Israel verhindert laut dem IKRK die Bergung von Verletzten
Einwohner des Gazastreifens berichten vom Terror der Bombardierungen, von blockierten Fluchtwegen und vom Mangel an Brot. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz klagt Israel an, die Bergung von Verletzten zu verzögern oder sogar zu verhindern.
ber./kw./jbi. Berichte von Einwohnern des Gazastreifens und der humanitären Organisationen, die Hilfe in das Kriegsgebiet zu bringen versuchen, lassen auf eine kontinuierliche Zuspitzung der Lage schliessen. Ihre Situation schilderte etwa Umm Salam, die mit ihren zwei Kindern und ihrem Mann in Deir al-Balah im zentralen Gazastreifen wohnt, in einem Telefongespräch am Donnerstagmorgen folgendermassen: «Normalerweise beginnen die Israeli ihre Bombardements um Mitternacht, aus der Luft, vom Meer und vom Land aus. Dann kommt die Angst. Wir gehen in den untersten Stock und sitzen nahe zusammen. Ich erkläre unserem 8-jährigen Sohn, dass die Flugzeuge nicht unser Haus bombardieren würden, aber er zittert beim kleinsten Geräusch wie Espenlaub. Das Einzige, was ich machen kann, ist, ihn zu umarmen, nahe zu sein. Der ältere Sohn, der 16 ist, versteht schon besser, was passiert. Und wir, mein Mann und ich, versuchen geistig gesund zu bleiben. Auch dieser Krieg wird vorbeigehen. Dann müssen wir gesund sein, um wieder zu arbeiten und für unsere Familie zu sorgen.»
Schlaflose Nächte
In der Stadt Gaza, etwas nördlich von Deir al-Balah, erlebt der Wirtschaftsberater Sami Abdeshshafi die Lage als «blanken Terror». «Es gab schon manchen Krieg, aber noch keinen solchen. Nachts sitze ich im Dunkeln, alleine mit der Angst. Schlafen ist unmöglich. In den vergangenen zwölf Nächten habe ich vielleicht sechs Stunden geschlafen. Jeden Tag lasse ich kurz den Generator laufen, um in den Fernsehnachrichten zu sehen, was passiert, und meine E-Mails zu checken.» Auch Umm Salams Familie hat noch ein wenig Dieselöl übrig, mit dem sie einmal täglich den Generator betreibt, um über das Fernsehen an Informationen zu kommen. Zudem telefonierte die Mutter nach jeder Explosion mit Verwandten, um zu sehen, ob sie noch am Leben sind. Der Politologe Omar Shaban sagt, er habe am Mittwoch 50 SMS verschickt, um Nachrichten von Freunden und Verwandten zu haben. «Das Problem ist, dass ich die meisten Leute nicht mehr erreiche. Viele mussten ihre Häuser verlassen, und das Mobilfunknetz funktioniert nicht mehr.»
Laut Umm Salam sind die Tage ruhiger als die Nächte. Aber rund um die Uhr blieben alle Fenster in den Häusern offen, weil sonst das Glas bei den Explosionen zerspringen würde. Es sei bitter kalt, das Thermometer falle auf etwa drei Grad in der Nacht, berichtet sie. Immer wieder erhielten Leute Telefonanrufe von der israelischen Armee mit der Drohung, in einer Stunde werde ihr Haus zerstört. Zudem seien Flugblätter abgeworfen worden, auf denen gestanden habe: «Nach der ersten Woche hat die Hamas einen Vorgeschmack der Stärke der israelischen Armee bekommen, aber wir haben noch härtere Methoden. Sie werden sehr schmerzhaft sein. Bitte verlassen Sie zu Ihrer eigenen Sicherheit ihre Wohngegenden.» Umm Salam meint, dies sei reiner Terror: «Ist das nicht zynisch? Wohin sollen wir denn gehen? Wir und alle anderen sind Gefangene in unseren eigenen Häusern geworden.»
Kaum noch Lebensmittel
Khalil Ahmed, ein Computer-Ingenieur in Gaza, leidet auch darunter, dass es keine Möglichkeit zur Flucht gibt: «Es ist doch ein Grundrecht, dass Menschen vor einem Angriff fliehen dürfen! Wir müssen uns hingegen abschlachten lassen. Niemand hilft uns. Ägypten müsste viel mehr Verletzte, Kranke und Flüchtlinge einreisen lassen, aber Solidarität hat es für uns bis anhin von keiner Seite gegeben – weder vom Osten noch vom Westen. Zu der Angst vor den Bomben kommt der Hunger. Wir haben kaum noch zu essen, die Brotfladen müssen wir inzwischen halbieren.» Umm Salams Ehemann hat während der dreistündigen Feuerpause am Mittwochnachmittag noch etwas Gemüse und Mineralwasser gefunden. «Andere Nahrungsmittel gab es nicht mehr in den Läden», sagt Umm Salam. «Aber das ist ja nicht der erste Krieg. Man kann sagen, wir sind Krieg gewohnt und haben noch Konserven zu Hause. Zudem hat die UNRWA damit begonnen, Lebensmittel zu verteilen.»
Überlastete Spitäler
Laut dem Sprecher des Palästinensischen Zentrums für Menschenrechte in Gaza, Hamdi Shakura, ist der Treibstoffmangel ein Hauptproblem. Dieser betreffe die Spitäler und auch die Bäckereien. Höchstens ein Fünftel der Bäckereien seien noch in Betrieb, und entsprechend lang seien auch die Schlangen, die sich davor bildeten. «Die Schliessung des Grenzübergangs in Rafah ist ein Teil des Krieges. Niemand soll helfen dürfen – ausser Israel. Das und das gesamte Vorgehen der israelischen Truppen beweisen, dass Israel nach wie vor den Gazastreifen besetzt hält», kommentiert Shakura.
Spitäler, Hilfswerke und die Uno weisen immer wieder auf die Überlastung der medizinischen Infrastrukturen hin. Das Awda-Spital in Beit Lahia etwa erhält keinen Strom mehr aus dem Netz und hat noch Dieselöl für zwei Tage. Der Arzt Bakr Abu Safiya, der im Awda-Spital arbeitet, hofft, bis dahin von der Uno oder vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) Treibstoffnachschub zu erhalten. Aber auch wenn Treibstoff da sei, bleibe die Angst, dass die Generatoren kaputtgingen, sagt er, denn Ersatzteile seien dafür keine zu finden. «Jedenfalls arbeiten wir unter unsäglich schwierigen Bedingungen», betont Abu Safiya. «Bis jetzt wurden 450 Verwundete und 20 Tote zu uns gebracht – und dabei sind wir eigentlich eine Geburtsklinik.»
Das IKRK hat in mehreren Erklärungen am Mittwoch und Donnerstag auf die grossen Schwierigkeiten bei der Bergung von Verletzten hingewiesen. Eine Equipe des IKRK und des Palästinensischen Roten Halbmonds hat am Mittwoch in einem Haus in Zeitun, einem Quartier Gazas, eine tote Frau und deren vier unverletzte, aber stark geschwächte Kinder gefunden. Im gleichen Haus fand die Equipe weitere elf Leichen und einen überlebenden Mann, im gleichen Viertel drei weitere Tote und mehrere Verwundete. Das IKRK hatte nach Granatenangriffen von der israelischen Armee den Zugang zu dem betroffenen Gebiet verlangt, diesen jedoch erst nach vier Tagen erhalten. Israelische Soldaten, die dort stationiert waren, wollten die Sanitäter nach ihrem Eintreffen wieder wegweisen, doch beharrten diese auf der Bergung der Verwundeten und eines Teils der Toten.
Völkerrechtliche Pflicht missachtet
Der Chef der IKRK-Delegation in Israel, Pierre Wettach, bezeichnete das Verhalten der Israeli als schockierend. «Die israelischen Militärs mussten über die Situation im Bild sein, haben den Verletzten aber nicht geholfen. Sie ermöglichten es dem IKRK oder dem Palästinensischen Roten Halbmond auch nicht, den Verletzten zu helfen.» Das IKRK schreibt, die israelischen Militärs hätten ihre völkerrechtliche Verpflichtung zur Hilfeleistung an Verwundete missachtet, und bezeichnet die Verzögerung bei der Zulassung der Bergungsequipe als inakzeptabel. Der Präsident des IKRK, Jakob Kellenberger, unterstrich am Donnerstag zudem, die Sanitäter müssten rund um die Uhr, und nicht nur während der von Israel akzeptierten dreistündigen Feuerpausen, Verwundete evakuieren können.