Zwischen Töten und Tanzen in Afghanistan: Das Leben der US-Soldaten auf ihrer Mission impossible.
«He fucked a donkey.»Unteroffizier Orlando, 36, gebürtiger Puerto- Ricaner, hat es gesehen. Schliesslich hat er hier auf einem Aussenposten von Camp Nathan Smith das Kommando und behält den Grossbildschirm im Auge, über den in kurzen Abständen die Bilder der Überwachungskamera flimmern. Die Kamera hängt hoch über Kandahar in einem weissen Ballon, der aussieht wie ein Zeppelin. Ein Zeppelin, der ein Haar auf einem Kopf sehen könnte – oder eben, wie vor ein paar Tagen, diesen Kandahari mit seinem Esel in einem Innenhof. Jetzt, mitten in der Nacht, huschen grüne Schatten über den Bildschirm: Soldaten auf Taliban-Jagd. Nur Taliban sind nirgends zu sehen. «Sind schwer zu unterscheiden von den anderen, den Guten», sagt Orlando und zeigt auf die Fotos der gesuchten Taliban, die neben dem Bildschirm hängen. Bärtige Gesellen mit Turbanen. «Die gleichen sich alle. Da nützt die beste Kamera nichts. Anders bei jenem Kandahari mit seinem Esel. Hat wohl geglaubt, er sei sicher vor den Augen der Nachbarn in seinem Innenhof mit den Lehmmauern, wie sie jedes afghanische Haus hat; die schützen vor neugierigen Blicken, aber nicht vor unserer Kamera», sagt Orlando und lacht, etwas verlegen, weil man das vielleicht doch nicht hätte erzählen sollen, nicht einer Journalistin. Eselficker sehe man ja nicht nur mit der Kamera, fügt er hinzu, fast entschuldigend, manchmal stünden die auch am Strassenrand, schamlos.
Rache
Ursprünglich wollte Orlando nach Afghanistan kommen, um sich zu rächen. Denn als Manager von Citibank hatte er 34 Mitarbeiter verloren, als die Flugzeuge am 11. September 2001 in die Zwillingstürme flogen. Auch seine beiden Assistentinnen kamen dabei ums Leben. Er selbst blieb verschont. Zum Zeitpunkt des Anschlags hatte er auf dem New Yorker Flughafen auf den Abflug nach Buenos Aires gewartet. Eine Geschäftsreise, die nie mehr stattfand. Stattdessen flog er nach Puerto Rico, nach Hause zu seiner Familie, und verkündete, dass er zur Armee gehen werde. Er sprach von Vaterland, von Pflicht und von Rache. Dabei war er gar kein Amerikaner, zumindest kein richtiger. Und dann wurde er nach Kolumbien geschickt statt Afghanistan. Nach dem Einsatz in Kolumbien musste er in den Irak. Dann hatte er genug. Seine Frau sagte: «Such dir einen Job.» Sie und die Kinder hatten monatelang ohne Mann und Vater leben müssen. Doch da hatte bereits die Wirtschaftskrise begonnen, Jobs wurden rar, vor allem für einen wie ihn, der so lange in der Armee gewesen war. Nicht mehr erwünscht auf dem freien Markt. Was blieb ihm übrig, als wieder zur Armee zu gehen, die ihn nach Afghanistan schickte, jetzt, da die Rachsucht längst erloschen war. Suck it up and move on, ein Kerl sein, weitermachen, das gelte auch für ihn, nicht nur für seine kriegsmüden Soldaten, die er, der Kleinste und Lauteste von allen, mit scharfen Befehlen über die Staubpiste jagt. Deshalb sei er noch immer hier, auf dem Aussenposten, weil er weitermachen müsse.
Plastik-Maria
Ungefähr 100 Soldaten leben auf diesem Aussenposten. Jeweils ein Jahr lang, mit zwei Wochen Heimaturlaub. Es sind alles Männer, bis auf zwei Köchinnen, die nur morgens und abends kochen. Die restliche Zeit sitzen die beiden Frauen mit dem schweren Südstaaten-Akzent auf ihren Betten in einer Ecke des Versorgungszeltes und schauen sich Filme an. Auf der einzigen Kommode in ihrem abgetrennten Abteil liegt eine Bibel, auf ihr steht eine Maria aus Plastik. Wenn der Militärgeistliche Konugres den Aussenposten besucht, gehören sie zu den wenigen, die mit ihm Lieder singen. Nur der einstündige Vortrag des Seelsorgers mit Tipps für die Wiedereingliederung zu Hause ist Pflicht für jene Soldaten, deren Heimreise kurz bevorsteht. Konugres ermahnt sie: «Ihr müsst eurer Frau sagen, dass sie hübsch ist, sagt es immer wieder, selbst wenn ihr am Anfang wie Fremde seid.» Die Soldaten schweigen. Die meisten hier sind verheiratet, auch die blutjungen.
Mittags angelt man sich einen Beutel Fertigmahlzeit aus einer Pappschachtel im Versorgungszelt. Man muss ihn nur schütteln, dann beginnt die Mahlzeit zu kochen. Ich will nichts essen, aber Konugres insistiert: «Das musst du dir ansehen. Kocht sich wie von Zauberhand. Wir können’s ja wegwerfen.» Die Köchinnen scheint das nicht zu stören. Aber sicher bin ich mir nicht. Ich habe sie nicht gefragt, sowieso sprechen wir wenig, obwohl ich mit ihnen die Zeltecke teile. In ihren Gesprächen gibt es keinen Satz, der nicht ein Fuck enthält oder eine Beleidigung. Wir finden keine gemeinsame Sprache, aber ihre Gespräche enden immer gleich: Bitch, move your fat ass over here. Und dann liegen sie umschlungen auf der Matratze und schauen sich einen Film an, und alles, was sie ausstrahlen, ist eine Intimität, die Sehnsucht weckt, die ehrlicher ist als jedes Kosewort.
Teilzeit-Taliban
Der Aussenposten von Camp Nathan Smith liegt ausserhalb von Kandahar. Braun und ockerfarben umgibt die Wüste die Festungsmauern. Vom Wachturm aus sieht man die ersten Lehmhütten Kandahars, dunkle Rechtecke, grosszügig ummauert, und man sieht den niedrigen Pass, der ins Argendabh-Tal führt. Das Tal ist berüchtigt für seine Taliban- Kämpfer und bekannt für seine Opiumfelder. Jetzt, im Mai, ist Erntezeit. Das spürt man. Es wird weniger gekämpft, die Bauern haben alle Hände voll zu tun und keine Zeit mehr für «Teilzeit-Taliban-Aktivitäten». So nennen es die amerikanischen Soldaten, wenn Einheimische im Dienste der Taliban für 10 oder 12 Dollar Sprengfallen legen. Vielleicht weil sie Geld brauchen, vielleicht aber auch, weil sie den Taliban immer noch mehr trauen als den Amerikanern – obwohl die Taliban für die moisten zivilen Opfer verantwortlich sind, nicht die Nato-Truppen. Aber die Taliban sagen: Wir kämpfen gegen die Besatzer, und diese Sprache versteht jeder. Und die Amerikaner sagen: Es ist alles besser geworden, die Sicherheit ist gut, wir haben Hunderte von Terroristen verhaftet, seit wir im vergangenen Jahr 30 000 Soldaten mehr bekommen haben. Ob sie jene Taliban mitzählen, die unlängst aus dem Gefängnis von Kandahar ausgebrochen sind? Was niemand gesehen haben will und was nicht einmal die Ballon-Kamera gezeigt hat, ist jener Tunnel, durch den Mitte April fast fünfhundert Gefangene aus dem Gefängnis von Kandahar ins Freie gekrochen sind.
«Der Ausbruch aus dem Gefängnis war ein Schlag ins Gesicht», sagt Mike. Er kniet neben Panzerfäusten und rostigen Granathülsen, die am Rande des Camps Nathan Smith liegen, geschützt hinter mannshohen Behältern mit Steinen und Sand. Die Waffen erinnern an die Russen, genau wie die Panzer und Helikopter, die im Kriegsmuseum in Kabul stehen. Aufgereiht wie archäologische Fundstücke. Aber Mike betont, diese Waffen hier hätten sie, die Minen- und Entschärfungsexperten, auf ihren Touren erobert, wenn sie wieder gerufen wurden, weil einer irgendwo einen Sprengsatz montiert hatte. Alte Waffen, neu gebraucht. Anderes sei viel schlimmer: «Die verdammte Korruption nämlich, die zerstört alles, wuchert wie Krebs im System. Denkst du etwa, fünfhundert Gefangene könnten einfach so durch einen Tunnel spazieren, ohne dass es jemand bemerkt? Der Gefängniswärter hat denen doch die Tür aufgehalten. Die haben mit Bussen auf der anderen Tunnelseite gewartet. Vielleicht sogar mit Lunchpaketen. Und wir standen da wie Vollidioten. All die harte Arbeit, und dann, zack, raus aus dem Tunnel. Einfach lächerlich.»
Kriegsspiele
Suck it up and move on. Und ich frage mich, was da gespielt wird. Wie die Soldaten einfach weitermachen, geblendet von der Sonne, die auf unsere Helme knallt und auf die Schutzwesten. Wir in unserer kugelsicheren Welt, und um uns die Menschen mit ihren Badelatschen und Eseln und Burkas. Und das Wir, dieses einlullende Kollektiv, das uns umschlungen hält und mir anklebt wie eine falsche Haut – unmöglich, sie hier abzustreifen, inmitten der Soldaten und in Anbetracht einer Welt, die lauernd vor der Panzerglasscheibe liegt. Die Soldaten aber fragen bloss: Wie ist die Sicherheit? Und die Afghanen antworten: Gut. Und dann steigen wir wieder in dieses kugelsichere Fahrzeug, das mehr kostet als der ganze Bezirk, den wir abgesucht haben nach Terroristen oder Taliban oder allem, was verdächtig sein könnte. Gefunden haben wir nichts. Deshalb fahren wir zurück zum Aussenposten, wo die Aufklärungsfahrzeuge im ersten Festungsring käfergleich in der Hitze liegen, wo junge Männer im Internet nach billigen Häusern in Iowa oder Ohio suchen, wo die Nacht schön sein könnte, wenn da nicht das ewige Geratter der Generatoren wäre. Und in den Zelten spielen Soldaten Kriegsspiele auf ihren Computern, und in einer Ecke stemmen sie Gewichte, um die Monotonie zu bekämpfen, die Zeit totzuschlagen, wenn es nichts anderes zum Totschlagen gibt.
Es fallen keine Schüsse. Es explodiert nichts. Nur in der Erinnerung hallen die Detonationen nach. Meist bis tief in die Nacht, die sternklar ist und scheinbar ruhig.
Attentat
An einem Samstag, wenige Wochen nach dem Ausbruch aus dem Gefängnis, schicken die Taliban eine Vorhut von Selbstmordattentätern in die Stadt. Sie greifen Regierungsgebäude und afghanische Sicherheitskräfte an. Auch den Bürgermeister wollen sie töten. Frühjahrsoffensive nach der Winterpause. Sechs oder noch mehr Selbstmordattentäter sprengen sich in der Stadt in die Luft. Zwei Taliban-Kämpfer nehmen am Mittag die Sahib-Boy-Schule ein und beschiessen von dort die Polizeistation. Elf Stunden lang. Die Einschusslöcher sind spatter auf Wandtafeln und Stühlen sichtbar. Auch die Blutspuren der Taliban- Kämpfer. Sie wurden im Gebäude erschossen. Der Bürgermeister aber bleibt unversehrt. Er ist in Amerika. Erst zwei Monate später, im Juli, wird auch er ermordet werden. Ein Taliban-Kämpfer mischt sich unter eine Gruppe von Stammesältesten, die mit Hilfe des Bürgermeisters einen Landstreit schlichten wollen. Der Sprengsatz ist im Turban versteckt.
Die Explosion tötet den Bürgermeister auf der Stelle. Auch einen Zivilisten. An jenem Samstag im Mai, als die Taliban die Stadt einnehmen wollen, ahnt das noch niemand. Die Soldaten sprechen von einer PR -Aktion der Taliban. Die Kämpfe dauern das ganze Wochenende an. Das ist der Beginn meines Embeddings. Am Sonntag lande ich auf dem Kandahar Airfield, dem Hauptarmeestützpunkt in Kandahar. Wir steigen durch die Ladeklappe aus der Transportmaschine. Die Busfahrt vom Flugzeug zu den Baracken dauert eine Stunde. Ich bin hundemüde. Nicht von irgendeiner Anstrengung, die es bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht gegeben hat, sondern vom Warten. Das beginnt, sobald man in die Armee eintritt.
Amerika
06:00 a.m. Ich sehe den Hauptstützpunkt zum ersten Mal bei Tageslicht. Ich fühle mich deplaciert. Zwei Wochen lang hatte ich mich frei in Kabul bewegt, war im Panjir-Tal und in Herat, war in Afghanistan. Doch das hier ist nicht Afghanistan. Das ist Amerika, mitten in einer der am härtesten umkämpften Gegenden Afghanistans. Hier landen Tausende von Nato-Soldaten. Sie tun so, als sei das Heimat. Jetzt in der Frühe joggen Soldaten auf der Laufstrecke, die sich um den Volleyballplatz zieht.
Einige schlendern mit umgehängtem Gewehr zur Kantine. Wenige Stunden später öffnet das «Kentucky Fried Chicken». Burger mit oder ohne Käse, mit oder ohne Pommes, dazu eine Cola. Die Kantine hingegen, eine eisgekühlte Halle, ist immer offen. Wenn man durch die falsche Türe tritt und vergisst sie wieder zu schliessen, wird man freundlich daran erinnert: «Ma’m, did you see, the door is still open?» Kein Befehl, eine stille, freundliche Aufforderung. Natürlich schliesse ich die Tür sofort. Man kann auch shoppen. Die Shopping-Meile zieht sich auf einem Holzsteg um die Joggingloipe. Es gibt einen iPod-Shop, einen Teppichhändler, die «French Bakery» mit hervorragenden Lachs-Baguettes, einen Buchladen. Einmal pro Woche organisieren Soldaten einen Salsa-Abend, einmal Karaoke. Die Soldaten, die nicht hier leben, sondern auf einem Aussenposten, sprechen mit Verachtung von diesen Abenden. Respektlos sei das, als ob man nicht im Krieg sei, als ob nicht Soldaten sterben würden, eigene Männer und Frauen. Apropos Frauen: Auch sie schlendern auf der Shopping-Meile auf und ab. Die Asiatinnen arbeiten in den Restaurants, die Amerikanerinnen für die verschiedenen Dienste, Geheimdienste, Aussendienste, oder sie sind Soldatinnen. Sie sagen: Die Männer respektieren uns hier. Und die Männer sagen: Nirgendwo ist es so einfach für eine Frau, Sex zu haben. Jeder will. Wer nicht kann, hat eine Festplatte voller Pornos, sagen die Soldaten. Afghanen sieht man keine. Obwohl, der Typ im Teppichladen, der ist wohl Afghane. Ein Handverlesener. Vom Hauptstützpunkt fliegen die Soldaten auf ihre Aussenposten und Basen, die Namen tragen wie Nathan Smith – Namen von Soldaten, die heute nicht mehr leben, aber die einst in kugelsicheren Fahrzeugen oder zu Fuss patrouillierten, um zu zeigen, dass man da ist, dass man alles im Griff hat.
Mandelhain
Auf Patrouille. Rast in einem Mandelhain bei afghanischen Bauern. Sie hocken am Boden, die Köpfe gereckt, in der einen Hand eine Zwiebel, in der anderen ein Stück Fladenbrot. Dann setzt sich auch der amerikanische Militärpolizist. Er hat den Helm abgelegt. Hat einen Schluck Wasser aus der Flasche getrunken und sie den Bauern weiterreichen wollen. Sie haben abgelehnt. Es weht eine Brise durch den Mandelhain. Auch die anderen Soldaten haben sich hingesetzt, die Beine gestreckt, das Gewehr neben sich gelegt. Wir sind drei Stunden durch die Stadt patrouilliert, vorbei an Lehmhütten, Abwasserrinnen, an Bauarbeitern, Männern, die leere Eimer mit Wasser füllten und diese dann auf ihre Esel banden, Frauen in Burkas, die sich abwandten, obwohl sie doch niemand sehen konnte durch den blickdichten blauen Stoff, die vergitterten Augenfenster. Vor einer Bäckerei sind wir stehen geblieben, und der Übersetzer hat sich zwischen den Soldaten und den Bäcker gestellt.
«Hast du gehört, dass die Taliban die Sahib-Schule besetzt haben? Sie haben stundenlang die Polizeistation beschossen, und die Schule haben sie auch zerstört.»
«Hmm.»
«Schickst du deine Kinder dorthin?»
«Ja.»
«Mal schauen, wann die wieder öffnen können. Und sonst? Wie ist die Sicherheit hier?»
«Gut.»
«Und böse Jungs? Keine hier?»
«Nein. Keine.»
Ausserirdische
Mit ihren Antennen auf den Helmen, ihren Tarnanzügen, den schwarzen Sonnenbrillen, ihren Handschuhen und natürlich ihren Waffen wirken sie wie Ausserirdische, Aliens. Was würden wir einem Ausserirdischen anvertrauen? Vielleicht würden wir den verhassten Nachbarn verraten, ihn als Taliban anzeigen, auch wenn er keiner ist. Manche, weitab von allen Infozentralen im Land, halten vielleicht Amerikaner für Russen. Doch die Russen sind längst abgezogen, 1989, nach zehn Jahren Besatzung. Auf die Russen folgte der Bürgerkrieg. Wer gehen konnte, ging, und wer blieb, wurde ärmer oder steinreich. Je nachdem. Heute säumen die Villen der Kriegsfürsten die Strassen Kabuls. Sie vermieten sie zu unanständigen Preisen an ausländische Organisationen. Nach dem Bürgerkrieg kamen die Taliban und dann die Amerikaner mit ihren Alliierten. Das war vor zehn Jahren. Die Amerikaner und auch die anderen Nato-Truppen sagen, sie seien keine Besatzer, sondern Helfer, sie brächten Demokratie und Stabilität. Ihre Bezeichnung ist Programm: ISAF-Truppen, International Security Assistance Force, Internationale Schutztruppen. Nur sehen das viele Afghanen inzwischen anders. Zumindest die, die von den Milliarden, die ins Land geflossen waren, nichts gespürt oder gesehen haben. Und auch all jene, die vor den Nato-Bomben fliehen mussten und jetzt die Verschläge ausserhalb von Kabul bewohnen. Nur eines wissen alle: Die Ausserirdischen ziehen wieder ab, spätestens
2014. Die Taliban aber bleiben.
Die Brise zwischen den Mandelbäumen ist nicht kühl, aber sie trocknet den Schweiss auf der Stirn. Die Bauern haben fertig gegessen. Die Ameisen machen sich über die Brotkrumen her. Die Bauern sagen: In zehn Jahren hat sich für uns gar nichts geändert. Noch immer keine Jobs, noch immer kein Geld. Aber nein, die Amerikaner sind nicht die Russen. Zumindest nicht so brutal.
So reden die Bauern, aber was will einer schon sagen, wenn er vor einem Amerikaner sitzt? Der hat vielleicht den Helm abgelegt, aber das Gewehr behält er in der Hand. Und er sagt: «Wir haben euch Strassen gebaut und Schulen.» Da winkt der Bauer ab. Sagt mutig:
«Für wie viele von uns habt ihr Schulen gebaut? Euer Geld verschwindet in den Taschen der Regierung, des Bürgermeisters und der Beamten. Für uns bleibt nichts. Wir sind arme Leute und können die Taliban nicht bekämpfen. Die kommen hierher und verstecken ihre Waffen in unserem Hain. Dann kommt ihr und sagt, wir machten gemeinsame Sache mit den Taliban, und dann kommen die Taliban und schimpfen uns Verräter, weil wir mit euch gesprochen haben. So sind wir gefangen zwischen euch und denen.»
«Aber wir schiessen doch nicht auf euch!»
Da lacht der Bauer, fast höhnisch: «Das sagt ihr, und dann tut ihr es doch, weil ihr nicht unterscheiden könnt zwischen den Taliban und uns. Für euch sehen wir alle gleich aus.»
Missverständnis
Das sei das Problem. Genau das, wie sich der Feind einschleiche, aus Pakistan über die Grenze einmarschiere, ausgebildet in Schulen und mit Ideologie geimpft, und niemand sehe, dass das der Feind sei. «Schwarzer Turban, weisse Kurta, das kann doch jeder tragen», sagt Mike, der Minenentschärfer.Man müsse vorsichtig sein, dürfe den Einheimischen nicht trauen. «Ist ja ein Kinderspiel, zu lernen, wie man einen Sprengsatz baut, auf Youtube oder in den Trainingslagern in Pakistan. Von dort kommen sie, das weiss doch jeder. Hier bauen sie die alten russischen Bomben in ihre neuen ein. Schau dir das Argendabh-Tal an, alles vollgekleistert mit improvisiertem Dreckszeug. Und dann rufen uns die Bauern, damit wir einen Sprengsatz in ihrem Feld entschärfen, und während wir das tun, sprengen sie einen anderen, gleich nebenan. Wollen uns umbringen und aussaugen. Sagen, sie seien bloss einfache Bauern, und dann schlagen sie bei Explosionen ihre Fensterscheiben ein, damit wir sie entschädigen.
Alles ein grosses Missverständnis. Kapieren nicht, dass wir hier sind, um ihnen zu helfen. Sind sie denn blind? Sehen sie die Schulen nicht, die Strassen? Was fragst du? Kollateralschäden? Gibt es kaum. Die toten Kinder? Ein Unfall. Was können wir schon dafür, wenn sie nicht auf ihre
Kinder aufpassen und die vor unsere Fahrzeuge laufen. Wir sind keine Kindermörder, auch wenn das die Taliban sagen. Und die wissen, wie man das dem Volk einflüstert: Amerikaner sind Kindermörder. Tssss! Wir haben getan, was wir konnten, aber irgendwann ist Schluss. Ist schliesslich ihr Land. Zehn Jahre Krieg in Afghanistan, wofür? So viele verlorene Leben. Damit sie aus den Gefängnissen spazieren, Bomben legen? Sollen sie sich selber helfen, die Afghanen.»
Müdigkeit in den Gliedern. Und wie Sandpapier die Gedanken. Zeit, die langsam schleift, Gedanken abschleift, bis sie als Staub vor dir liegen und du benommen bist vom Warten, der Hitze, der Langeweile und auch der Angst. Aber die verdrängst du. Wie ein Tier kommst du dir vor, schon nach wenigen Tagen. Denkst ans Fressen, ans Schlafen, ans Ficken. Und dabei wird alles einerlei. Das Brummen der Generatoren. Salsa im Kopf. Suck it up.
Heimat
Man versucht alles, um es ihnen angenehm zu machen. Die Soldaten sollen sich zu Hause fühlen in ihren selbstgebauten Gefängnissen. Nach zwei Tagen auf dem Aussenposten bin ich auf Camp Nathan Smith verlegt worden, den Stützpunkt mitten in der Stadt. Jeden Freitag gibt es Hummer, eingeflogen aus Dubai. Aber nicht deshalb trägt der Ort den Übernamen Feriencamp. Hummer gab es schon im Irak. Ebenfalls freitags. Hier aber liegen eingeölte Soldaten in Badehosen auf Liegestühlen um den Pool. Der Pool ist versteckt hinter Betonelementen, bemalt mit biblischen Szenen. Man hört die Generatoren nicht, nur manchmal die Rotoren, wenn ein Helikopter landet. Auf einem Platz im Zentrum sprudelt ein Springbrunnen. Drum herum stehen Holzstühle an massiven Tischen. Meist ist es zu heiss, um draussen zu essen, nur nachts stehen die Soldaten hier und rauchen und fluchen und erzählen Heldengeschichten. Die Kanadier, die das Camp aufgebaut haben, haben ihr Hockey-Feld und ihre Ausrüstungen dagelassen. Sie wollten Geld von den Amis dafür, aber diese sagten: We don’t pay for that old shit. Die Amis spielen kein Hockey, aber das Gym ist voller Geräte und schwitzender Körper. Alles hier, fühlt sich wie Luxus an. Saubere Duschen. Drei Mahlzeiten am Tag, Müesli und Früchte, Hamburger und Steaks und dazu amerikanische Soap-Operas aus dem Fernseher in der Ecke. Wie daheim – wären da nicht die hohen Mauern mit dem Stacheldraht, das Ballonauge über der Basis, das Betongebäude mit den Kritzeleien an den Wänden, das früher ein Gefängnis war und in dem heute die gekühlten Container der Kommandozentrale stehen, dazu der zweifach gesicherte Ausgang, den niemand zu Fuss verlässt.
Luxusgefängnis.
Ich habe gefragt: «Kann ich einen Tag aus der Basis austreten? Ich ziehe mir eine Burka über, ich kenne Leute.» Da haben sie gelacht und gespottet: «Ma’m, you are out of your mind. But your choice, if you want to get kidnapped and killed.» Da habe ich es sein lassen. Milliardengeschäfte
Die Arbeit auf Camp Nathan Smith machen andere, aber keine Einheimischen. In den Camps wird alles ausgelagert. Beispielsweise an die amerikanische Firma DynCorps – we serve today for a better tomorrow –, und die lagert ihrerseits Teilbereiche wie die Gastronomie an den Untervertragsnehmer Supreme Foodservice AG mit Sitz in Dubai, Amsterdam und Ziegelbrücke aus. In der Küche stehen Nepalesen. Sie haben einem Agenten in Katmandu 5000 Dollar bezahlt, um den Job bei Supreme Foodservice AG zu bekommen. Von der Firma will sich niemand zu diesen Anstellungspraktiken äussern. Die Nepalesen verdienen jetzt 550 Dollar im Monat. Sie sagen, das sei besser als in Nepal. Dort gebe es keine Arbeit.
Milliardengeschäfte im rechtsfreien, unübersichtlichen Raum. Die Unternehmen halten Wagenparks instand, lassen Klos putzen, schaffen Matratzen und Nahrung herbei, bauen Fitnesscenter auf. An den Schreibtischen sitzen ehemalige Soldaten, die sich nicht mehr zurechtgefunden haben in der wirklichen Heimat. Also kehrten sie zurück in die Familie, ihre Familie, die Armee, wo man Freunde hat und Erfahrungen vorweisen kann. Wie die vielen Vertragsnehmer, die bereits im Irak waren. Einige heissen heute anders. Zum Beispiel Blackwater, die amerikanische Sicherheitsfirma, die berühmt wurde, nachdem ihre Mitarbeiter mehrfach Zivilisten im Irak erschossen hatten. Die Firma heisst heute XeServices und hat laut «Washington Post» wieder einen 100-Millionen-Dollar- Vertrag von der CIA in Afghanistan an Land gezogen. Training today to meet the challenges of tomorrow. Sogar die Werbesprüche ähneln sich. In der Wäscherei arbeitet eine Kenianerin, die manchmal mit ihrer Tochter über Skype plaudert. Sie haben Dich seit einem Jahr nicht mehr gesehen. «Aber was will man», sagt sie, «das hier ist gute Währung. Dollars. » Dann wendet sie sich ab, faltet eine grüne Militärhose und legt sie zu den Kleidern im Wäschesack. Man habe keine Wahl, schon gar nicht, wenn der Alte zu wenig verdiene und niemand in Texas Arbeit für eine Filipina habe, wirft Luce, die Leiterin des Waschsalons, über den Tisch gebeugt ein, und: «Hier aber ist eine wie ich, geschult und erfahren, gefragt. » Kinder? «Ja, ein 13-jähriger Sohn in Texas, der sich daran gewöhnt hat, dass ich kaum zu Hause bin.» Luce hat bereits drei Jahre für die texanische Firma KBR im Irak gearbeitet. Die Firma wurde bekannt, nachdem einer ihrer Untervertragsnehmer 1000 asiatische Angestellte drei Monate lang in einem fensterlosen Lager ausserhalb von Bagdad eingeschlossen hatte, weil es für die Männer doch keine Jobs gab. Luce sagt über ihre Zeit im Irak: «It was okay. I needed the money.» Und hier in Afghanistan ist alles hochprofessionell. 12-Stunden-Schichten. 300 bis 340 Säcke Kleider pro Tag werden abgegeben, und in 24 Stunden ist alles gereinigt und gebügelt. Gratis und franko.
Helden
«Jeder zahlt einen Preis», sagt Leon. Der Afro-Amerikaner, der mich um einen guten Kopf überragt, sass neben mir im Helikopter, als wir vom Hauptstützpunkt ins Camp Nathan Smith flogen. Während des Fluges holte er sein iPhone aus der Tasche und fotografierte sich selbst. Dann fragte er: «What’s up? New in the country?» Wir waren beide neu hier, beide unsicher. Ich voller Vorurteile, er voller Zuversicht. Wir haben gemeinsam gegessen und dann in meiner Kamera die Fotos von meinen ersten beiden Wochen in Afghanistan angeschaut. Eine soldatenfreie Welt. Picknick im Panjir-Tal. Reiten auf grünen Wiesen. Ein Konzert in Kabul. Leon hat den Kopf geschüttelt und gesagt: «This is so cool, send me the pictures!» Dass es so was gebe, hier in Afghanistan, solche Schönheit. Das habe er nicht gewusst, das müsse er seinen Kollegen erzählen, seinen Freunden. Dabei gehört Leon ganz sicher nicht in die Kategorie «dumb and blind». Leon ist weltgewandt, hat Politologie studiert, ist gereist, vielseitig interessiert, hat es bis zum Offizier gebracht. Doch was soll’s. Das Soldaten-Afghanistan ist nie zivilisiert, weil ein Soldat nie zivil ist. Das ist kein Stereotyp. Keiner hat je ein Abendessen bei einer afghanischen Familie eingenommen, und wenn, dann bestimmt nicht ohne Waffe. Viele haben ihren Stützpunkt kein einziges Mal verlassen, und dann gehen sie nach Hause und sagen, sie seien in Afghanistan gewesen, dabei waren sie in Amerika, nur ausgelagert und ummauert. Wie in einem amerikanischen Gefängnis, nur sagen sie: Welcome to the base. Here you’re safe.
Jeder zahlt einen Preis. Auch Leon: «Als ich aus dem Irak zurückkam, hatte meine Freundin einen anderen. Sie wollte keinen Helden, sie wollte einen, der mit ihr am Wochenende ins Kino geht.» Dabei dachte er, Frauen mögen das: Helden, ihn, den starken, grossen Leon, der sein Land verteidigt, an einem Ort, von dem er nur gewusst hat, dass es dort heiss ist und dass man den Frauen nicht die Hand geben darf. Er dachte: Krieg ist wie im Film. «Filme kann man zurückspulen, neu aufnehmen, schneiden. Tote wischen sich nach der Aufnahme das Kunstblut vom Hemd. Die Männer, die ich getötet hatte, standen nicht mehr auf. Dabei war Töten doch einfach ein Reflex. Man schiesst, bis dort drüben nichts mehr zuckt. Man fühlt sich wie ein
Roboter, Waffe hochheben, zielen, schiessen oder einfach feuern. Und gegenüber der andere, dazwischen der Tod. Wir haben nie ernsthaft über das Töten und die Toten gesprochen. Ja, logisch, irgendwie musste es raus aus dem System, so haben wir später über den lächerlichen Ausdruck, den der Kumpel im Gesicht hatte, als er abdrückte, Witze gerissen. Aber die Toten? Nein, kein Thema. Wir hatten überlebt, wir hatten Glück, that’s it. Aber stumpf werden alle.»
Rumhocken
06.00 a.m. Tag fünf. Alles einerlei. Hummer schmeckt wie Brot. Blut auf der Treppe in der Sahib-Boy-School erinnert an Geschichten, die ich nicht mehr hören will. Sie hatten mir einen genauen Plan gemacht, wann ich mit welcher Einheit ausrücken kann. Aber dann ist immer alles anders. Die Einheit rückt nicht aus. Die Einheit muss eine Mine entschärfen und ist verzögert. Der Plan wurde geändert, und niemand hat es mir gesagt. Und dann das ständige Rumhocken, Warten, planlos. Das ist das Schlimmste. Ich raste zweimal beim Medienverantwortlichen aus. Aber der lächelt nur. Sorry, Ma’m. Fuck you, Sir. Dann morgens um sechs Alarm. Die Sirene ist in meinem Container. Der Diesel in den Generatoren sei alle, eine neue Füllung, dann höre das auf, und der Strom komme zurück, sagt ein Soldat. Ich ziehe den Schlafsack über den Kopf, lege die Hände auf die Ohren. Dann stehe ich auf und lege mich an den Pool. Scheissarmee.
Fleisch
Wie rohes Fleisch lagen die Körper der Toten im Sanitätszelt. Sein erstes Massaker, seine ersten Toten. «Zum Glück waren es keine Amerikaner», sagt der Sanitäter Giovanni. «Es waren afghanische Soldaten. » Giovanni ist Honduraner und auch Bürger der Vereinten Staaten von Amerika. Das Zweite vor allem dank der Armee. Bevor er Bürger wurde, lebte er zwölf Jahre illegal in den USA. Nicht einfach, sagt er, aber: «Wenn man nicht auffällt, dann geht das ganz gut. Ich konnte mich durchhangeln mit harten Jobs zu schlechten Löhnen. Bauarbeiten, Reparaturen, Putzarbeiten. Dann, 2007, konnte ich endlich bei der Home Land Security vorsprechen. Ma’m, I have no job, I have a baby, I want to serve the country.» So sei er Bürger geworden – und Soldat. «Am Anfang», sagt er, «bist du noch schockiert, fragst dich, wieso kann ich sie nicht retten, wieso muss ich hier sein, wieso hören sie nicht auf zu bluten? Sie schleichen sich in deine Träume, strecken dir ihre offenen Wunden entgegen, und dann nach einer Weile werden sie zu Fleisch, das du retten kannst oder auch nicht, und du machst einen Job und versuchst ihn gut zu machen.» In einem Monat gehe er nach Hause. Er freue und fürchte sich. Was, wenn er sich nicht mehr erinnern könne, wie es war, als Menschen mehr waren als Fleisch?
Nach einer Woche fliege ich aus. Das Licht im Bauch der Militärmaschine ist grün, und grün sind die Gesichter der Soldaten. Aliens. Sicher hängt der weisse Ballon über dem nächtlichen Kandahar. Wahrscheinlich schickt der Ballon Bilder an Camp Nathan Smith und seinen Aussenposten am Rande der Stadt. Vielleicht betrachtet Orlando die Schatten auf seinem Bildschirm. Mir egal.
Salsa in Kandahar, veröffentlicht in Reportagen, 2011