Im Flüchtlingslager Balata im Westjordanland
Im Lager Balata bei Nablus drängen sich über 22 000 palästinensische Flüchtlinge auf einem Quadratkilometer Land. Übervölkerung, Gewalt und Arbeitslosigkeit prägen das Leben der Einwohner. Regelmässig dringen israelische Truppen ins Lager ein, in dem das lokale Fatah-Netzwerk das Zusammenleben und den Widerstand organisiert.
Über den schwarzen Köpfen der Trauernden schaukelt die Leiche wie ein kleines Schiff auf dem Meer. Der tote Issam Hamza liegt mit geschlossenen Augen auf der orangefarbenen Bahre, zugedeckt von der Flagge der Aksa Brigade, ein Tuch um den Kopf geschlungen. Er wird auf Männerschultern in die Moschee von Balata getragen, wo man ihm einen Koran auf die Brust legt und das letzte Gebet spricht. Dann wird die Leiche in ein Grab am Rande des Flüchtlingslagers bei Nablus gesenkt, in einem Friedhof, der längst viel zu klein geworden ist. Hamza ist von israelischen Soldaten getötet worden, als er mit einem anderen Kämpfer auf eine jüdische Siedlung schoss.
Tanz an der Trauerfeier
Während die Trauerzeit für Hamza beginnt, enden die vierzig Trauertage eines anderen Märtyrers von Balata. In der einzigen Hauptstrasse des Flüchtlingslagers, an der Barbiere, Krämer und Kebab-Buden auf Geschäfte hoffen, werden die Vorbereitungen für die Feier getroffen. Eine kleine Bühne steht bereit, Männer tanzen Volkstänze. Später werden Kinder auf die Bühne gestellt, die Väter legen ihren Knirpsen Gewehre in die Arme, um sie zu fotografieren. Nur einmal breitet sich Nervosität aus, als die Männer realisieren, dass die Gewehre entsichert sind.
Tote, Lahme, Verletzte, Verrückte, Entlassene, Gesuchte, Arbeitslose, Leute, die auf ihre gefangenen Freunde warten, sind alltägliche Begegnungen im grössten Flüchtlingslager im Westjordanland. Sogar Parlamentsabgeordnete wohnen im besseren Teil von Balata. Tagsüber jagen Kinder hintereinander durch die Strasse und versuchen sich mit leeren Plasticflaschen auf den Kopf zu schlagen oder fahren mit lottrigen Dreirädern auf der löchrigen Strasse. Männer stehen rauchend am Strassenrand, trinken Kaffee oder betrachten mit Stolz eines der vielen gestohlenen israelischen Fahrzeuge. Im Internetcafé sitzen Halbwüchsige und chatten mit der Welt, und in einem Gemeinschaftszentrum basteln ein paar ausländische Friedensaktivisten mit Kindern Puppen. Manchmal gibt es eine Schlägerei auf offener Strasse; Männer, die eben aus dem Gefängnis entlassen wurden, fallen sich in die Arme.
Das Spiel mit dem Panzer
Der israelische Panzer, der Jeep gehören zur Familie, und die Kinder wissen bereits aus weiter Ferne, mit welchem Modell sie es zu tun haben. Kommen die Jeeps und Panzer ins Flüchtlingslager, dann rufen die Kinder «Armee, Armee!» und rennen den Fahrzeugen entgegen. Mit Steinen und Farbbeuteln werden die israelischen Soldaten in Empfang genommen. Die Kleinen gehen lieber auf die Panzer los, weil sie träger und weniger gefährlich sind als die Jeeps. Es scheint, als ob die israelischen Panzer manchmal sogar eine willkommene Abwechslung sind. Eine Psychologin aus Nablus sagt, das Spiel mit den Panzern sei eine Art der Entspannung, Druck abzulassen, sich zu rächen für die gefangenen und getöteten Freunde.
Doch die alltägliche Tuchfühlung mit den israelischen Soldaten hinterlässt Spuren. Viele Kleinkinder würden sich übergeben, sobald sie Schüsse hörten, sagt die Psychologin, das Bettnässen ist unter Jungen und Alten weit verbreitet. Seit einigen Wochen kommen die Soldaten meist nur noch in der Nacht. Dann ist die einzige Hauptstrasse im Lager leer gefegt. Nur einige Männer, mit Gewehren ausgerüstet, drängen sich in die bloss schulterbreiten Gässchen zwischen den Häusern. Sie fürchte sich vor der Nacht, sagt eine Bewohnerin des Lagers, deren Sohn vor einigen Monaten von Soldaten aus dem Haus geholt und eingesperrt wurde. Sein Vergehen sei Waffenbesitz gewesen, sagt seine Mutter und fragt lakonisch: «Und wer, bitte, hat hier keine Waffe?»
513 Verletzte, 130 Getötete, 7 Selbstmordattentäter, 13 zerstörte Häuser listet Mahmud Mosimi vom Volkskomitee die Statistik dieser Intifada für das Lager auf. Balata hat ein Viertel aller Toten in der ganzen Region Nablus zu beklagen. Es wird von der Armee besonders gebeutelt, weil hier der Widerstand brodelt und viele seiner Einwohner von den Israeli gesucht werden. Mit Hilfe von Kollaborateuren versuchten die Israeli bis zur gegenwärtigen Waffenruhe immer wieder, palästinensische Kämpfer zu töten. So wurden im vergangenen Mai vier Personen bei der Explosion einer Autobombe im Lager getötet, unter ihnen mindestens ein Mitglied der Aksa-Brigaden. Im Dezember wurde ein weiterer Aksa-Kämpfer von israelischen Spezialtruppen erschossen. Danach wurden zwei Männer, die als Kollaborateure für den Tod dieser Leute verantwortlich gemacht wurden, in Balata öffentlich hingerichtet.
Dass das Spiel mit den Soldaten gefährlich ist, weiss Mustafa Farah am besten. Der 20-Jährige ist der Erste, der an vorderster Front steht, wenn sich die Nachricht «Soldaten, Soldaten» wie ein Lauffeuer im Lager verbreitet. Mit 16 Jahren trat er als freiwilliger Sanitäter der palästinensischen Hilfsorganisation Medical Relief bei. «Ich tat das, weil ich mich hilflos fühlte», sagt Mustafa. Er hatte zusehen müssen, wie sein Bruder von einem israelischen Scharfschützen angeschossen wurde. Zuzusehen und nichts machen zu können, das sollte ihm nie mehr passieren. Nach einem Erste-Hilfe-Kurs stand Mustafa im Jahr 2001 beim Beschuss des Gouverneurssitzes von Nablus im Einsatz. Als Erstes erblickte der frischgebackene Sanitäter einen abgetrennten Kopf, der am Boden lag. Er hob den Kopf auf und wurde ohnmächtig. Danach sei ihm das nie mehr passiert.
Mustafa sagt, er sei immun geworden gegen die wüsten Bilder. Manchmal träume er von den Verletzten, aber nur dann, wenn er sie nicht habe retten können. Schwierig bei seiner Arbeit sei, die Verletzten in die Ambulanz zu bringen, ohne dass die Soldaten die Angeschossenen nicht selbst mitnähmen. Dann werde den Patienten sofort eine Sauerstoffmaske übergezogen, und man versuche das Blut zu stoppen, lege Infusionen und fahre so schnell wie möglich ins Spital. Die Verletzungen durch die Dumdum-Geschosse, die kurz nach dem Aufprall zersplittern und die Haut und die Organe zerreissen, seien besonders schlimm.
Zu viele Leute auf zu wenig Raum
Im Gesundheitszentrum des Uno-Hilfswerks für die Palästina-Flüchtlinge (UNRWA) drängen sich schwangere Frauen neben zahnlosen Alten. Hier werden ganz alltägliche Krankheiten wie Durchfall oder Bluthochdruck behandelt. Es gibt kleine Abteilungen für Zahnmedizin und für Geburten. 350 bis 400 Patienten werden pro Tag von den drei Ärzten untersucht. «Natürlich reicht diese Hilfe nirgends hin», meint Moayad Yassin, einer der Ärzte. Für viele der Verletzten, die in der zweiten Intifada bedeutend zahlreicher sind als in der ersten, wären Spezialisten vonnöten. Nach Yassin besteht das Hauptproblem im Flüchtlingslager in der Überbevölkerung. Über 22 000 Flüchtlinge drängen sich auf demselben Quadratkilometer Land, der nach 1948 für die palästinensischen Vertriebenen aus Israel zur Verfügung gestellt wurde. Die Zelte der ersten Monate sind Betonbauten gewichen, die je nach Familiennachwuchs und Einkommen aufgestockt wurden und aus denen die Armierungseisen wie Antennen in den Himmel ragen. Abfall wird ausserhalb des Lagers auf die Felder gekippt. Die Abwasserleitungen sind im vergangenen Jahr zum ersten Mal in 50 Jahren erneuert worden, nachdem sie zu rosten begonnen hatten und sich das Abwasser mit dem Frischwasser zu mischen angefangen hatte.
Made in Israel
Über die Höhe der Arbeitslosigkeit kann nur spekuliert werden. Viele Familienväter hangeln sich als Strassenhändler, Kebab-, Socken- oder Unterwäscheverkäufer von Tag zu Tag. Arbeiter, die früher in Israel gearbeitet haben, sitzen heute regelrecht auf der Strasse, beteiligen sich am florierenden Autoschmuggel oder sind in die Widerstandsgruppen eingetreten. Viele versuchen, ohne Papiere über die Grenze zu reisen. Als illegale Arbeiter verdienen sie in Israel zwar mehr als in den besetzten Gebieten, setzen sich damit jedoch der ständigen Angst aus, verhaftet zu werden. Manche Lagerbewohner haben Glück und können für die UNRWA arbeiten, andere backen Brot oder verkaufen Süssigkeiten.
In Kleinstfabriken im Lager findet man Arbeiterinnen und Arbeiter, die acht Stunden am Tag bei Neonlicht Kleider für israelische oder amerikanische Markenhersteller produzieren und sich dabei glücklich schätzen. «Jump» oder «Andrew Scott» und «made in Israel» steht auf den Etiketten, die neben den Nähmaschinen liegen. Die dazugehörige Bluse kostet in Israel 90 Franken; die Arbeiter verdienen pro Tag 15 bis 20 Franken, die Arbeiterinnen erhalten 11 Franken. Die Männer würden mehr und härter arbeiten, rechtfertigt der Fabrikbesitzer den Lohnunterschied. «Wer nicht zu diesem Preis arbeiten will, kann gehen. Hundert andere wären glücklich, erhielten sie den Job», sagt er.
Die Organisation
Die Dunkelheit hat sich über das Flüchtlingslager gelegt, und in der Wohnung von Yahia al-Jamal brennt eine einzige Glühbirne. Jamal ist der Führer des «Tanzim», was auf Arabisch so viel wie Organisation bedeutet. Mit dem Tanzim organisiert die Fatah die palästinensische Gesellschaft. Das Zentralkomitee ist der Kopf, der die Tentakel des Tanzim im ganzen Land dirigiert. So steuerte die Fatah die Ereignisse in Palästina, als ihre Führer in Tunis im Exil waren, so hielt Arafat die Flüchtlinge bei der Stange, als er im Land selber war. «Wir organisierten eine Jugendbewegung, säuberten die Strassen, halfen bei der Olivenernte und versuchten, die Säufer in der Strasse zu einem besseren Lebenswandel zu bekehren», erzählt Jamal vom Tanzim in den achtziger Jahren. Mit den Jahren übernahmen ihre Mitglieder die Rolle von Polizisten, Richtern, Psychologen, Krankenpflegern oder Wirtschaftsführern.
80 Prozent der Einwohner Balatas gehörten der Fatah an, sagt al-Jamal, doch fehle deren politischen Führern heute der Kontakt zur Basis: «Die aktivsten Fatah-Mitglieder arbeiten heute in der Autonomiebehörde, doch diese entfernt sich immer mehr von den Leuten der Strasse. Das ist ein Problem.» Die Leute des Tanzim versuchen Streitereien zwischen Familien zu schlichten und sie davon abzuhalten, zur Polizei zu gehen. «Wir sind eine traditionelle Gesellschaft, und Streitereien sollten vom Rat der Weisen gelöst werden», sagt Jamal. Um halb elf in der Nacht wird das Gespräch von Schüssen und einer Explosion unterbrochen. Der Tanzim-Führer greift zum Telefon und demonstriert, wie schnell das Netzwerk im Lager funktioniert. Er sagt: «Israelische Soldaten sind an allen Eingängen zum Lager. Geht nach Hause, bevor sie in der Hauptstrasse sind.»