Die Integration entlassener Gefangener in Palästina
Gefangenschaft gehört in der palästinensischen Gesellschaft zur Normalität. Nach der Entlassung aus der Haft entpuppt sich die ersehnte Freiheit für viele Palästinenser jedoch oft als schwierige Herausforderung. Familie und Freunde sind fremd geworden, und die psychischen Folgen der Gefangenschaft sind schwer zu ertragen.
«Ich träumte von der Freiheit, vom Leben. Ich stellte mir vor, was ich draussen tun würde. Ich wollte studieren.» Die Tage, in denen Mohammed Faraj versuchte, sich sein Leben nach der Gefangenschaft vorzustellen, liegen noch nicht weit zurück. Vor zwei Monaten wurde der 26-jährige Palästinenser aus dem Nakab-Gefängnis in der Wüste Negev entlassen. Im Mai 2003 war Mohammed an einem Checkpoint bei Nablus festgenommen worden, als er auf dem Weg nach Ramallah war, um seine neue Arbeit im Tourismusministerium in Ramallah anzutreten. Die Israeli warfen ihm vor, einem Freund, der bei den Aksa-Brigaden war, ab und zu Unterschlupf geboten zu haben. Dies reichte, um für Israel als Sicherheitsrisiko zu gelten und über anderthalb Jahre hinter Gittern zu verschwinden.
Das Gefängnis – eine andere Welt
Heute schaut Mohammed beinahe wehmütig auf die Zeit im Gefängnis zurück. Er hält das Buch «Sophies Welt» in der Hand und erzählt immer und immer wieder von den vielen Stunden, die er im Gefängnis mit Lektüre verbracht hat. Das Leben sei gut organisiert gewesen, jeden Tag hätten sie zwei Stunden gelesen und dann über ein Thema diskutiert. Politik, Geschichte, Kunst, Philosophie, jeden Tag ein anderes Thema. Seine Familie habe ihm gefehlt, und die eingeschränkte Sicht auf die Welt habe ihm zu schaffen gemacht. Schwer zu ertragen seien auch die brutalen Verhörmethoden gewesen, erzählt Mohammed. Die Gefangenen seien gezwungen worden, stundenlang mit hinter dem Kopf verschränkten Armen aufrecht zu stehen. Wenn sie dies nicht schafften, wurden sie geschlagen.
Mohammed erwartete, seine Leiden würden ihm nach der Entlassung Anerkennung und eine Entschädigung einbringen. Doch bei seiner Rückkehr nach Balata, dem grossen Flüchtlingslager bei Nablus, fand er seine Familie nicht mehr vor. Da der Ernährer der Familie im Gefängnis sass, war sie nach Jordanien geflüchtet, um bei Verwandten in einem Flüchtlingslager bei Amman Zuflucht zu suchen. Nach seiner Entlassung hat er sich tagelang in der Wohnung seines Onkels im Flüchtlingslager eingesperrt, um alleine zu sein und zu lesen. Seine Freunde sagen, er habe sich verändert, und für ihn sind die Leute fremd, die nie im Gefängnis waren.
Widad Kader, eine Psychologin, die für das Rehabilitationsprogramm der palästinensischen Behörde in Ramallah arbeitet, erklärt, aus psychologischer Sicht sei nicht die Länge der Gefangenschaft das grösste Problem, sondern wie die Gefangenen behandelt worden seien. Gefangene würden angespuckt, müssten sich nackt ausziehen, würden geschlagen oder müssten sich jeden Tag dreimal von den Wächtern zählen lassen. Dies habe zur Folge, dass die Gefangenen bei ihrer Entlassung ihre Selbstachtung verloren hätten und sich ihren Kollegen unterlegen fühlten. Die Entlassenen versuchten stark zu wirken, fühlten sich jedoch meistens schwach. Kader versucht mit Gruppentherapie und in Einzelgesprächen dieses Ungleichgewicht auszubalancieren, den psychischen Druck zu lindern, indem sie Emotionen an die Oberfläche zu holen versucht.
«Manchmal frage ich mich, was das Leiden all der Gefangenen soll, wenn am Schluss nichts dabei herauskommt», bemerkt Mohammed bitter. Das Gefangenenministerium vertröstete ihn jeden Tag auf den nächsten, wenn er um Hilfe bat. Vor allem an kalten Tagen plagt Mohammed zudem eine alte Verletzung, die er an einer Demonstration gegen die Israeli erhalten hatte. Der Schuss eines Soldaten hatte einen Nerv in der Hüfte zertrennt und ein Bein gelähmt. Eine Operation hat das Bein wieder funktionstüchtig gemacht, doch um den Schmerz zu beseitigen, wären weitere Eingriffe nötig. Doch Mohammed hat kein Geld. «Ich will studieren, ich will reisen, ich möchte irgendwann ein guter Journalist werden», sagt Mohammed, als er mit langsamem Schritt durch das Flüchtlingslager hinkt.
Der abwesende Vater
Mohammed stoppt vor einer Tür. «Hier wohnt der dienstälteste Gefangene von Balata», sagt er und meint Megdad al-Khatib, der 20 Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht hat, bis er vor einem Monat in die Freiheit entlassen wurde. Vor der Tür steht ein roter Jeep mit einem israelischen Nummernschild. Um den Wagen herum haben sich junge Männer gruppiert, die den Jeep mit der Sorgfalt, die einer Geliebten gebührt, waschen. Megdads einziger Sohn Mahmud, der selbst vor wenigen Monaten aus dem Gefängnis entlassen worden ist, hat sich seit seiner Rückkehr als Importeur von gestohlenen israelischen Fahrzeugen einen Ruf erworben.
Mahmuds Gefängnisaufenthalt hatte zumindest etwas Gutes: Er lernte seinen Vater kennen. Denn als Megdad gefangen genommen worden war, war Mahmuds Mutter im dritten Monat schwanger. Bei den kurzen Gefängnisbesuchen als Kind konnte Mahmud seinen Vater weder berühren noch richtig sehen. «Das erste Treffen mit meinem Sohn war wie im Film. Sogar ein Gefängnisaufseher hat geweint», erinnert sich Megdad, der in einem kalten Zimmer ohne Fenster sitzt und sich langsam die Knie reibt. Er wurde verurteilt, als er 19 war, weil er einen israelischen Soldaten erschossen hatte. Megdad sagt, das sei gleich nach dem Massaker in Sabra und Chatila passiert. Als die Nachricht bekannt wurde, habe das Blut vieler Palästinenser gekocht.
Während Megdad im Gefängnis war, hat seine Frau Jamila die Mutter- und die Vaterrolle übernommen und musste das Geld finden, um das Überleben der kleinen Familie zu sichern. Die Palästinensische Befreiungsorganisation zahlte eine kleine Rente, die jedoch in keiner Weise ausreichte. Megdads Mutter trat ihre Pension ab, und Megdads Bruder spendete sein Monatseinkommen von 120 Franken für die zweiwöchentlichen Taxifahrten ins Gefängnis. Jamila verdiente etwas Geld, indem sie sich um alte Leute kümmerte. Der Anwalt musste bezahlt werden, und der Gefangene brauchte Geld für Zigaretten, Fleisch und Toilettenartikel.
Eingefrorene Gefühle
«Wir arbeiteten alle für Megdad. Gott hat uns geholfen», sagt Jamila. Sie hat ihren Mann regelmässig besucht, wobei sie jeweils um fünf Uhr morgens losfuhr und um zehn Uhr nachts zurückkam, um eine halbe Stunde bei ihm zu sein. «Wir haben immer über die Gesundheit und die Familie gesprochen. Über Probleme haben wir bald nicht mehr geredet, weil ich die Zusammenhänge nicht mehr kannte und sowieso nichts tun konnte», erzählt Megdad. Irgendwann habe er den Bezug zur Aussenwelt, das Gefühl für die Gesellschaft, in der er gelebt habe, verloren. Das Einzige, was ihm geblieben sei, waren Erinnerungen. Die Welt war für Megdad im Jahr 1984 stehen geblieben. Wie die Psychologin Widad Kader erklärt, hat die Länge der Gefangenschaft vor allem Auswirkungen auf die Reintegration in der Gesellschaft. Je länger ein Gefangener von seinem Umfeld weggesperrt gewesen sei, desto grössere Problem habe er, sich wieder zu integrieren. Die ersten Schwierigkeiten zeigen sich laut Kader bei der Reintegration in der Familie. Die Kinder sehen den zurückkehrenden Vater als Fremdkörper in der Familie und als Konkurrenz zur Mutter. Diese hatte die Vaterrolle übernommen und ihr Leben selbständig organisiert. Bei der Rückkehr ihres Ehemannes wolle sie oft diese Eigenständigkeit nicht mehr aufgeben, was in einer traditionellen Gesellschaft wie der palästinensischen für den Mann schwierig zu verstehen sei.
Kader spricht deshalb schon vor der Entlassung der Männer mit deren Ehefrauen und versucht dann im Gespräch mit beiden Partnern, die Rollenverteilung zu klären. Schwierig sei es, sagt die Psychologin, die emotionale Bindung zwischen den Ehepartnern wieder herzustellen. «Einige Gefangene frieren ihre Gefühle in ihrer Haftzeit ein. Danach herrscht ein emotionales Loch», sagt Kader und erzählt vom Fall eines Entlassenen, der sieben Jahre im Gefängnis war. Einen Monat vor seiner Entlassung habe er täglich darüber nachgedacht, wie er mit einer Frau umgehen müsse.
Langes Warten auf Unterstützung
In die Welt von 2004 zurückzukehren, sei alles andere als einfach, gibt Megdad zu. «Ich war enttäuscht, als ich zurückkam. Ich dachte, dass die Leute draussen gut sind und uns helfen werden.» Die Mühlen der Ministerien mahlen jedoch langsam. Vom versprochenen Geld hat der Entlassene noch nichts gesehen, und so hat er als Erstes 1300 Franken von der Bank geliehen, um sich Kleider und einen Fernseher zu kaufen. Mit 49 Jahren hat Megdad ein Soziologiestudium begonnen. Seine Kollegen haben ihr Studium längst abgeschlossen, betreiben ein kleines Geschäft oder sind wie die meisten im Flüchtlingslager arbeitslos. Der kleine Mann wiegt bedächtig den Kopf und sagt: «Der wichtigste Punkt ist jetzt, dass wir Geld für Essen kriegen.»
Raid Amer kennt Megdad al-Khatibs Geschichte. Der Chef des Palästinensischen Gefangenenverbands im Norden des Westjordanlandes sagt, dass seine Organisation daran arbeitet Geld für Megdad bereitzustellen. Die Nichtregierungsorganisation, die von ehemaligen Gefangenen gegründet wurde und die Gefangenen und ihre Familien unterstützt, leidet jedoch an chronischem Geldmangel. Radi Jarai, der Initiator des Rehabilitationsprogramms, ist auch stellvertretender Minister des Gefangenenministeriums. Er hat selbst über zwölf Jahre in israelischen Gefängnissen verbracht und kennt die Probleme entlassener Gefangener aus eigener Erfahrung.
Er sagt, man habe beim Start des Rehabilitationsprogramms den Fehler gemacht, dieses vor allem auf ökonomische Bedürfnisse auszurichten. Das grösste Problem der ehemaligen Gefangenen sei es jedoch, die psychischen Folgen von Folter und Unfreiheit zu überwinden und sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Deshalb würden den Entlassenen nicht nur Ausbildungskurse, sondern auch psychologische Beratung angeboten. «Das Gefängnis ist eine Art ideale Gesellschaft. Nichts gehört einem, und so werden die Leute nach dem beurteilt, was sie sind, und nicht nach dem, was sie haben. Draussen ist das anders», sagt Jarai und fügt an: «Unser politisches System im Gefängnis war progressiver als die palästinensische Autonomiebehörde.»