Israels Vertreibungsstrategie per Hauszerstörungen und Sperrmauer
Die israelische Stadtverwaltung Jerusalems vergibt jährlich nur wenige Baubewilligungen an Palästinenser. Diese bauen trotzdem, auch wenn sie fürchten müssen, dass ihr Haus zerstört wird. Israel will den arabischen Anteil an der Bevölkerung Jerusalems reduzieren.
Wortlos steht Fayez Razen in den Trümmern seiner neuen Wohnung in der Altstadt von Jerusalem. Das Demolitionsteam der Jerusalemer Stadtverwaltung, 15 Arbeiter mit Bohrern und Presslufthämmern und rund 30 Polizisten, ist eben abgezogen. Nun schaufeln Razen, seine Brüder und Cousins mit blossen Händen zerbrochene Keramikplatten, Betonbrocken und Überreste einer türkisfarbenen Deckenverschalung in Plasticsäcke. Noch einen letzten Anstrich hätte es gebraucht, dann wäre die Wohnung von Fayez Razen bezugsbereit gewesen. Sechs Monate hatten er und seine Familie an den vier Räumen auf dem Dach des Familienhauses mit Blick auf den Felsendom gebaut, 40 000 Dollar haben sie in Baumaterial und Arbeitskräfte investiert.
Achtköpfige Familie in einem Raum
Eine Baubewilligung hatte Razen gar nicht erst beantragt, weil er diese sowieso nicht gekriegt hätte, wie er sagt. So brachte am 5. Dezember 2006 denn ein Beamter der Stadtverwaltung einen Zerstörungsbefehl. Razen hastete auf die Verwaltung, zahlte 50 000 Schekel, umgerechnet 16 700 Franken, Busse, weil er ohne Baubewilligung gebaut hatte, und hoffte, die Behörde damit von ihrem Entscheid abzubringen oder dessen Umsetzung zumindest hinauszuschieben. Doch das Demolitionsteam rückte am folgenden Tag morgens um acht dennoch an und zerstörte Razens Wohnung. Er werde sie wieder aufbauen, sagt Razen achselzuckend. Bis die Wände, Waschbecken und Fenster wieder aufgebaut sind, lebt er wie bis anhin: mit acht anderen Familienmitgliedern in einem Zimmer im unteren Stockwerk.
Zwischen dem Bauschutt stapft Jimmy Johnson, ein Mitarbeiter des Israelischen Komitees gegen Hauszerstörungen (ICAHD), und notiert sich Razens Geschichte in sein Notizbuch. Die Nichtregierungsorganisation ICAHD versucht die Öffentlichkeit für das Thema der Zerstörung palästinensischer Häuser zu sensibilisieren. Zerstört wird nicht nur bei fehlender Baubewilligung, sondern auch für «militärische Zwecke» oder aus sogenannten Sicherheitsgründen. Nach Angabe der israelischen Menschenrechtsorganisation Btselem zerstörte die israelische Armee im Jahr 2006 knapp 300 Häuser bei Militäraktionen in den besetzten Gebieten. Die Mitarbeiter von ICAHD geben den Geschädigten rechtliche Hilfe und versuchen mit ihrer Präsenz als menschliche Schutzschilde die Zerstörungen zu verhindern.
In der Altstadt von Jerusalem sei es unmöglich, eine Baubewilligung zu erhalten, auch wenn die Bevölkerung hier schnell wachse, erklärt Johnson und fügt an: «Razens einzige Alternative wäre, aus der Altstadt wegzuziehen und sich beispielsweise im Westjordanland ein Stück Land zu kaufen. Damit würde er jedoch nicht nur seine Jerusalemer Identitätskarte verlieren, sondern wäre auch von seiner Familie abgeschnitten.»
In einem Jahr 81 Häuser zerstört
Weil die Behörde jährlich nur eine Handvoll Baubewilligungen an Palästinenser in Ostjerusalem vergibt, sind nach Angabe des Innenministeriums und der Stadtverwaltung 15 000 bis 20 000 der Gebäude, die seit der israelischen Besetzung Ostjerusalems im Jahr 1967 gebaut worden sind, illegal. Zwischen 2000 und 2004 wurden 481 Baubewilligungen in Ostjerusalem ausgestellt, im Jahr 2005 waren es 170, davon keine in der Altstadt. «10 000 Zerstörungsbefehle liegen zurzeit vor», sagt Johnson. Nach Statistiken von ICAHD liess die Stadtverwaltung allein in diesem Jahr 81 Gebäude in der Altstadt von Ostjerusalem niederreissen. Im Jahr 2005 waren es in ganz Ostjerusalem 94 und im Jahr 2004 152 Gebäude.
Die Zerstörungsbefehle können nicht alle ausgeführt werden und dienen dementsprechend vor allem der Abschreckung. Bis vor kurzem konnte eine Demolition durch die Bezahlung hoher Bussen bis auf weiteres aufgeschoben werden. Wie Yossi Haviglio, ein Rechtsberater der Stadtverwaltung, sagt, nahm das Lokalgericht in den Jahren 2001 bis 2005 Bussgelder im Wert von 29 620 000 Dollar ein. Seit dem Jahr 2003 hat die Stadtverwaltung jedoch eine härtere Gangart eingeschlagen. Auch wer die Busse bezahlt, ist vor der Zerstörung nicht mehr sicher. Zudem hat die Behörde begonnen, Baumaterial zu beschlagnahmen und Bauherren zu Gefängnisstrafen zu verurteilen.
«Vor dem Gericht haben die Geschädigten meist keine Chance. Die Hauszerstörungen sind legal, solange keine Baubewilligung vorliegt», erklärt Johnson, der darauf hinweist, dass im jüdischen Westjerusalem zwar auch illegal gebaut, jedoch selten zerstört werde. Nach Angabe von Btselem wurden im Jahr 2005 20 Prozent der illegalen Bauten von Palästinensern ausgeführt, doch trafen 75 Prozent der Zerstörungen Palästinenser. Diesen werde jeweils das ganze Haus abgerissen, während in den jüdischen Quartieren meist nur kleinere Anbauten zerstört worden seien. «Die 192 000 israelischen Siedler, die in Ostjerusalem leben und ihre Häuser bauen, verstossen gegen internationales Recht; ihre Häuser werden aber nicht abgerissen, sondern die Siedlungen ständig ausgebaut», sagt Johnson und erinnert daran, dass die Roadmap, der internationale Friedensplan, einen Stopp jeglicher Siedlungstätigkeit verfügt. Doch es sind vor allem staatliche Subventionen, welche die illegal erstellten Häuser für die Siedler in Ostjerusalem und im Westjordanland attraktiv machen. Israel hat seit 1967 ein Drittel der Fläche von Ostjerusalem für den Bau von jüdischen Siedlungen enteignet.
Während der Wohnraum für jüdische Siedlungen wächst, schrumpft er für Palästinenser. In Ostjerusalem darf laut ICAHD nur auf 17 Prozent des gesamten Gebiets gebaut werden. Davon stehen nach Angabe von Btselem nur 7 Prozent den Palästinensern zur Verfügung. Der Rest gilt als bereits bebaut, wird für Strassenbau genutzt oder darf als Grünzone nicht bebaut werden. Wird jedoch eine jüdische Siedlung gebaut, kann die Grünzone in Bauland umgewandelt werden, wie dies 1999 bei der Siedlung Har Homa geschehen ist, in der heute 2000 Personen leben.
Land ohne Besitzer?
Wer auf dem verbleibenden Land bauen will, muss, um eine Baubewilligung zu erhalten, eine Anzahl von Kriterien erfüllen. Dazu gehören unter anderem der Anschluss an Wasser- und Abwasserleitung und der Nachweis des Landbesitzes. Für Landbesitzer stellt sich jedoch das Problem, dass Israel seit 1967 alle Registrierungen von Landbesitz in Ostjerusalem gestoppt hat. Grundbucheintragungen der jordanischen Verwaltung vor 1967 werden zwar anerkannt, nicht jedoch jene aus der britischen Mandatszeit. Nach Angabe von ICAHD existiert demnach für mehr als die Hälfte des Landes in Ostjerusalem kein schriftlicher Nachweis für den Landbesitz. Die Chance, für dieses Land eine Baubewilligung zu bekommen, ist gleich null.
Wer trotz all diesen Hürden die nötigen Papiere beibringen kann, sieht sich in der Regel mit hohen Kosten für eine Baubewilligung konfrontiert. Die Baubewilligung für eine 200 Quadratmeter grosse Parzelle kostet nach Berechnungen von ICAHD 109 500 Schekel, 36 500 Franken. Für die Israeli gelten zwar dieselben Kriterien und Kosten, sie leben jedoch meist in Wohnblöcken und teilen sich die Kosten auf. Den meisten palästinensischen Familien bleibt aber oft nichts anderes übrig, als ihr Haus ohne Baubewilligung zu bauen.
Amir Cheshin, ein Berater des ehemaligen Bürgermeisters Teddy Kollek, schreibt in einem 1999 veröffentlichten Buch über die israelische Politik in Ostjerusalem: «Kolleks Plan von 1970 umfasst Prinzipien, auf welche sich die israelische Wohnbaustrategie noch heute stützt: Enteignung des Landes von Palästinensern, Ausbreitung grosser jüdischer Bezirke in Ostjerusalem und die Beschränkung der Entwicklung palästinensischer Bezirke.» In einem 2006 veröffentlichten Buch mit dem Titel «Diskriminierung im Herzen der Heiligen Stadt» analysiert auch ein ehemaliger Funktionär der Jerusalemer Stadtbehörde, Meir Magalit, die Gründe für die Hauszerstörungspolitik. Er ist überzeugt, dass es sich bei der restriktiven Vergabe von Baubewilligungen in Ostjerusalem und bei der Zerstörung von palästinensischen Häusern nicht um Zufall, sondern um eine israelische Strategie handelt, welche die Vertreibung der Palästinenser aus Ostjerusalem zum Ziel hat.
Wie Magalit erklärt, wurde diese Strategie 1973 formuliert, mit dem Ziel, den Anteil der Juden an der Bevölkerung Jerusalems auf 70 Prozent hinaufzuschrauben und jenen der Palästinenser auf 30 Prozent zu senken. «Jetzt haben wir 35 Prozent Palästinenser», stellt Magalit fest, «doch sind 44 Prozent der Kinder, die weniger als ein Jahr alt sind, Palästinenser. Die Angst der Israeli, dass die Palästinenser irgendwann den Bürgermeister von Jerusalem wählen können, ist gross.» Auch die Planung der Sperranlage im Westjordanland dient laut Magalit diesem Zweck. Um das demographische Gleichgewicht in Israel aufrechtzuerhalten, würden palästinensische Dörfer, Flüchtlingslager und Stadtbezirke, die einst zu Ostjerusalem gehörten, auf die östliche Seite der Mauer geschlagen. Die palästinensischen Einwohner Jerusalems, deren Haus auf die östliche, «palästinensische» Seite der Mauer zu liegen kommt, fürchten vor allem den Verlust ihrer Jerusalemer Identitätskarte. Laut Btselem haben mit dem Bau der Mauer bereits 10 000 Palästinenser ihre Jerusalemer Identitätskarte verloren. «Wer kann, zieht deshalb in die Stadt», sagt Magalit, «und weil die Palästinenser irgendwo leben müssen, werden sie weiter Häuser bauen – wenn nötig auch ohne Bewilligung.»