Die palästinensischen Parteien Fatah und Hamas bekämpfen sich mit Anklagen und der Einkerkerung von Anhängern des jeweils gegnerischen Lagers. Obwohl sie immer wieder auch ihre Bereitschaft zur Versöhnung beteuern, scheinen sie sich im Zwist eingerichtet zu haben.
Als Mohammed Kudwa vor sieben Jahren den Neubau des Mashdal-Gefängnisses in Gaza eröffnete, erwartet er nicht, dass er wenige Jahre später selbst darin sitzen würde. Doch seit einem Monat belegt der hochgeschossene 62-jährige frühere Gouverneur von Gaza eine Zelle, durch deren vergittertes Fenster er auf den grünen Gefängnisgarten sieht. Die Zelle ist hell, der Boden mit Teppich ausgelegt, aber nicht mehr als 15 Quadratmeter gross, bestückt mit einem Bett und ein paar Matratzen, die sich Kudwa mit zwei weiteren Insassen teilt. Seine Zellengenossen Usama al-Farrah, der frühere Gouverneur von Khan Yunis, sowie Hazem Abu Shanab, ein Fatah-Sprecher und Lehrbeauftragter für Politik- und Medienwissenschaften an der Azhar-Universität von Gaza, wurden ebenfalls Anfang August verhaftet.
Verhaftungswellen
Anfänglich sassen sogar drei Gouverneure in der Zelle, einer von ihnen wurde seither entlassen. Im Gefängnis sitzen weitere ehemalige hohe Funktionäre, die der Fatah von Präsident Mahmud Abbas angehören und deshalb von der im Gazastreifen herrschenden Hamas als Risiko angesehen werden. «Mit der Verhaftung von 21 Fatah-Führern hat die Hamas auf einen Schlag die im Gazastreifen verbleibende Elite der Fatah gefangen genommen», sagt Kudwa, der sich selbst nicht als Fatah-Führer, sondern lediglich als Vertreter der palästinensischen Autonomiebehörde sieht. Anfang September sind 12 dieser Gefangenen freigelassen worden.
Die Verhaftungswelle ist eine Episode in einer Reihe wechselseitiger Vergeltungsmassnahmen zwischen den beiden palästinensischen Regierungen, jener der Fatah in Ramallah und jener der Hamas in Gaza. Seit dem Wahlsieg der Hamas im Januar 2006 und in zugespitzter Form seit der gewaltsamen Übernahme des Gazastreifens durch die Hamas im Juni 2007 sind sich die beiden Streithähne nichts schuldig geblieben. Ihab Ghusain, der Sprecher des Innenministeriums in Gaza, rechtfertigt die Gefangennahme der Fatah-Funktionäre als Antwort auf die Verhaftungen von Hamas-Militanten im Westjordanland. «Mit der Festnahme der Fatah-Führer wollen wir Ramallah unter Druck setzen, damit diese unsere Leute freilässt.»
Am 26. Juli hat die Regierung in Ramallah eine Verhaftungskampagne in Gang gesetzt, die bisher rund 100 Akademiker, Geistliche, Lehrer, Studenten und andere in der Öffentlichkeit bekannte Hamas-Anhänger ins Gefängnis brachte. Bereits zuvor waren Islamisten im Westjordanland ohne Anklage wochen- oder monatelang gefangen gehalten worden, und vor einem Jahr liess Premierminister Salam Fayad 103 Nichtregierungsorganisationen schliessen, die angeblich zum Umfeld der Hamas gehörten. Vor einem Monat hat auch die Hamas im Gazastreifen damit begonnen, Vereine und Institutionen zu schliessen, die mit der Fatah verbunden sind. Laut dem palästinensischen Menschenrechtszentrum im Gazastreifen (PCHR) wurden seither 152 solcher Organisationen geschlossen. Zudem hat das PCHR zahlreiche Verhaftungen von Journalisten im Westjordanland und im Gazastreifen dokumentiert. Im Westjordanland sind die Hamas-Zeitungen «Al-Risala» und «Falastin» bereits seit einem Jahr verboten, während die Exekutivkräfte der Hamas seit Mitte August die Zeitungen «Al-Ayam» und «Al-Hayat al-Jadida» aus Ramallah bei deren Einfuhr am Grenzposten Erez beschlagnahmen.
«Eine Schande»
Den Preis für diesen Sandkastenkrieg zahlt die palästinensische Bevölkerung. Im Gazastreifen hat der anhaltende israelische und internationale Boykott zu einer noch nie gesehenen Armut geführt, so dass die Bevölkerung auf jede Hilfe von Institutionen und Vereinen angewiesen ist. Aufgrund der geschlossenen Grenze sind die Preise für Lebensmittel und andere Güter für viele unbezahlbar geworden. Eine Öffnung der Grenze nach Ägypten könnte die Lage der Einwohner sowohl psychologisch wie wirtschaftlich entspannen, doch die Regierung in Ramallah blockiert die Verhandlungen zur Öffnung des Grenzpostens von Rafah.
«Was sich zwischen Ramallah und Gaza abspielt, ist eine grosse Schande», sagt Ghazi Hamad, der ehemalige Regierungssprecher der Hamas-Regierung. Nach der Machtübernahme hat Hamad seinen Posten aufgegeben, weil er mit dem gewaltsamen Vorgehen seiner Partei nicht einverstanden war. Heute betreibt er freiberuflich eine Art Shuttle-Diplomatie zwischen den Parteien – ein frustrierendes Unternehmen, wie er selbst sagt. Hamad bezeichnet eine Regierung der nationalen Einheit als einzige Lösung für den innerpalästinensischen Zwist, stellt aber fest, dass sich der Graben zwischen der Hamas und der Fatah in den vergangenen Monaten immer tiefer geworden ist.
Dabei hat es in den vergangenen Monaten nicht an Vermittlungsversuchen gemangelt. Jemen, Senegal und Ägypten waren nur einige der Stationen, in denen die Parteien Grundsatzdiskussionen über die Palästinensische Befreiungsorganisation, die Sicherheitsdienste oder die Verteilung der Ministerien führte. Dass alle Versuche fruchtlos blieben, erklärt Ali Jarbawi, Lehrbeauftragter für Politikwissenschaften an der Universität Birzeit, damit, dass sich beide Seiten im Status quo eingerichtet haben und der politische Wille zu einer Lösung fehlt. Im Westjordanland wird die Fatah-Regierung mit europäischen und amerikanischen Millionenbeträgen gestärkt, während sich die Hamas im Gazastreifen ein eigenes Emirat geschaffen hat. Falls nicht die arabischen Regierungen, insbesondere Saudiarabien und Ägypten, ernsthaft Druck ausübten, dann sei bis zum Ende von Abbas‘ Präsidentschaft keine Veränderung zu erwarten, meint Jarbawi.
Funkstille zwischen zwei «Regierungen»
Die internationalen und israelischen Bestrebungen, mit Unterstützung der Regierung in Ramallah und einem Boykott des Gazastreifens die Hamas-Regierung zu Fall zu bringen, sind ebenfalls gescheitert. Sie hatten sogar den gegenteiligen Effekt, indem sie die Hamas dazu bewogen, alle Institutionen und Behörden im Gazastreifen mit ihren Leuten zu besetzen. Die Drohung der Regierung in Ramallah, den Funktionären im Gazastreifen den Lohn zu streichen, falls sie zur Arbeit gingen und Anordnungen der Hamas-Minister entgegennähmen, liess den Islamisten in Gaza auch kaum eine andere Wahl. Heute bestehen faktisch zwei getrennte palästinensische Territorien mit zwei Regierungen, zwei Justiz- und Sicherheitsapparaten, aber ohne Kommunikation zwischen den beiden. «Als Gewinnerin aus diesem Spiel geht Israel hervor. Denn bei unseren internen Streitereien bleibt keine Energie mehr für das Wesentliche, das nationale Projekt Palästina. Stattdessen baut Israel im Westjordanland die Siedlungen und die Mauer weiter, ohne dass Abbas etwas unternehmen kann. Und die Hamas kümmert sich um das tägliche Überleben, die Einfuhr von Kochgas und Babypuder», zieht Hamad Bilanz.
Im Gazastreifen herrschen seit der Hamas-Übernahme Ruhe und Ordnung, und die Exekutivkräfte haben mit der Willkür der Clans und ihrer Milizionäre aufgeräumt. Gleichzeitig sind die konservativen islamischen Moralvorstellungen der neuen Herren deutlich spürbar. Zwar hat die Hamas weder die Schulprogramme verändert noch das Tragen eines Kopftuchs für Frauen zur Pflicht gemacht. Aber mehr als ein Fest, bei dem Alkohol konsumiert und getanzt wurde, endete mit dem Aufmarsch der Kassam-Brigaden, dem militärischen Arm der Hamas, die die Bier- und Schnapsflaschen zerschlagen haben.
Früher war es auch nicht viel besser
«Zu sagen, dass die Hamas den liberalen Geist des Gazastreifens zerstört habe, wäre jedoch falsch. Unter Arafat gab es auch keine Freiheiten, kein Kino, kein Theater, keine Brauerei, obwohl wir 5000 Christen haben. Viel zu zerstören gab es folglich nicht», meint Iyad al-Alami, der Leiter der Rechtseinheit im PCHR zum politischen Klima im Streifen. Alami dementiert auch die oft gehörte Behauptung, dass die Hamas 200 politische Gefangene halte. Mit Ausnahme der 19 Fatah-Leute befänden sich nur Leute im Gefängnis, die eines Vergehens beschuldigt würden.
Unter der Fatah sei das anders gewesen. Damals sassen die Gefangenen bis zu zehn Jahre ohne Anklage in Haft. Heute erhalte jeder nach spätestens einem halben Jahr eine Anklage, sagt Alami, der die Gefangenen besucht. Die Fatah-Gefangenen im Mashdal-Gefängnis sagen, sie würden gut behandelt, niemand wende Gewalt an, aber es sage ihnen auch niemand, was mit ihnen geschehen solle. Die Männer haben eben das Mittagessen, einen Teller Reis mit Huhn, beendet. Im Zimmer stehen Kartons mit Milch, Früchten und Klopapier. Das Gouverneursamt von Khan Yunis hat eine Schachtel Datteln geschickt, die noch ungeöffnet ist. Der Freiheit beraubt zu sein, sei hart, klagt Kudwa und meint bitter: «Über unsere Entlassung entscheiden andere als der Gefängnisdirektor – der hätte uns schon längst gehen lassen. Er war vor 30 Jahren mein Schüler.»