Seit 2006 leben knapp 3000 palästinensische Flüchtlinge aus dem Irak in Lagern an der syrisch-irakischen Grenze. In Syrien heisst es, das Boot sei voll, man könne nicht noch mehr Flüchtlinge aufnehmen. Das westliche Ausland hat bisher nur wenigen Familien Asyl gewährt.
Hussein Ahmed hatte gehofft, dem Flüchtlingslager al-Walid und dem Irak den Rücken kehren zu können. Doch als eine ausländische Delegation im August 30 Flüchtlinge aus al-Walid abholte, um sie nach Island zu bringen, stand sein Name nicht auf der Liste. Die Delegation wählte Witwen und deren Kinder. Das Lager beherbergt seit zwei Jahren über 2000 palästinensische Flüchtlinge aus dem Irak. Es liegt nur gerade zwei Kilometer vom syrischen Grenzübergang at-Tanf entfernt in der Wüste. 800 weitere Flüchtlinge haben sich entlang der Strasse niedergelassen, die von Damaskus nach Bagdad führt. At-Tanf und alle anderen Grenzübergänge sind für die palästinensischen Flüchtlinge aus dem Irak geschlossen.
Langeweile, Schlangen und Skorpione
Die rund 3000 Flüchtlinge der beiden Lager werden vom United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) und vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) notdürftig versorgt. Das IKRK schickt täglich Lastwagen mit Wasser und bringt Medikamente. Das Uno-Flüchtlingshilfswerk verteilt Reis, Zucker, Büchsennahrung und, einmal im Monat, auch Gemüse. Doch die meiste Zeit sind die Flüchtlinge sich selber und ihrer Langeweile überlassen. Nichts als Wüste umgibt die Zelte. Schlangen, Skorpione und wilde Hunde erschweren das Leben. Die Hitze im Sommer macht träge, Regen und Schnee im Winter treiben die Flüchtlinge in die Zelte.
Hussein hatte sich die Zukunft anders vorgestellt. In Bagdad arbeitete der heute 26-Jährige als Kameramann. Doch als der Krieg ausbrach, schossen Milizen Hussein zwei Kugeln in die Knie. Er sei ein Palästinenser, er müsse seinen Job aufgeben und das Land verlassen, sonst würden sie ihn töten, drohten die Milizen. Hussein arbeitete nicht mehr, aber er flüchtete erst, nachdem sein Vater im Dezember 2006 von Milizen entführt worden war. Während seine Brüder in die Türkei fliehen wollten, versuchte Hussein sein Glück an der syrischen Grenze. Von seinen Brüdern hat er nichts mehr gehört, er selber strandete in al-Walid.
Die erste palästinensische Flüchtlingsgruppe aus dem Irak hatte die syrische Grenze bereits ein paar Monate früher erreicht, im Mai 2006. Die Syrer, die bereits einer Million Irakern Zuflucht geboten hatten, verweigerten den Palästinensern die Einreise ins Land. Man dulde bereits 450 000 Palästinenser, die 1948 geflüchtet seien, und dann beherberge man auch noch Iraker, das Boot sei jetzt voll, hiess es auf syrischer Seite. So wurde das Niemandsland von at-Tanf, ein Streifen von sieben Kilometern Länge und hundert Metern Breite zwischen dem irakischen und dem syrischen Grenzposten, zur Endstation für die Flüchtlinge.
Unter Saddam gehätschelt
Palästinenser waren bereits 1948 in den Irak gelangt. Sie hofften, nach dem Ende des Israelisch-Arabischen Kriegs in ihre Heimat zurückkehren zu können. Dies stellte sich zwar als leere Hoffnung heraus, aber die Flüchtlinge wurden von Saddam Hussein, der sich als Hüter der palästinensischen Sache verstand, gehätschelt und genossen diverse Privilegien. Nach dem Sturz des Diktators wurden sie Opfer von antipalästinensischen Ressentiments. Wer es sich leisten konnte, kaufte für ein paar hundert Dollar einen irakischen Pass und gelangte als irakischer Flüchtling ausser Landes. Fawsi Talfa Musa blieb, solange er konnte, in Bagdad. Er hatte 1948 als sechsjähriger Bub mit seiner Familie aus Haifa fliehen müssen. Fast sechzig Jahre lang war Bagdad seine Heimat; seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit einer kleinen Teestube. Nach Saddam Husseins Sturz drohten die Milizen ihn umzubringen, so dass er sich im Januar 2007 dazu entschloss, mit seiner Familie das Land zu verlassen. Jetzt sitzt er in seinem Rollstuhl vor dem Zelt und sagt, er wolle so schnell wie möglich das Lager verlassen und am liebsten in den Westen ziehen, nicht in ein arabisches Land, aus dem man als Palästinenser früher oder später wieder von seinen arabischen Brüdern vertrieben werde.
Trotz allen Demarchen des UNHCR ist es äusserst schwierig, Asylländer für die palästinensischen Flüchtlinge zu finden. Allenthalben fehlt es am Willen der Regierungen, und auch die palästinensischen und arabischen Politiker scheinen ihre Brüder lieber an der Grenze ausharren zu lassen, als diesen Asyl zu verschaffen. Wer in den Westen gehe, gebe früher oder später das Recht auf Rückkehr auf, kritisieren sie aus sicherer Distanz. Sie schicken Babymilch und Windeln in die Lager und sagen den Flüchtlingen, sie müssten zurück nach Palästina. Einige Männer aus dem Flüchtlingslager bei at-Tanf wurden von palästinensischen Gruppierungen in Syrien und Libanon als Kämpfer rekrutiert. Man versprach ihnen und ihren Familien die baldige Freiheit. Daraus wurde nichts, und so kehrten die Kämpfer nach einigen Wochen desillusioniert ins Lager zurück. Mit dem befleckten Leumund stehen ihre Chancen auf Asyl schlechter denn je.
Eine Lösung für wenige
Im April dieses Jahres hatte das Warten für 117 Flüchtlinge aus at-Tanf trotzdem ein Ende. Chile gewährte ihnen Asyl. Schnell verbreitete sich die Nachricht, und jene Palästinenser, die mit falschen irakischen Papieren nach Damaskus geflohen waren, meldeten sich freiwillig bei der syrischen Polizei. Sie wurden nach at-Tanf transportiert, voller Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Im Juli versprach Schweden, 160 Flüchtlinge, vor allem Familien, aus at-Tanf und al-Walid aufzunehmen. Sie sollen in den kommenden Wochen die Lager verlassen können. Diese Asylangebote wirken jedoch angesichts der grossen Zahl von Flüchtlingen wie ein Tropfen auf den heissen Stein.
Die meisten Flüchtlinge werden es allenfalls schaffen, in den Sudan zu gelangen. Mitte Juli besuchte eine sudanesische Delegation das Lager und bot 2000 Flüchtlingen temporäres Asyl an. Bei den meisten Lagerinsassen kam dieses Angebot schlecht an. «Von einer Wüste in die nächste? Nein danke», lautet der lakonische Kommentar. Der politisch instabile Sudan wäre sowieso nur eine Zwischenstation, bis man Länder gefunden hätte, die den Flüchtlingen dauerhaften Aufenthalt anbieten. Das UNHCR, froh um ein Land, das so viele Flüchtlinge aufzunehmen gewillt ist, hat jedoch bereits ein technisches Team nach Khartum geschickt. Im März 2009 könnten die ersten umgesiedelt werden.
Im UNHCR sagt man zwar hinter vorgehaltener Hand, die beste Lösung wäre es, die Flüchtlinge nach Syrien zu bringen, aber noch übt sich die syrische Regierung in Zurückhaltung. Man wartet. Dabei werden die Flüchtlinge immer müder, manche sind bereits lebensmüde oder sind verrückt geworden von der Hitze, dem Nichtstun und der Hoffnungslosigkeit.
In einem Zelt am Rande von al-Walid haben sich 20 Frauen versammelt, um die18-jährige Nur zu schminken. Sie feiert heute ihr Henna-Fest, das Fest vor der Hochzeit. Ihr Cousin ist der Bräutigam. Die Frauen finden das gut so. Die beiden kennen sich schon, und hier könne man sowieso nichts anderes tun als heiraten und Kinder bekommen. In den zwei Jahren Lagerzeit wurden 39 Hochzeiten gefeiert, in 27 Fällen waren die Eheleute minderjährig. «34 Frauen haben Kinder geboren, und 65 Frauen sind jetzt schwanger», sagt Dr. Tarik, selber Flüchtling und der einzige Arzt im Lager. Es ist so heiss im Zelt, dass man kaum atmen kann. Und es stinkt. Die Bewohner haben sich ihre eigene Toilette im Zelt gegraben, statt die Toilettenhäuschen des IKRK zu benutzen. Das Abwasser läuft in kleinen Bächen durchs Lager, und in der Hitze verbreiten sich Infektionskrankheiten schnell.
«Langeweile und Hitze sind unser grösstes Problem», jammert eine Frau. Schnell stimmen die anderen ins Klagelied ein. «Die Männer haben vier Cafés, für uns aber gibt es gar nichts», schimpft eine Frau. Eine andere erzählt, dass sich vor ein paar Tagen ein Mädchen die Pulsadern aufgeschnitten habe; es sei bereits sein zweiter Selbstmordversuch gewesen. «Die Männer haben keine Arbeit und sind immer im Zelt. Jemand soll sie aus dem Zelt schaffen, soll ihnen Arbeit geben», ruft eine dritte Frau. «Holt uns hier raus!», heisst es unisono. Einige Männer hatten im vergangenen Mai als Bauarbeiter bei der lokalen Polizei gearbeitet. Nach einem Streit wurden 15 von ihnen unter Mithilfe der amerikanischen Armee von der irakischen Polizei verhaftet. Man liess sie nach einigen Tagen wieder frei. Einer der Flüchtlinge erlitt einen Armbruch, andere wiesen Schnittwunden oder Verbrennungen durch Zigaretten auf. Von Misshandlungen im Polizeigebäude oder gar von Folter wollte der amerikanische Captain Ballou, der die rund 100 Männer der Armeebasis in al-Walid kommandiert, jedoch partout nichts wissen. «Wer in Amerika die Polizei angreift, wird verhaftet. So muss das in jedem Land sein, in dem Recht und Ordnung herrschen sollen», kommentierte der Amerikaner aus Kentucky den Vorfall knapp. Dr. Tarik, der sich um die misshandelten Männer kümmern musste, träumt von Schweden oder irgendeinem anderen Land, in das man notfalls auch illegalerweise einreisen kann, um ein neues Leben zu beginnen. Einmal pro Woche erhält er Unterstützung von einer Gynäkologin, sonst muss er allein mit den Patienten und ihren vor allem psychischen Leiden fertig werden. Dr. Tarik verschreibt Placebos und klebt Pflästerchen über die Wunden in seiner Klinik, einem notdürftig eingerichteten Betongebäude. Für Bluttests oder Operationen fahren die Kranken nach Bagdad oder ins drei Stunden entfernte Spital al-Qaem. Auch Schwangere nehmen die dreistündige Fahrt auf sich, um in der Klinik gebären zu können.
Dabei hat das IKRK vor über einem halben Jahr zwei Baracken im Lager aufgestellt, in denen alle nötigen medizinischen Geräte vorhanden sind, sogar einen Kreisssaal gibt es. Doch Dr. Tarik hat sich standhaft geweigert, in das medizinische Zentrum umzuziehen. Es sei zu eng und habe keinen Warteraum für die Patienten, sagt er. So stehen die zwei Baracken unbenutzt mitten im Lager, Symbol einer Zusammenarbeit zwischen dem UNHCR und dem IKRK, die seit den Anfängen des Lagers eher einem Territorialkampf glich.
Nicht eingehaltene Versprechen
Es ist schlecht bestellt um die Kommunikation zwischen den beiden Organisationen. Güter werden doppelt geliefert, oder die Arbeit wird überhaupt nicht gemacht. Auch scheint das periphere Lager, das nur in Ausnahmefällen und nach grossem administrativem Aufwand von Ausländern besucht werden darf, nicht auf der Prioritätenliste der Organisationen zu stehen. Zwar hat das Uno-Flüchtlingshilfswerk bereits Anfang Jahr versprochen, das Lager neu und mit einem properen Abwassersystem aufzubauen, aber passiert ist bisher nichts. Nur die Pläne hängen an den Wänden in den Büros von UNHCR- und IKRK-Vertretern im Lager. Bald, sagen sie, beginne der Bau. Und aus den UNHCR-Büros in Amman und Damaskus heisst es seit Monaten, man werde sich darum kümmern. Wann? Bald.