wahre Freund des palästinensischen Volkes sei. Er würde dafür sorgen, dass nicht unschuldige Menschen, zum Beispiel Kinder, sterben müssten. Mahmud sagt, er habe den Israeli geglaubt, er sei gegen jede Art von Terrorismus. Zudem sei er damals gerade mal 11-jährig gewesen. Zuerst musste er kleine Informationen beschaffen, den Arbeitsort von Leuten ausfindig machen oder die Namen von Nachbarn weiterleiten. Später wurden die Aufträge gefährlicher, komplizierter und schmutziger. Er sass hinter verdunkelten Scheiben in den Autos der israelischen Spezialeinheiten und zeigte, wo die Leute wohnten, die der Shabak suchte und oft gleich an Ort und Stelle verhaftete oder tötete. Später erweiterte Mahmud seine Spitzeltätigkeit und stieg in Geschäfte ein, die bei der allgemeinen Landknappheit besonders verschrien sind: Er verkaufte palästinensisches Land an Israeli.
Natürlich hätte er aufhören wollen, aber es sei einfach zu spät gewesen. Mit der Kollaboration verdiente er nicht nur seinen Lebensunterhalt, seine Auftraggeber verschafften ihm auch allerlei Bewilligungen und halfen ihm bei der Überwindung von bürokratischen Hürden. Pro Auftrag zahlte der Geheimdienst zwischen hundert und tausend Franken, das reichte für eine Familie mit vier Kindern. Zur Tarnung gab sich Mahmud als Händler aus.
Dann erfuhren die palästinensischen Sicherheitsdienste von seiner Tätigkeit. 1998 lud Tawfik Tirawi, der Chef des palästinensischen Geheimdienstes in Cisjordanien, Mahmud zu einem Abendessen in Bethlehem ein und zeigte ihm eine Liste mit Namen. Es handelte sich um einige Dutzend Kollaborateure, die den Israeli Land verkauft hatten. Mahmud sollte den palästinensischen Sicherheits- und den Geheimdiensten helfen, die aufgelisteten Männer umzubringen. Als Gegenleistung wurde ihm Straffreiheit garantiert. Mahmud verlangte zwei Wochen Bedenkzeit und reichte die Liste an den israelischen Geheimdienst weiter, damit dieser die Leute schütze konnte. Da Tirawi kurz danach in politische Schwierigkeiten geriet, wurde Mahmud vorerst in Ruhe gelassen. Kurz nach dem Gespräch wurden jedoch die ersten Männer, deren Namen Mahmud auf der Liste gesehen hatte, umgebracht. Der Shabak hatte nichts unternommen, um sie zu retten.
Im gleichen Jahr wurde Mahmud vom Shabak aufgefordert, das Westjordanland zu verlassen. Er sei pensioniert worden, kommentiert er. Seit 1998 hat Mahmud keine Aufträge mehr für den Shabak erledigt. Als «Pension» erhält er 1000 Dollar im Monat, mit denen er seine Familie knapp über Wasser hält. Es reicht jedoch nicht, um aus dem Westjordanland nach Israel zu ziehen und sich in Sicherheit zu bringen. Um sein Einkommen zu verbessern, verdient er sich mit jenem Beruf etwas dazu, der ihm vorher als Tarnung gedient hatte: Kleinhandel mit Gebrauchsgegenständen.
Sein Leben sei ein Trümmerhaufen, sagt Mahmud, und daran sei vor allem der israelische Geheimdienst Schuld. «Die Angst ist mein ständiger Begleiter», sagt der Ex-Kollaborateur und öffnet seine Laptop-Tasche, in der er einen Revolver, zwei Klappmesser und eine Packung Beruhigungspillen mit sich trägt. Jeden Tag schlucke er vier der Pillen, berichtet er, nach Jerusalem gehe er nur noch am Tag und sein Haus in der Peripherie einer Stadt im Westjordanland verlasse er nur noch in ganz dringenden Fällen. Dass man ihn bis jetzt noch nicht umgebracht habe, sei ein Wunder; Mahmud erklärt es damit, dass er in seinem Dorf und seiner nächsten Umgebung nie jemanden verraten habe.
In diesem Januar warnten die Israeli Mahmud, dass die Palästinenser seinen 17-jährigen Sohn entführen wollten. Sie rieten ihm, nach Israel zu ziehen. Mahmud fragt: «Wo soll ich denn hin? Wer hilft mir?» In der Nacht vor unserem Treffen ist ein Knabe in seiner Nachbarschaft gekidnappt und mit Messern bedroht worden. Mahmud glaubt, dass der Angriff eigentlich seinem Sohn gegolten habe und das Opfer verwechselt wurde. Wer hinter dem Angriff steckt, kann Mahmud nur vermuten; vielleicht die Aksa-Brigaden, vielleicht ein palästinensischer Sicherheitsdienst, vielleicht auch die Israeli.
Auf die Israeli hat Mahmud jedenfalls die grösste Wut; sie hätten ihn gekauft, benutzt und dann fallen gelassen wie eine heisse Kartoffel. Wolle er vor dem Gericht eine Entschädigung fordern, dann heisse es wahrscheinlich «geheime Akte», und der Fall sei erledigt. Die offizielle Regierungsstelle, die für die Unterstützung der Kollaborateure zuständig sei, habe bekannt gegeben, dass sie nach Ende der Kollaboration nur noch ein Jahr lang die 1000 Dollar bezahlen werde. Neben dem finanziellen Druck belastet auch der Verlust seines gesellschaftlichen Ansehens den Kollaborateur. Lange Zeit hatte Mahmud Angst, dass er für seine drei Töchter keine Ehemänner finden würde. «Gott sei Dank, hat es doch noch geklappt!», seufzt Mahmud.
Die Schwierigkeiten bei den Kompensationszahlungen an Kollaborateure kennt die israelische Anwältin Nitsana Darshan-Leitner gut. Sie vertritt ehemalige Spitzel, die heute in Israel leben. Dabei hat sie vor allem mit zwei Sorten von Fällen zu tun: die Kollaborateure, die von der palästinensischen Behörde aus Israel entführt werden, um in den besetzten Gebieten verurteilt zu werden, und jene, die von Israel keine oder nur eine ungenügende Entschädigung erhalten. Einige hätten eine Wohnung erhalten, man helfe ihnen bei der Arbeitssuche, aber die Hilfe sei beschränkt. Da selbst viele Israeli arbeitslos seien, blieben den Ex-Kollaborateuren höchstens schlecht bezahlte Jobs. Sie gälten als menschlicher Abschaum und hätten es schwer, sich in Israel zu integrieren. Sie blieben deshalb meist unter sich.
Hillel Cohen ist Lehrbeauftragter für palästinensische Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem und hat seine Dissertation zum Thema der palästinensischen Kollaborateure verfasst. «Kollaborateure werden nach ihrer Entlassung oft zu Kleinkriminellen, wenn sie es nicht schon vorher gewesen sind», sagt der Forscher. Dies erklärt Cohen auch mit der Rekrutierungsmethode, welche die Israeli nach der Schaffung der Autonomiebehörde anwandten. Hunderte von Kollaborateuren seien in der ersten Intifada getötet worden. Um ein neues Netz von Kollaborateuren aufzubauen, hätten die Israeli die Entlassung vieler Palästinenser aus dem Gefängnis an die Bedingung geknüpft, dass diese Spitzeldienste leisten würden. Heute werde grundsätzlich jeder Palästinenser als potenzieller Kollaborateur gesehen, sagt Cohen.
In der Tat bieten sich den Geheimdiensten immer noch zahlreiche Ansätze, um einen Spitzel zu rekrutieren. Reise-, Arbeits- und andere Bewilligungen müssen die Palästinenser bei der israelischen Militärverwaltung einholen. Oft heisst es dann: «Wir helfen dir, wenn du uns hilfst.» Seit der Abriegelung der Grenzen im Westjordanland versuchen immer mehr Palästinenser, illegal nach Israel zu kommen, um Arbeit zu finden. Werden diese Arbeiter ohne gültige Papiere an der Grenze erwischt, haben sie oft nur die Wahl zwischen Gefängnis oder Kollaboration. Hängt das Schicksal einer ganzen Familie am Lohn des Vaters, fällt die Entscheidung zwischen Vaterland und Familie oft zugunsten der Familie.
Manchmal wird rücksichtslos mit dem arabischen Ehrgefühl gespielt: Frauen werden von israelischen Agenten oder Kollaborateuren auf der Toilette gefilmt. Danach droht man ihnen, das Videoband zu veröffentlichen, wenn sie nicht kollaborieren. Cohen erzählt auch von zwei palästinensischen Prostituierten, einer Mutter und deren Tochter, die der Shabak einsetzte. Den Palästinensern, die mit den Frauen verkehrten, drohte man, ihre sexuellen Verhältnisse öffentlich zu machen, es sei denn, sie kollaborierten. Wie viele Kollaborateure in den besetzten Gebieten leben, weiss niemand. Es müssen Tausende sein. Wie Cohen sagt, stehen viele von ihnen nicht direkt mit den Israeli in Kontakt, sondern werden von anderen Kollaborateuren angewiesen.
Es ist klar, dass keiner ohne Druck zum Kollaborateur wird. Solcher Druck ist nach dem Völkerrecht jedoch verboten. Artikel 31 der Vierten Genfer Konvention bestimmt: «Auf die geschützten Personen darf keinerlei physischer oder moralischer Zwang ausgeübt werden, namentlich nicht, um von ihnen oder Drittpersonen Auskünfte zu erlangen.» Cohen meint jedoch, dass Israel das Recht habe, sich vor Terror zu schützen. Dieses Recht schliesse nicht das Recht ein, alle Palästinenser bis zu den Kindern als mögliche Kollaborateure zu sehen. Legitim sei die Anwendung von Druck nur, wenn der Kollaborateur zu einer terroristischen Gruppe gehöre und wenn Menschenleben direkt gefährdet seien.
Palästinensische Justiz und Selbstjustiz
Wenn Kollaborateure nach dem Ende ihrer Dienste nicht die Möglichkeit erhalten, nach Israel überzusiedeln, droht ihnen die Rache ihrer Landsleute. Werden sie von den palästinensischen Sicherheitsdiensten gefasst, können sie von Glück reden; sie werden vor Gericht gestellt und meistens zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt. Um Geständnisse zu erreichen, setzten die palästinensischen Sicherheitsdienste in ihren Verhörmethoden auf psychologischen Druck, wie sie ihn bei den Israeli erfahren haben. Ein Verantwortlicher der Einheit für präventive Sicherheit in Ramallah erklärt: «Wir lernen von den Israeli. Die haben mich in ihrem Gefängnis tagelang nicht schlafen lassen. Sie haben laute Rockmusik gespielt und mich immer geweckt, wenn ich einnickte. Schliesslich habe ich geredet. Diese Methode ist viel effektiver als Gewalt. Wir wenden sie jetzt auch auf die Kollaborateure an.»
Geraten die Spitzel aber in die Fänge einer militanten Gruppe, macht man mit ihnen meistens einen kurzen Prozess. 19 Kollaborateure sind im Jahr 2004 nach den Angaben der Palestinian Human Rights Monitoring Group ermordet worden, 14 von ihnen von den Aksa-Brigaden, einem bewaffneten Arm der Fatah. «Jeder Spion erhält sein Gericht», sagt Fadi, ein Mitglied der Aksa Brigaden von Nablus. Die Richter spielen bei den Aksa-Brigaden deren Mitglieder gleich selbst. Der Beschuldigte kommt nach Fadis Angaben in Begleitung eines Verwandten zum «Gericht», und das Verhör wird auf Videoband aufgezeichnet, um das Geständnis auch für die Öffentlichkeit festzuhalten. Die Strafen unterscheiden sich je nach Art der Kollaboration. Kleine Fische, die wenig bedeutende Informationen weitergegeben haben, werden in Beine, Arme oder andere Körperteile geschossen. Wer eine Information verkauft hat, die zum Tod eines Kämpfers oder Verantwortlichen führte, wird umgebracht.
Ramzi al-Assi wurde im Januar 2005 bei Nablus von Aksa-Kämpfern mit einer Kugel niedergestreckt und auf der Strasse liegen gelassen. Assi habe eine Autobombe am Auto eines Aksa-Führers befestigt und diesen dadurch getötet, erklärt Fadi. Die Israeli hätten ihm 2900 Franken für die Tat versprochen, gezahlt hätten sie 120 Franken. «Wenn wir ihn nicht umgebracht hätten, dann hätte es die Familie desjenigen getan, dessen Tod er verursacht hat.» Begnadigung sieht die Selbstjustiz der Aksa-Brigaden nicht vor, Mitleid kennt Fadi keines: «Wenn einer seine Heimat verkauft, dann hat er den Tod verdient.»